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Typologisches Modell der Erzählsituationen

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Das typologische Modell der Erzählsituationen von Franz Karl Stanzel ist ein gebräuchliches Schema zur Analyse von Prosatexten, das seit den 1950er Jahren trotz häufiger Kritik weite Verbreitung in der Literaturwissenschaft gefunden hat. Innerhalb der Erzähltheorie ist es eines von mehreren gebräuchlichen Modellen zur Unterscheidung von Erzählperspektiven.

Auktoriale Erzählsituation

In der auktorialen Erzählsituation gehört der Erzähler selbst nicht zu der Geschichte, die er erzählt, sondern tritt deutlich als Urheber und Vermittler der Geschichte in Erscheinung. Der Erzähler ist also selbst nicht Teil der dargestellten Welt, sondern schildert sie „allwissend“ von außen, weswegen er auch oft als allwissender Erzähler bezeichnet wird. So kann er etwa Zusammenhänge mit zukünftigen und vergangenen Ereignissen herstellen, diese kommentieren und Wertungen (Erzählerrede) abgeben, Handlungen verschiedener Charaktere zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten schildern, etc. Generell weiß er mehr als seine Figuren, er kennt deren Gedanken- und Gefühlswelt und sieht die Situation aus einer anderen Perspektive.

Grundlegend ist dabei, dass Erzähler, Figuren und Leser − im Gegensatz zur antiauktorialen Erzählsituation − ein Wertesystem teilen, so dass die Identifikation des Lesers mit der Hauptfigur leicht erreicht wird. Die Aussagen des auktorialen Erzählers sind also immer wahr, glaubhaft und entsprechen dem gesellschaftlichen Konsens der Entstehungszeit.

Zwar tritt auch manchmal in der Figurenrede in Dialogen[1] ein personales Moment auf, doch bleibt trotz dieses Kunstgriffs der Gestus auktorial. Die Figurenrede kann in Form von indirekter und direkter Rede erfolgen.[2]

Auch kann der Erzähler behaupten, nicht mehr zu wissen als der Leser. In dieser Erzählsituation treten dann häufig selbstreflexive Wendungen auf, in denen der Erzähler das Geschichtenerzählen selbst thematisiert, den Leser narrt, belehrt usw. In den erzählten Textstellen ist die 3. Person („er“/„sie“) vorherrschend. Die Grundform der auktorialen Erzählsituation ist die berichtende Erzählweise. Dieser gegenüber tritt die szenische Darstellung, die in derartigen Romanen auch genutzt werden kann, zurück.

„Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten. Aber das sollte eine wirkliche Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt herum, um eine solche zu finden, aber überall fehlte etwas. Prinzessinnen gab es genug, aber ob es wirkliche Prinzessinnen waren, konnte er nie herausfinden. Immer war da etwas, was nicht ganz in Ordnung war. Da kam er wieder nach Hause und war ganz traurig, denn er wollte doch gern eine wirkliche Prinzessin haben.“

„Seit der Schwedenzeit waren die Wutze Schulmeister in Auenthal, und ich glaube nicht, daß einer vom Pfarrer oder von seiner Gemeinde verklagt wurde. Allemal acht oder neun Jahre nach der Hochzeit versahen Wutz und Sohn das Amt mit Verstand – unser Maria Wutz dozierte unter seinem Vater schon in der Woche das Abc, in der er das Buchstabieren erlernte, das nichts taugt.“

Der Begriff leitet sich vom lateinischen auctor (Vermehrer, Urheber) her.[4]

Personale Erzählsituation

Dieser Gestus tritt eigentlich erst im Roman der Moderne z. B. bei Kafka zutage. Die Anwesenheit des Erzählers wird dem Leser nicht bewusst. Der Leser nimmt die Erzählung aus Sicht einer bestimmten Figur, der so genannten Reflektorfigur (oder auch persona), wahr. Die Seinsbereiche von Erzähler und Figur sind jedoch nicht identisch. In den erzählten Passagen ist die dritte Person („er“/„sie“) vorherrschend, es wird aber vorwiegend aus der Innenperspektive der Reflektorfigur erzählt. Daher sind Voraussagen oder Wissen darüber, was andernorts geschieht, eher nicht zu erwarten bzw. den Aussagen des Erzählers ist nicht zu trauen. Der Leser erhält nur eingeschränkten Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt der Figuren: Gefühle und Gedanken einer bestimmten Figur der Erzählung (der Reflektorfigur) werden bekannt.

Dadurch wird entgegen dem auktorialen Gestus die Identifikation verhindert und der Leser ist gezwungen, statt die Position des Erzählers zu übernehmen, diese in Frage zu stellen und selbst ein Urteil zu fällen. Es herrscht also kein Wertekonsens mehr zwischen Erzähler, Figur und Leser.

„Zunächst wollte er ruhig und ungestört aufstehen, sich anziehen und vor allem frühstücken, und dann erst das Weitere überlegen, denn, das merkte er wohl, im Bett würde er mit dem Nachdenken zu keinem vernünftigen Ende kommen. Er erinnerte sich, schon öfters im Bett irgendeinen vielleicht durch ungeschicktes Liegen erzeugten, leichten Schmerz empfunden zu haben, der sich dann beim Aufstehen als reine Einbildung herausstellte, und er war gespannt, wie sich seine heutigen Vorstellungen allmählich auflösen würden.“

„Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte und der Nebel die Formen bald verschlang bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß; er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen.“

Georg Büchner: Lenz. 1839

Im modernen Roman werden dem Literaturwissenschaftler Stanzel zufolge mit der stärkeren Differenzierung von Erzähler- und Figurensprache die Zitate aus der Figurensprache deutlicher vom auktorialen Bericht abgehoben und treten stärker in den Vordergrund, d. h. die personalen Erzählelemente nehmen auf Kosten der auktorialen zu. Je häufiger derartige „Zitate“ der Figurensprache auftreten und je stärker sie als figurale Rede gekennzeichnet werden, desto ausgeprägter tritt das personale Element in der Erzählung hervor.[5]

Ich-Erzählsituation

In der Ich-Erzählsituation ist der Erzähler mit einer Figur der Erzählung meist identisch, er tritt also mit in die Handlung ein. Man spricht hier von der Identität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren. Das „erzählende Ich“ ist jedoch oftmals die erfahrenere und reifere Version des „erlebenden Ichs“. Allerdings ist zu beachten, dass ein Ich-Erzähler unterschiedlich stark am erzählten Geschehen beteiligt sein kann, z. B. in der Rolle eines mehr oder minder beteiligten Beobachters eines Geschehens bzw. als Nebenfigur.

Direkte Rede, auch ohne Kennzeichnung durch besondere Satzzeichen oder redeeinleitende Sätze, Darstellung subjektiver Gefühlszustände, Meinungen und Sichtweisen, all dies sind recht typische, zu erwartende Merkmale einer Ich-Erzählung. Der Ich-Erzähler hat dagegen oft keine kritische Distanz zu seiner Erzählung.

Diese Erzählsituation erscheint natürlich. Wenn jemand erzählt, was ihm passiert ist, spricht er ebenfalls aus der Ich-Perspektive. In der Regel ist diese Perspektive besonders geeignet, ein Identitätsgefühl mit dem Erzähler beim Leser zu wecken. Das Gefühl also, der Leser erlebe selbst, was dem Erzähler als Figur des Textes geschieht.

„Wir starteten in La Guardia, New York, mit dreistündiger Verspätung infolge von Schneestürmen. Unsere Maschine war, wie üblich auf dieser Strecke, eine Super-Constellation. Ich richtete mich sofort zum Schlafen, es war Nacht.“

„Ich war zwar ganz allein und auf mich selbst angewiesen; aber ich hatte gute Waffen und ein ausgezeichnetes Pferd, auf welches ich mich verlassen konnte. Auch kannte ich die Gegend oder die Gegenden genau, die ich zu durchreiten hatte, und sagte mir, daß es für einen erfahrenen Westmann leichter sei, allein durchzukommen, als in Begleitung von Leuten, auf die er sich nicht vollständig verlassen kann.“

Karl May: Old Surehand I. 1894

Eine weitere Sonderform der Ich-Erzählung ist ein „Innerer Monolog“, in dem die Bewusstseinsinhalte einer Figur (scheinbar) ohne Distanz vermittelt werden (siehe Schnitzlers Lieutenant Gustl (1901) oder Fräulein Else (1924)). Eine Sonderform des inneren Monologs ist der Bewusstseinsstrom (stream of consciousness), in dem der Gedankenfluss in Reinform dargestellt werden soll, was bis zur Auflösung grammatikalischer Formen führen kann (siehe dazu den Monolog der Molly Bloom in JoyceUlysses (1922)). Eine – sehr seltene – Abart des inneren Monologs ist eine Art Selbstgespräch in der Du-Form (Michel Butor: La modification. 1957).

Der Typenkreis

Stanzel ordnet die drei Typen von Erzählsituationen in einem Typenkreis an, so dass alle drei aneinander angrenzen und sich überlappen. Es handelt sich dabei um komplexe Idealtypen[6], die verschiedene Einzelmerkmale miteinander verknüpfen.

Jeder Typus ist durch eine bestimmte Kombination folgender Merkmale gekennzeichnet:

  • Erzählmodus: es gibt entweder eine Erzählerfigur, die dem Leser die Handlung selbst vermittelt (auktorial/Ich) oder eine Reflektorfigur, die dem Leser als handelnde Person nahe ist, aber vom Erzähler getrennt ist (personal).
  • Person: die Seinsbereiche (Erlebniswelten) von Erzähler und Figuren sind identisch (Ich), oder sie sind voneinander getrennt, das heißt, der Erzähler bewegt sich nicht in derselben Welt wie seine Figuren (auktorial/personal)
  • Perspektive: entweder Außenperspektive (auktorial), Innenperspektive (Ich) oder eine Mischung aus beidem (personal)

Die Typen sind als deskriptiv (beschreibend) und analytisch zu verstehen, nicht als normativ oder vorschreibend, das heißt, nicht wie ein Ideal, dem einzelne Texte mehr oder weniger genügen, sondern als Werkzeug zur Analyse von Texten. Individuelle Erzählungen können von den Idealtypen mehr oder weniger abweichen und durchaus auch Abwandlungen und Mischformen von Typen aufweisen. Die Abweichung ist also nicht negativ zu bewerten, sondern zeigt die Vielfalt von Erzählsituationen auf.

Kritik an Stanzels Modell

Viele Erzähltheoretiker nehmen kritische Positionen Stanzels Konzept gegenüber ein. ”Mehrfach wurde die instrumentelle Brauchbarkeit von Stanzels Beschreibungsmerkmalen anerkannt, die theoretisch-systematische Grundlegung aber bemängelt.“ (Jochen Vogt, "Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie", 8. Aufl. 1998, S.84)

Im Wesentlichen lassen sich drei Richtungen der Stanzelkritik ausmachen. Eine dieser Richtungen beurteilt Stanzels Typenbildung als analytisch unzureichend. Dieser Kritikrichtung wird von Gérard Genette vertreten. Eine weitere Kritik, vertreten etwa durch die U.S. amerikanische Germanistin Dorrit Cohn, schlägt innerhalb des durch Stanzel vorgegebenen Rahmens Veränderungen vor, ohne die Systematik grundsätzlich infrage zu stellen. Eine dritte Kritik besteht in der fehlenden Einbettung in eine übergreifende historische Dimension. Diese Richtung wird etwa durch Robert Weimann vertreten. (vgl. Jochen Vogt, "Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie", 8. Aufl. 1998, S.84)

Es wird dem Modell, etwa durch Jochen Vogt, zugestanden, dass es zwar auf sehr genauen Beobachtungen einer großen Anzahl narrativer Texte beruhe, aber kein eigentliches System bilde. Genau dieser nichtsystematische Charakter von Stanzels Modell steht bei Vogt im Verdacht zu dessen Brauchbarkeit und Beliebtheit für direkte Textinterpretationen beizutragen, zudem habe Stanzels Modell seinen praktischen Wert als ”eine Art erzähltheoretischer Werkzeugkasten“.

Einzelnachweise und Fußnoten

  1. z. B. in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten oder Theodor Fontanes Romanen
  2. Vgl. die Beispiele bei Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens (= UTB für Wissenschaft. Uni-Taschenbücher 904). 6. unveränderte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995, ISBN 3-525-03208-0, S. 248-251.
  3. Datum nicht abschließend geklärt
  4. Siehe Eintrag im Fremdwörterlexikon bei wissen.de.
  5. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens (= UTB für Wissenschaft. Uni-Taschenbücher 904). 6. unveränderte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995, ISBN 3-525-03208-0, S. 250f.
  6. Im Sinne Max Webers

Weblinks

  • Allgemeine Erzähltheorie. Bodil Zalesky: Allgemeine Erzähltheorie. Theoretischer Teil der Dissertationsschrift zu Erzählweise und Sprechverhalten in Effi Briest (pdf-Datei; 334 kB). Abgerufen am 7. November 2013.

Literatur

  • Christoph Bode: Der Roman. Eine Einführung (= UTB. Literaturwissenschaft 2580). A. Francke Verlag. Tübingen u. a. 2005, ISBN 3-7720-3366-0.
  • Gérard Genette: Die Erzählung (= UTB für Wissenschaft. Literatur und Sprachwissenschaft 8083). Fink, München 1994, ISBN 3-7705-2923-5.
  • Herbert Kraft: Exkurs: Über auktoriales und personales Erzählen. In: Herbert Kraft: Um Schiller betrogen. Neske, Pfullingen 1978, ISBN 3-7885-0096-4, S. 48–58.
  • Herbert Kraft: Kafka. Wirklichkeit und Perspektive. 2. Auflage. Peter Lang, Bern 1983 (DNB).
  • Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Metzler, Stuttgart 1955 (9., unveränderte Auflage. ebenda 2004, ISBN 3-476-00097-4).
  • Matías Martínez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. C. H. Beck, München 1999, ISBN 3-406-44052-5.
  • Franz Stanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman. Dargestellt an „Tom Jones“, „Moby Dick“, „The Ambassadors“, „Ulysses“ u. a. (= Wiener Beiträge zur englischen Philologie 63, ISSN 0083-9914). Braumüller, Wien u. a. 1955.
  • Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens (= UTB für Wissenschaft. Uni-Taschenbücher 904). 6. unveränderte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995, ISBN 3-525-03208-0.
  • Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 187, ZDB-ID 255845-2). 12. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993, ISBN 3-525-33464-8.
  • Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie (= WV Studium 145). 7. neubearbeitete und erweiterte Auflage. Westdeutscher Verlag, Opladen u. a. 1990, ISBN 3-531-22145-0.
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