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Aktionsjuden

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Als Aktionsjuden werden die 26.000 nach der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 verschleppten Juden bezeichnet.[1] Sie wurden in den Tagen danach in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen gebracht. Damit wurde Druck ausgeübt, um die Auswanderung zu beschleunigen und jüdische Vermögenswerte „arisieren“ zu können.[2] Der weit überwiegende Teil der Inhafierten wurde bis zum Jahresanfang 1939 entlassen; rund 500 Juden verstarben im Konzentrationslager.

Befehle

Joseph Goebbels schrieb in seinem Tagebuch, Adolf Hitler selbst habe die Verhaftung von 25,000 bis 30.000 Juden angeordnet.[3] Noch am späten Abend des 9. November 1938 kündigte Heinrich Müller den Stapo-Stellen die geplanten „Aktionen gegen die Juden“ an. Es sei die Festnahme von 20.000 bis 30.000 vor allem vermögender Juden vorzubereiten.[4] In den frühen Morgenstunden des 10. November leitete Reinhard Heydrich einen Befehl Heinrich Himmlers an alle Staatspolizeileitstellen und SD-Oberabschnitte weiter. Alsbald seien in allen Bezirken so viele gesunde männliche Juden - „insbesondere wohlhabende“ und „nicht zu hohen Alters“ - festzunehmen, wie in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden könnten. Misshandlungen wurden untersagt.[5]

Verhaftungsaktion

Die Verhaftungsaktion lief sofort am 10. November an und wurde am 16. November durch eine Anordnung Heydrichs eingestellt. Neben Gestapo und Ortspolizei wurden SA, SS und sogar das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps tätig.

Heydrichs genaue Vorgaben wurden kaum berücksichtigt.[6] Am 11. November erging ein ausdrücklicher Befehl, bei der Aktion verhaftete Frauen und Kinder sofort freizulassen. Am 16. November wurde die Entlassung von Kranken und über Sechzigjährigen angeordnet.[7]

Meist wurden die männlichen Juden in ihren Wohnungen festgenommen, aber auch am Arbeitsplatz, in Hotels, Schulen und auf Bahnhöfen kam es zu Festnahmen. Während der Einsatz von Polizeibeamten in Großstädten meist formal korrekt und ohne zusätzliche Demütigungen oder Misshandlungen verlief, waren anderorts Beschimpfungen, Tritte und Schläge gang und gäbe. Verhaftete wurden teils zum Singen nationalsozialistischer Lieder und erschöpfenden Leibesübungen genötigt und in „Schandzügen“ durch die Stadt geführt. Meist wurden die „in Schutzhaft“ genommenen Juden die ersten zwei bis drei Tage in Polizeistellen, Gefängnissen, Turnhallen oder Schulen gefangen gehalten und von dort in Konzentrationslager überführt.

Der Historiker Wolfgang Benz stellt dar, dass bis zu 10.000 Juden in Gefängnissen oder lokalen Sammelpunkten blieben, da die Unterkunftsmöglichkeiten in Konzentrationslagern nicht ausreichten.[8] Verlässliche Zahlen dazu sowie Angaben zur Haftentlassung oder Haftdauer sind offenbar nicht greifbar.

Überführung in Konzentrationslager

Die meisten Inhaftierten kamen in den ersten zwei bis drei Tagen nach der Pogromnacht in den drei Konzentrationlagern Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald an; Transporte aus Wien trafen bis zum 22. November ein. Die „Aktionsjuden“ aus Berlin wurden mit Lastwagen bis zum Lagertor von Sachsenhausen gefahren. Andere wurden mit Bussen, mit der Eisenbahn oder der Vorortbahn und anschließendem Fußmarsch überführt. Für Dachau ist die Einlieferung von 10.911 Juden belegt, für Buchenwald waren es 9.845 und für Sachsenhausen schätzt man die Zahl auf 6.000.[9] Damit hatte sich die Gesamtzahl aller in Konzentrationslagern Inhaftierten verdoppelt.

Vielfach waren die Inhaftierten während des Transports der Brutalität der Begleitkommandos ausgesetzt. Einigen Berichten nach wiesen „nahezu alle Gefangene“ bei ihrem Eintreffen in Dachau wie in Buchenwald Spuren von zum Teil schweren Verletzungen auf, die sie bei oder nach ihrer Festnahme erlitten hatten.[10] Andere bezeugten, begleitende Polizeibeamte hätten sich korrekt verhalten oder sogar Mitleid gezeigt.[11]

Lageraufenthalt

Eine demütigende Aufnahmeprozedur mit stundenlangem Appell-Stehen, Entkleiden, Haarescheren und dem Anlegen der Häftlingskleidung wirkte auf die Opfer schockierend und wird in Zeitzeugenberichten breit geschildert. Bürgerliche Werte und Ehrentitel galten plötzlich nicht mehr; die Gefühle der Entwürdigung, der Rechtlosigkeit und des Ausgeliefertsein waren überwältigend.

Völlig unzureichend war die Unterbringung in Buchenwald, wo fünf fensterlose Baracken mit je 2000 „Aktionsjuden“ belegt wurden und sanitäre Anlagen anfangs fehlten. Der Tagesablauf wurde durch drei Appelle gegliedert, die oft stundenlag dauerten und bei Regen und Kälte zur Qual wurden. Manchmal mussten die Inhaftierten exzerzieren und sinnlose oder körperlich anstrengende Arbeiten ausführen. In Dachau stieg die Zahl der registrierten Todesfälle überproportional an.[12]

Haftentlassung

Die Dauer der Gefangenschaft war sehr unterschiedlich. Ab Ende November 1938 wurden täglich 150 bis 250 „Aktionsjuden“ entlassen.[13] Am 1. Januar 1939 waren in Buchenwald noch 1.605 und in Sachsenhausen 958 Juden inhaftiert.

Den Berichten der „Aktionsjuden“ ist zu entnehmen, dass sie kein System und keine Kriterien für die Entlassungen erkennen konnten. Am 28. November 1938 wurde die Freilassung von Jugendlichen unter sechzehn Jahren angeordnet und überdies die von „Frontkämpfern“. Ab 12. Dezember sollten die über Fünzigjährigen und ab 21. Dezember sollten bevorzugt jüdische Lehrer entlassen werden.[14] Andere erlangten ihre Freiheit, weil ihre Ausreisepläne schon weit gediehen waren oder gar ihre Visa zu verfallen drohten. Wieder andere kamen nach der Überschreibung ihrer Villa umgehend frei. Jüdische Autobesitzer, denen ab 3. Dezember 1938 pauschal die Fahrerlaubnis entzogen war, wurden bedrängt, ihren Wagen zum Spottpreis zu verkaufen. Wer sich solchem Ansinnen verweigerte, konnte dennoch unverhofft zur Entlassung aufgerufen werden.[15]

Folgen

Die Zahl der „Aktionsjuden“, die im Konzentrationslager verstarben, betrug in Dachau mindestens 185, in Buchenwald 233 und in Sachsenhausen 80 bis 90. Ursächlich für die Todesfälle werden in Berichten genannt vor allem körperliche Überanstrengung, Septische Erkrankungen, Lungenentzündung und Mangel an verordneten Medikamenten und Diät.[16] Viele Männer litten unter den Folgen der Haftbedingungen und wurden noch nach der Entlassung krank. Im Jüdischen Krankenhaus Berlin mussten rund 600 Notamputationen durchgeführt werden, die wegen unbehandelter Wunden und Erfrierungen notwendig wurden.[17]

Angehörige nahmen psychische Veränderungen an ihren heimgekehrten Männern wahr. Sprachlosigkeit, Schlafstörungen, Angst und Scham waren häufig die Reaktion auf den jähen Verlust der bürgerlichen Reputation, die erlebten rohen Übergriffe und die Erfahrung absoluter Ohnmacht und Rechtlosigkeit.

Literatur

  • Barbara Distel: „Die letzte ernste Warnung vor der Vernichtung“. Zur Verschleppung der „Aktionsjuden“ in die Konzentrationslager nach dem 9. November 1938. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 46, 11, 1998, ISSN 0044-2828, S. 985–990.
  • Wolfgang Benz: Mitglieder der Häftlingsgesellschaft auf Zeit. „Die Aktionsjuden“ 1938/39. In: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Red.): Häftlingsgesellschaft. Verlag Dachauer Hefte, Dachau 2005, ISBN 3-9808587-6-6, S. 179–196 (Dachauer Hefte21).
  • Heiko Pollmeier: Inhaftierung und Lagererfahrung deutscher Juden im November 1938. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 8(1999), ISBN 3-593-36200-7, S. 105-130

Quellen

  • Die „Aktionsjuden“ im Konzentrationslager Buchenwald. Augenzeugenbericht von Siegfried Katzmann. In: Anschläge - Magazin für Kunst und Kultur. Heft 1, November 1985, ISSN 0178-9937
  • Paul Martin Neurath über Krankheit und Tod im Konzentrationslager 1938 - Dokument VEJ 2/229 In: Susanne Heim (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 (Quellensammlung) Band 2: Deutsches Reich 1938 – August 1939, München 2009, ISBN 978-3-486-58523-0, S. 634-638
  • Siegfried Neumann berichtet über seine Haft in Sachsenhausen Ende 1938 - Dokument VEJ 2/227 In: Susanne Heim (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 (Quellensammlung) Band 2: Deutsches Reich 1938 – August 1939, München 2009, ISBN 978-3-486-58523-0, S. 621-632

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Die Bezeichnung war nach Zeitzeugen zumindest im KZ Buchenwald gängig - vergl. Wolfgang Benz: Mitglieder der Häftlingsgesellschaft auf Zeit. „Die Aktionsjuden“ 1938/39. In: Dachauer Hefte 21(2005), ISBN 3-9808587-6-6, S. 187..
  2. Wolfgang Benz: Mitglieder der Häftlingsgesellschaft... S. 179.
  3. Tagebuchaufzeichnung über den Abend des 9. November 1938 – Dokument VEJ 2/363 in: Susanne Heim (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 (Quellensammlung) Band 2: Deutsches Reich 1938 – August 1939 , München 2009, ISBN 978-3-486-58523-0, S. 365
  4. Dokument PS-374 in: IMT: Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher..., fotomech. Nachdruck München 1989, Bd. 25, ISBN 3-7735-2521-4, S. 376f / auch VEJ 2/125
  5. Dokument PS-3051 in: IMT: Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher..., fotomech. Nachdruck München 1989, Bd. 31, ISBN 3-7735-2524-9, S. 517 / auch VEJ 2/126.
  6. Heiko Pollmeier: Inhaftierung und Lagererfahrung deutscher Juden im November 1938. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 8(1999), ISBN 3-593-36200-7, S. 108.
  7. Wolfgang Benz: Mitglieder der Häftlingsgesellschaft... , S. 191.
  8. Wolfgang Benz: Mitglieder der Häftlingsgesellschaft... S. 180.
  9. Heiko Pollmeier: Inhaftierung und Lagererfahrung..., S. 111.
  10. Barbara Distel: „Die letzte ernste Warnung vor der Vernichtung“..., S. 986.
  11. Heiko Pollmeier: Inhaftierung und Lagererfahrung..., S. 110.
  12. 17 Todesfälle von August-Oktober, 187 von November bis Januar bei Verdoppelung der Häftlingszahl. Vergl. Barbara Distel: „Die letzte ernste Warnung vor der Vernichtung“..., S. 987f.
  13. Heiko Pollmeier: Inhaftierung und Lagererfahrung..., S. 116.
  14. Wolfgang Benz: Mitglieder der Häftlingsgesellschaft... , S. 191.
  15. Barbara Distel: „Die letzte ernste Warnung vor der Vernichtung“..., S. 989.
  16. Susanne Heim (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 (Quellensammlung) Band 2: Deutsches Reich 1938 – August 1939 , München 2009, ISBN 978-3-486-58523-0, S. 56.
  17. Heiko Pollmeier: Inhaftierung und Lagererfahrung..., S. 117.
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