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„Judensau“-Relief an der Stadtkirche Lutherstadt Wittenberg

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„Judensau“-Relief am Südostflügel der Stadtkirche Wittenberg

Das „Judensau“-Relief an der Stadtkirche Lutherstadt Wittenberg ist ein um 1290 oder 1305 entstandenes Schandbild, das als Juden markierte Figuren im intimen Kontakt mit einer Sau zeigt, um das Judentum zu diffamieren. Es gehört zu den Plastiken einer sogenannten Judensau, die seit 1230 in und an Kirchengebäuden vor allem im deutschen Sprachraum angebracht wurden und den Antijudaismus des Christentums anschaulich zeigen.

Martin Luthers Hetzschrift Vom Schem Hamphoras von 1543 machte dieses Exemplar weithin bekannt. Folglich wurde das Relief 1570 aus dem Innenraum an die südöstliche Außenmauer der Stadtkirche versetzt und erhielt die eingravierte Überschrift Rabini Schem HaMphoras. Diese verhöhnt die hebräische Umschreibung Ha-Schem Ha-Mephorasch des unaussprechlichen Gottesnamens JHWH und identifiziert diesen Gott und das rabbinische Judentum mit einer Schweinerei. Deshalb wird dieses besondere Relief auch als Luthersau bezeichnet.

Seit etwa 1983 dachte man in der Stadtkirchengemeinde über den Umgang damit nach. 1988 ließ der Gemeinderat eine Bodenplatte darunter legen, die den christlichen Judenhass selbstkritisch als Wegbereitung des Holocaust benennen sollte.

Seit 2016 fordern verschiedene Personen und Gruppen, das Relief abzunehmen und in einen musealen Kontext zu verlegen. Mehrere Gerichtsurteile wiesen eine Zivilklage von 2018 gegen die Stadtkirchengemeinde zurück. Der laufende Prozess verstärkte eine bundesweite Debatte zum Umgang mit solchen Skulpturen und die Bemühungen um Aufklärung zu ihrer Geschichte und Rezeption.

Entstehung ab 1280

Das Wittenberger Relief kann schon beim Bau der Stadtkirche ab 1280 oder nach der Vertreibung der Juden aus Wittenberg (1304) entstanden sein, um sie von einer Wiederansiedlung abzuschrecken.[1]

Laut dem Kunsthistoriker Mario Titze gehörte es ursprünglich zu einem Bildzyklus im Altarraum zur Abwehr von Dämonen und Sünden und sollte Christen vor einer Konversion zum Judentum warnen, die nach damaligem Glauben ewige Verdammnis nach sich zog.[2] Laut der Kunsthistorikerin Insa-Christiane Hennen durften Ungetaufte den Kirchhof nicht betreten; Juden hätten das Relief also gar nicht sehen können.[3] Laut der Theologin Dorothea Wendebourg wurde es später nach außen verlegt, um Juden vom Betreten der Kirche abzuhalten.[4]

Martin Luther 1543

Martin Luther betrachtete das Judentum seit 1513 kontinuierlich als verstockte, von Gott verdammte Religion, weil die meisten Juden Jesus von Nazaret nicht als ihren Messias anerkannten. Seit 1517 war die Stadtkirche sein Predigtort, von dem die Reformation ausging. In seiner Schrift Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei von 1523 wollte er viele Juden aus der Bibel von Jesu Messianität überzeugen und riet den Christen, sie freundlich zu behandeln. Doch nach dem Bauernkrieg von 1525 verschärfte er seine Polemik gegen Juden.[5]

In seiner Hetzschrift Von den Juden und ihren Lügen (Januar 1543) beschimpfte er sie als „ihr verdammten Juden“, die nicht würdig seien, die Bibel auch nur anzusehen, geschweige denn darin zu lesen: „Ihr solltet allein die Biblia lesen, die der Sau unter dem Schwanz stehet, und die Buchstaben, die daselbs herausfallen, fressen und saufen…“. Diese Fäkalsprache spielte auf jene mittelalterlichen Plastiken an Kirchengebäuden an, die Juden unter anderem als Genießer von Schweine-Exkrementen diffamierten.[6]

In seiner folgenden Schmähschrift Vom Schem Hamphoras (März 1543) beschrieb Luther das Wittenberger Relief:

„Es ist hie zu Wittenberg an unserer Pfarrkirchen eine Saw jinn Stein gehawen, da ligen junge Ferckel und Jüden unter, die saugen. Hinder der Saw stehet ein Rabin, der hebt der Saw das rechte bein empor, und mit seiner lincken hand zeucht er den pirtzel uber sich, bückt und kuckt mit grossem vleis der Saw unter dem pirtzel jinn den Thalmud hinein, als wolt er etwas scharffes und sonderlichs lesen und ersehen. Daselbsher haben sie gewislich jr Schem Hamphoras.“[6]

Verlegung 1570

Infolge von Luthers Bekanntmachung und Deutung des Reliefs wurde es 1570 an die südliche Außenfassade der Stadtkirche versetzt und erhielt die Überschrift Rabini Schem HaMphoras (hebräisch „der unverstellte Name“). Das verknüpfte das für gläubige Juden unreine Schwein im Anschluss an Luther mit dem unaussprechlichen Gottesnamen.[7] Diese Verbindung bedeutet für gläubige Juden eine ungeheure Blasphemie. In der frühen Neuzeit hatte sich der ursprünglich religiöse Gegensatz von Kirche und Synagoge also zu einer totalen, alle Lebensbereiche umfassenden Verachtung des Judentums verdichtet.[8]

Bodentafel 1988

Mahnmal am Südostflügel der Stadtkirche Wittenberg

1983 wurde die Stadtkirche Wittenberg renoviert. Dabei beschloss der Gemeinderat, das „Judensau“-Relief an der Kirchenmauer zu lassen.[9] 1988 entwarf der Bildhauer Wieland Schmiedel im Auftrag der Gemeinde eine Gedenkplatte, die unterhalb des Reliefs in den Boden eingelassen wurde. Sie verweist auf den Holocaust als historische Folge dieses Judenhasses. Ihre Trittplatten sollen etwas verdecken, das jedoch aus allen Fugen hervorquillt. Der umrahmende Text zitiert auf Hebräisch Ps 130,1 LUT („Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“), auf Deutsch den Berliner Schriftsteller Jürgen Rennert: „Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen.“[10]

Konflikt ab 2016

Ab Herbst 2016 forderte der Londoner Theologe Richard Harvey die Abnahme der Skulptur zum Reformationsjubiläum 2017. Seine Online-Petition fand rasch 5000 Unterstützer. Die evangelische Landesbischöfin Ilse Junkermann lehnte die Abnahme ab: Die Kirche müsse „diese Wunde unserer eigenen Geschichte offen halten“ und könne sie nicht selbst zurechtrücken. Die Skulptur müsse als „Erinnerungs- und Mahnzeichen“ dafür stehenbleiben, dass die Kirche nichts beschönigen wolle, sondern die Kraft der Vergebung erhoffe. Die Bodenplatte darunter liefere die notwendige Einordnung.[11] Auch die Stadtkirchengemeinde vertrat auf ihrer Webseite:

„Geschichte soll nicht versteckt werden und Geschichtsvermittlung gelingt am eindrücklichsten am authentischen Ort. Das ist ein immer auch schmerzlicher und paradoxer Prozess, weil etwas Negatives etwas Positives bewirken soll: Ein antijudaistisch motiviertes Sandsteinrelief warnt vor den Gefahren und Folgen einer abwertenden und ausgrenzenden Haltung in Kirche und Gesellschaft.“[12]

Eine Podiumsdiskussion des Gemeinderats mit Harvey am 27. Januar 2017, dem Holocaustgedenktag, blieb ergebnislos. Johannes Höhne, ein Gemeindemitglied, bot an, die Abnahme des Reliefs zu finanzieren.[13]

Im Mai 2017 gründete der Leipziger Pastor Thomas Piehler ein „Bündnis zur Abnahme der ‚Judensau‘ im Reformationsjahr 2017“, unterstützt durch die Evangelische Marienschwesternschaft Darmstadt. Das Bündnis veranstaltete mehrere Monate lang jede Woche eine stille Mahnwache auf dem Wittenberger Marktplatz. Dagegen veröffentlichte die Wittenberger Alternative für Deutschland (AfD) eine Petition zum Erhalt der Skulptur und beantragte dazu einen Beschluss des Stadtrats.[14] Dieser entschied im Juli 2017, die Skulptur an der Kirchenwand zu belassen,[15] aber ihren Ursprung mit einer Stele darunter zu erläutern.[16] Noch vor dem Reformationsjubiläum im Oktober 2017 wurde das Relief mitsamt der Überschrift frisch vergoldet, auch mit öffentlichen Geldern.[17][18]

Zivilklage ab 2018

Im Jahr 2018 erhob Michael Düllmann, ein Mitglied einer jüdischen Gemeinde in Deutschland, eine Zivilklage mit dem Ziel, das Relief von der Stadtkirche entfernen zu lassen.[19] Ein Vergleich zwischen den Streitparteien scheiterte an den auf 10.000 Euro geschätzten Kosten für die Abnahme des Reliefs. Im Mai 2018 verwies das Amtsgericht Wittenberg den Fall wegen des hohen Streitwerts an das Landgericht Dessau-Roßlau.[20] Dieses urteilte am 24. Mai 2019: Das Relief sei Teil des historischen Baudenkmals der Stadtkirche und weder als Missachtung der Juden in Deutschland noch als Beleidigung des Klägers zu verstehen.[21] Das ganze Kirchengebäude mitsamt dem Relief stehe unter Denkmalschutz.[22] Die Kirchengemeinde habe das Relief weder hergestellt noch angebracht.[23]

Düllmann beantragte Revision und argumentierte: Solange das Relief an der Kirche hänge, sei es Teil der christlichen Verkündigung und damit ein Angriff auf Juden. Dort behalte es eine aufhetzende Wirkung, im Museum diene es der Aufklärung. Der Text der Bodenplatte verfälsche die Geschichte und vereinnahme die Juden als christliche Märtyrer. Sie seien in der Shoa ermordet worden, nicht gestorben, und hätten den Davidstern, kein Kreuzzeichen tragen müssen.[24] Auch Ronen Steinke kritisierte den Text der Bodenplatte: „Gottes Name ‚starb‘? Er starb ‚in‘ Juden? Wie charmant finden Juden solche Sätze?“[25] Ulrich Hentschel zufolge ist der Psalmvers ein Sündenbekenntnis des Beters. Die hebräische Fassung richte sich direkt an Juden. Das deute den Holocaust in antisemitischer Täter-Opfer-Umkehr als Folge der Sünden des jüdischen Volkes.[26]

Am 4. Februar 2020 wies das Oberlandesgericht Naumburg die Berufung zurück: Die Stadtkirchengemeinde habe das Relief in ein Gedenkensemble eingebunden und sich mit einer Informationstafel unmissverständlich vom Antijudaismus der Skulptur und von Luthers Judenhass distanziert. Damit sei die Plastik nicht mehr als Teil der christlichen Verkündigung misszuverstehen. Der Wunsch des Klägers, die Skulptur in ein Museum zu verlegen, widerspreche seinem Argument, dass auch eine kommentierte Beleidigung eine Beleidigung bleibe.[27] Am 14. Juni 2022 wies der Bundesgerichtshof (BGH) Düllmanns weiteren Revisionsantrag zurück: Das Relief sei zwar bis 1988 beleidigend gewesen, könne aber an der Stadtkirche bleiben, weil die Kirchengemeinde sich seither ausreichend distanziert habe. Mit der Bodenplatte und dem Erläuterungstext habe sie das „Schandmal“ in ein „Mahnmal“ zum Gedenken umgewandelt.[28]

Dieser Begründung hatte der frühere BGH-Richter Thomas Fischer zuvor widersprochen: Eine Kirchenfassade werde durch Kommentierung nicht zum Museum oder zur Gedenkstätte. Eine Kollektivbeleidigung verliere ihren Charakter nicht, wenn der Eigentümer sie zur Illustration vergangener Verirrungen erkläre. Der angestrebte pädagogische Effekt lasse sich durch Überführung des Werks in einen musealen Kontext weit eher erreichen. Die Abnahme des Reliefs wäre ein Akt der tatsächlichen Distanzierung, die ihm die evidente hetzerische Wirkung nehmen würde. Diese Isolierung und Verfremdung sei durch eine bloß verbale Distanzierung nicht erreichbar.[29] Im August 2022 reichte Düllmann eine Verfassungsbeschwerde gegen das BGH-Urteil ein.[30]

Debatte

Im Konfliktverlauf seit 2017 argumentierten viele Beobachter für die Abnahme des Reliefs: Es sei kein Kunstwerk, sondern Teil der Hass- und Vernichtungspropaganda, die zum Holocaust führte.[31] Niemand müsse künstlerisch an historischen Hass erinnert werden, der Juden noch immer treffe. Sonst könne man auch am Reichstagsgebäude wieder ein Hakenkreuz als kunsthistorisches Denkmal aufhängen. Eine ähnlich obszöne Marienstatue an Synagogen oder Moscheen würde nie hängen bleiben. Die „Judensau“ müssten vor allem die Juden in Deutschland aushalten, nicht die Christen. Ihr Verbleib sei somit „eine Machtdemonstration dafür, wer in diesem Land die Schmerzgrenzen zieht.“[32]

Im Mai 2019 plädierten die Präses der EKD-Synode Irmgard Schwaetzer, Landesbischof Friedrich Kramer und der Generalsekretär der evangelischen Akademien in Deutschland Klaus Holz wie Düllmann dafür, die Skulptur abzunehmen und in ein neues Denkmal vor der Kirche zu integrieren.[33] Dieses sollten die Gemeinde mit den jüdischen Institutionen zusammen gestalten, die Stadt und der Landkreis mittragen. Denn die Skulptur bleibe auch mit der Kommentartafel eine Beleidigung. Schwaetzer betonte, besonders die nachträgliche Inschrift zum Gottesnamen sei „reiner Judenhass“, zu dem sich Protestanten aktuell neu verhalten müssten.[7] Die Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt veranstaltete dazu eine weitere Podiumsdiskussion in Wittenberg, die wiederum ergebnislos blieb.[34]

Insa-Christiane Hennen räumte ein, dass die Forschung sich bisher zu wenig mit dem Relief und seiner Wirkung befasst habe. Historische Distanzierung sei notwendig, dürfe aber nicht zu einem Bildersturm führen.[35] Das Relief habe weder bei seiner Entstehung noch seiner Verlegung einen antisemitischen Hintergrund gehabt. Ob es „sinnvoll“ sei, sich heute davon beleidigt zu fühlen, sei somit fraglich.[36]

Nach dem antisemitischen Anschlag in Halle (Saale) 2019 (9. Oktober) forderte Felix Klein, Antisemitismus-Beauftragter der Bundesregierung, die Skulptur ins Museum zu bringen. An ihrer Stelle solle die Gemeinde eine Texttafel mit der Aussage anbringen, „dass die evangelische Kirche mit der Entfernung der Judensau einen sichtbaren Beitrag zur Überwindung von Antijudaismus und Antisemitismus leistet“.[37] Die stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus stimmte zu: Alles, was Antisemitismus fördern könne, „sollten wir tatsächlich aus der Öffentlichkeit verbannen“.[38]

Dagegen schlug der Antisemitismusbeauftragte in Sachsen-Anhalt Wolfgang Schneiß, eine von allen Streitparteien getragene „behutsame Weiterentwicklung“ des Mahnmals vor.[39] Diese befürwortete auch der Antisemitismusbeauftragte der EKD Christian Staffa. Das Relief könne als Kompromiss abgedeckt, eine Kopie am Fuß der Kirche aufgestellt und mit variablen künstlerischen Elementen kombiniert werden, um die beleidigende Wirkung für heutige Juden wie auch die Furcht lutherischer Christen vor einem neuen Bildersturm zu verhindern. Für ein neues Mahnmal müsse man die mögliche Verbindung zu aktuellen „Judensau“-Beschimpfungen und die Rezeption anderer antisemitischer Kunstwerke in dieser Kirche mitbedenken.[40] Pastor Ulrich Hentschel (Evangelische Akademie Hamburg) kritisierte Staffas Vorschlag als diplomatischen Versuch, der Wittenberger Gemeinde „den Schritt der Umkehr zu ersparen“. Eine zeitweise Verhüllung des Reliefs würde eher zeigen, „dass der Judenhass immer noch fester Bestandteil der Kirche (in jedem Sinne) ist“.[41]

Nach dem BGH-Urteil ging die Debatte weiter. Einige Kommentatoren begrüßten die Gerichtsurteile: Wittenberg habe es „nicht verdient“, das antisemitische Relief loszuwerden.[42] Die jahrhundertelange christliche Judenfeindschaft lasse sich nicht bequem entsorgen. Die Skulpturen müssten heutige Christen am authentischen Ort „treffen, verstören, ihre Selbstsicherheit erschüttern, dass so etwas nicht mehr möglich ist.“[43]

Der Zentralrat der Juden in Deutschland fand unklar, inwiefern die Begleittexte die Skulptur in ein Mahnmal verwandelten. Das Internationale Auschwitz Komitees erklärte, das jahrhundertealte Schandmal an einem der wichtigsten Orte des Protestantismus belaste das Verhältnis zwischen Juden und Christen bis heute.[44] Charlotte Knobloch, die langjährige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, fand es unbegreiflich, Volksverhetzung im Internet zu bestrafen, dieselbe bildhafte Hetze aber als kulturhistorisch wertvollen Beitrag zu schützen. Gerade wegen der Kontinuität des Judenhasses hätten die Kirchen diese Skulpturen längst entfernen und in Museen überführen sollen.[45] Niklas Otterbach (Deutschlandfunk) kritisierte die Argumentation der Kirchengemeinde als „selbstbezogene Geschichtsbetrachtung, die zwar die eigenen Untaten thematisiert wissen will, aber die Wirkung auf die, die damit beleidigt werden, ausblendet.“[46]

Die Theologin Margot Käßmann hatte 2014 betont, dass das Entfernen der Skulpturen nicht weiterführe und Mahntafeln nicht genügten. Nötig sei „das klare Eintreten gegen jeden Antijudaismus in Wort und Tat heute.“[47] Sie fand das BGH-Urteil von 2022 falsch, weil die Skulpturen Hassbotschaften seien, auch heutige Juden beleidigten und darum nicht in den öffentlichen Raum gehörten.[48] Christoph Markschies (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften) forderte die Abnahme des Reliefs, weil es die Glaubwürdigkeit der christlichen Verkündigung in dieser Kirche bedrohe und seine Kontextualisierung vor Ort gescheitert sei. Denn auch die Inschrift der Bodenplatte sei für gläubige Juden gotteslästerlich.[49]

Im August 2022 hatten 50 israelische Wissenschaftler den Gemeinderat per Brief gebeten, die Skulptur vor Ort zu lassen. Ihre Entfernung in ein Museum käme einer Leugnung der kirchlichen Vergangenheit gleich.[50] Die Initiatorin des Briefs, die Kunsthistorikerin Galit Noga-Banai (Hebräische Universität Jerusalem), lobte das BGH-Urteil und verteidigte die Gedenkplatte unter dem Relief: Sie erinnere bleibend an dessen antisemitische Wirkung bis zur Shoa, habe das „Kunstwerk vor der Beseitigung und Musealisierung bewahrt“ und sei „mit diesem gemeinsam zu einem Ruf nach Versöhnung“ geworden.[51]

Dagegen forderte Landesbischof Ralf Meister am Reformationstag (31. Oktober) 2022, man solle die Skulptur „nicht nur entfernen, sondern radikal vernichten, zerstören und kaputt machen“, weil Juden das Relief weiterhin unerträglich fänden. Es gebe mehr als genug Lernorte zum Antisemitismus.[52] Er schlug vor, das Relief in einem symbolischen Akt öffentlich zu zerschlagen. Für Marion Gardei, die Erinnerungsbeauftragte der EKBO, können ergänzende Erklärtexte oder künstlerische Verfremdung den Verbleib der Skulptur an der Kirche nicht auffangen: „Mit den mörderischen Folgen der Judenfeindschaft kann man nicht spielerisch umgehen“. Nach einem neuen Kirchengesetz der EKBO müssen judenfeindliche, rassistische und nationalsozialistische Darstellungen aus dem liturgischen Gebrauch entfernt werden und dürfen nur pädagogisch oder museal verwendet werden.[53]

Haltung des Gemeindekirchenrats

Der Gemeinderat der Stadtkirche bestritt im Mai 2022, dass sich von einer mehr als 700 Jahre alten Schmähskulptur „die Verbundenheit einer davon betroffenen Gruppe“ ableiten lasse. Weil es sich nur noch um einen „geschichtlichen Vorgang“ handle, sei zu fragen, ob man nicht einen „zeitlichen Trennungsstrich“ dazu ziehen müsse.[54] Nach dem BHG-Urteil kündigte Stadtkirchenpfarrer Alexander Garth ein allgemeinverständliches Gedenkkonzept an.[55] Im Juli 2022 schloss der Gemeinderat der Stadtkirche eine Abnahme des Reliefs nicht aus.[56] Im selben Monat empfahl eine vom Gemeinderat geladene Expertenkommission, das Relief entweder zu verdecken und nahe der Kirche ein Faksimile davon zu zeigen und zu erläutern, oder es abzunehmen und an jenen noch zu schaffenden Ausstellungsort zu bringen.[57]

Am 30. August 2022 beschloss der Gemeinderat einen neuen Erklärtext zum Relief.[58] Im Oktober 2022 entschied der Gemeinderat gegen den Expertenrat, das Relief als Ganzes sichtbar an der Kirchenwand zu lassen, aber die Bitte um Vergebung ins Zentrum des Erklärtextes zu stellen und ein pädagogisches Aufklärungskonzept zum Relief zu entwickeln.[59] Im April 2023 ließ der Gemeinderat den neuen Text unter dem Relief aufstellen, der „Gott und das jüdische Volk“ um Vergebung bittet und erklärt:

„Die Evangelische Kirche sieht sich in der Verantwortung, ihren Anteil zur jahrhundertelangen Gewaltgeschichte gegen Juden kritisch aufzuarbeiten und gegen Antijudaismus und Antisemitismus aktiv einzutreten.“

Zudem sollten Aufstelltafeln im Gebäude ausführlicher über Antijudaismus im Christentum und bei Martin Luther aufklären. Angestrebt wird eine Dauerausstellung dazu.[60]

Vorstoß gegen den UNESCO-Status der Stadtkirche

Im April 2023 forderte Felix Klein, die Stadtkirche Wittenberg von der Liste des UNESCO-Welterbes zu streichen, weil die Verunglimpfung von Religionen mit den UNESCO-Grundprinzipien unvereinbar sei.[61] Er vermutete, dass die Stadt das Relief bei ihrer Bewerbung um den Welterbe-Titel in den 1990er Jahren bewusst verschwiegen und die UNESCO-Jury es dann bei der Begutachtung der Stadtkirche übersehen habe.[62] Tatsächlich erwähnten die damaligen Bewerbungsdokumente das Relief nicht.[63]

Im August 2023 forderte Klein erneut, die Skulptur abzunehmen. Sonst sei Wittenberg kein geeigneter Standort für das von der Bundesregierung geplante deutsch-israelische Jugendwerk.[64]

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Albrecht Steinwachs, Jürgen M. Pietsch: Die Evangelische Stadt- und Pfarrkirche St. Marien der Lutherstadt Wittenberg. Pietsch, Edition Akanthus, Delitzsch 2000, ISBN 3-00-006918-6, S. 106; Isaiah Shachar: The Judensau. A Medieval Anti-Jewish Motif and its History. Warburg Institute, London 1974, ISBN 0-85481-049-8, S. 31
  2. Mario Titze: Die Sau an der Kirche. In: Jörg Bielig u. a. (Hrsg.): Die „Wittenberger Sau“, Halle 2020, S. 17–56, hier S. 46
  3. Insa-Christiane Hennen: Juden in Wittenberg und lutherische Judenfeindlichkeit: zur Wirkungsgeschichte des "schweinischen Steingemähldes". In: Jörg Bielig u. a. (Hrsg.): Die „Wittenberger Sau“, Halle 2020, S. 69–95, hier S. 72
  4. Dorothea Wendebourg: Martin Luther und die Juden, in: Jörg Bielig u. a. (Hrsg.): Die „Wittenberger Sau“. Halle 2020, S. 57–68
  5. Andreas Pangritz: Die Schattenseite des Christentums: Theologie und Antisemitismus. Kohlhammer, Stuttgart 2023, ISBN 978-3-17-040046-7, S. 74f.
  6. 6,0 6,1 Andreas Pangritz: Die Schattenseite des Christentums, Stuttgart 2023, S. 71; Originalzitate aus der Weimarer Ausgabe 53, S. 478 und 600
  7. 7,0 7,1 Debatte um Abnahme der Wittenberger „Judensau“ von Kirchenfassade. epd, 28. Mai 2019
  8. Wilhelm Güde: Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts. Jan Thorbecke, Ostfildern 1981, ISBN 3-7995-6026-2, S. 10.
  9. Wittenberg: Rechtsstreit um „Judensau“ geht in nächste Runde. Jüdische Allgemeine, 10. Dezember 2019
  10. Albrecht Steinwachs, Stefan Rhein, Jürgen M. Pietsch: Die Stadtkirche der Lutherstadt Wittenberg. Edition Akanthus, Spröda 2000, ISBN 3-00-006918-6, S. 107.
  11. Streit um Bild an Stadtkirche Wittenberg: Kirche will „Judensau“-Relief behalten. MDR, 7. Oktober 2016
  12. Klage gegen „Judensau“ in Wittenberg. epd, 20. Dezember 2017
  13. Corinna Nitz: Diskussion über „Judensau“ an Stadtkirche Wittenberg bleibt ohne Ergebnis. Mitteldeutsche Zeitung (MZ), 30. Januar 2017
  14. Christoph Richter: Spottskulptur: „Die Welt schaut auf Wittenberg – und sieht eine Judensau“. DLF, 24. Mai 2017; Corinna Nitz: Stille Mahnwache: Bündnis protestiert gegen Judensau-Spottbild. MZ, 17. Mai 2017
  15. Jérôme Lombard: Reformationsjahr: Relikt aus der Lutherzeit. Jüdische Allgemeine, 11. Juli 2017
  16. Josef Wirnshofer: Schweinerei. SZ-Magazin, 25. Dezember 2017
  17. Ulrich Hentschel: Rechtsstreit um „Judensau“-Relief: Eine echte Luthersau. taz, 27. Mai 2022
  18. Vor dem BGH-Urteil: Positionen im Streit ums Wittenberger Schmäh-Relief. MDR, 29. Mai 2022
  19. Johannes Süßmann: Wittenberg: Schwein des Anstoßes. Jüdische Allgemeine, 2. April 2019
  20. „Judensau“ vor Gericht: Wittenberger Justiz verhandelt ab Montag über Schmäh-Relief an der Stadtkirche. Jüdische Allgemeine, 6. Mai 2018
  21. Justiz: Berufung gegen „Judensau“-Urteil. Jüdische Allgemeine, 26. Juni 2019.
  22. Volker Boehme-Neßler: Die „Judensau“ bleibt? Heise, 4. Juni 2019
  23. Urteil: „Judensau“ darf weiter an Wittenberger Stadtkirche prangen. Leipziger Volkszeitung (LVZ), 24. Mai 2019
  24. Stephan Kosch: Das Urteil zur „Judensau“. In: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft. 21. Jahrgang, März 2020, S. 12
  25. Ronen Steinke: Die „Judensau“ von Wittenberg: Juristische Narrenfreiheit für die Kirche in Sachsen-Anhalt. In: Andreas Fischer-Lescano et al. (Hrsg.): Recht gegen rechts: Report 2020. Fischer, Frankfurt am Main 2020, ISBN 3-10-403862-7, S. 251
  26. Ulrich Hentschel: „Judensau“-Relief in Wittenberg: Weltkulturerbe für Antisemitismus. taz, 30. Oktober 2022
  27. „Judensau“-Schmähplastik darf weiter an Stadtkirche bleiben. Evangelisch.de, 4. Februar 2020.
  28. BGH-Urteil zu Schmähskulptur: „Judensau“ an Wittenberger Stadtkirche muss nicht entfernt werden. Spiegel, 14. Juni 2022; Bundesgerichtshof zur Wittenberger Sau. BGH, 14. Juni 2022; Urteil vom 14. Juni 2022 – VI ZR 172/20BGH.
  29. Thomas Fischer: Ist das „Juden­sau“-Relief in Wit­ten­berg eine Belei­di­gung? LTO, 6. Juni 2022; zu juristischen Aspekten siehe ausführlich Greta Göbel: Das zivilrechtliche allgemeine Persönlichkeitsrecht als Recht gegen Antisemitismus? In: Christoph Schuch (Hrsg.): Antisemitismus und Recht: Interdisziplinäre Annäherungen. transcript, Bielefeld 2024, ISBN 978-3-8394-6687-2, S. 207–226, hier S. 214f.; Marc-Philippe Weller, Greta Göbel: Antisemitische Schmähobjekte - zur Frage eines Beseitigungsanspruchs nach § 1004 BGB am Beispiel des Wittenberger Sandsteinreliefs. September 2023 (PDF; 0,8 MB)
  30. „Ich teste die deutsche Gesellschaft“. Chrismon, 26. Oktober 2022
  31. Arno Tausch: Ein Schandfleck über dem Reformationsjubiläum. Standard.at, 26. Mai 2017
  32. Dmitrij Kapitelman: Sieben Thesen zur Judensau. taz, 8. Juli 2017
  33. Christian Füller: Die „Judensau“ an Luthers Kirche ruft Entsetzen hervor. Welt Online, 29. Mai 2019
  34. Corinna Nitz: Judensau in Wittenberg: Zerstören oder behalten? Rege Diskussion in Wittenberg. MZ, 29. Mai 2019
  35. Antje Allroggen: Streit um Wittenberger „Judensau“: „Es darf keinen Bildersturm geben“. DLF, 28. Mai 2019
  36. Insa-Christiane Hennen: Wittenberger Schweinerelief: Kein antisemitischer Hintergrund. NDR, Juni 2020
  37. Antisemitismus-Beauftragter: „Judensau“ gehört ins Museum. Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), 30. Oktober 2019
  38. Reformationstag: Evangelische Bischöfe verurteilen Ausgrenzung. epd / EKMD, 31. Oktober 2019
  39. Debatte um judenfeindliche Darstellungen an Kirchen geht weiter. epd, 20. Februar 2020
  40. Stephan Kosch: „Judensau“ vor Gericht. Zeitzeichen.net, 21. Januar 2020
  41. Ulrich Hentschel: Den Judenhass verhüllen? Linksabbieger.net, 24. März 2020
  42. Alan Posener: Wittenberg hat es nicht verdient, dieses antisemitische Relief loszuwerden. Welt Online, 14. Juni 2022; vgl. Alan Posener: Das Mahnmal der Schande muss bleiben. Welt Online, 5. Februar 2020
  43. Matthias Drobinski: Es ist gut, wenn die "Judensäue" sichtbar bleiben und weiter mahnen. SZ, 4. Februar 2020
  44. „Judensau“-Schmähplastik kann an Wittenberger Kirche bleiben. DLF, 14. Juni 2022
  45. Der Hass von gestern ist heute noch nicht überwunden. Welt Online, 20. Juni 2022
  46. Niklas Ottersbach: Urteil zur „Judensau“-Schmähplastik: Eine sehr selbstbezogene Geschichtsbetrachtung. DLF, 14. Juni 2022
  47. Margot Käßmann: Stein gewordener Hass. Chrismon, 26. Dezember 2014
  48. Schmähplastik aus Wittenberg: Theologin Käßmann kritisiert BGH-Urteil: „Die 'Judensau' ist eine Hassbotschaft“. MDR, 19. Juni 2022
  49. Nochmal: geordneter Rückzug. Zeitzeichen, 26. Juni 2022
  50. Stadtkirche Wittenberg: Israelische Wissenschaftler für Verbleib der „Judensau“. Israelnetz, 9. September 2022
  51. Galit Noga-Banai: Die Mauern sprechen, und das Pflaster antwortet. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 17. April 2023
  52. Landesbischof mahnt eindringlich: Meister: „Judensau“ entfernen und zerstören. epd, 31. Oktober 2022; Plädoyer für Zerstörung: Meister: „Judensau ist lebendige Beleidigung“. epd, 4. November 2022
  53. Weiter Kritik an antisemitischer Schmähplastik. Der Sonntag, 6. November 2022
  54. Peter Maxwill: Kirche hält an Skulptur fest – und argumentiert mit „zeitlichem Trennungsstrich“. Spiegel, 13. Mai 2022
  55. Iris Mayer: BGH-Urteil: Antijüdische Schmähplastik darf bleiben. Süddeutsche Zeitung, 14. Juni 2022
  56. Antisemitische Skulptur „Judensau“: Stadtkirche Wittenberg ist offen für Abnahme der Schmähplastik. MDR, 16. Juli 2022
  57. Matthias Kamann: Ein Zeichen schwerer Sünde sollte nicht ausgelagert werden. Welt, 27. Juli 2022
  58. Johannes Blöcher-Weil: Wittenberger Stadtkirche: Schmähplastik: „Wurzel allen Übels liegt in einem christlichen Antijudaismus“. Pro-Medienmagazin, 1. September 2022; „Judensau“-Relief soll durch neue Info-Tafel ergänzt werden. Welt, 31. August 2022
  59. Stadtkirche Wittenberg: Schmährelief „Judensau“ soll erhalten werden. dpa / N-tv, 26. Oktober 2022
  60. „Stätte der Mahnung“: Neue Infotafel für judenfeindliches Relief an der Stadtkirche Wittenberg. MDR, 17. April 2023; Nach langjährigem Rechtsstreit: Infor­ma­ti­ons­schild zum „Judensau“-Relief ange­passt. LTO, 17. April 2023
  61. Forderung wegen Schmährelief - Wittenberger Kirche soll Unesco-Status entzogen werden. Spiegel, 28. April 2023
  62. Droht Aberkennung des Welterbe-Titels? Antisemitismusbeauftragter: „Judensau“-Relief in Wittenberg bewusst unterschlagen. MDR, 16. Mai 2023
  63. Ronen Steinke: Wittenberg: Der Kulturerbe-Status könnte wackeln. SZ, 12. Mai 2023
  64. „Judensau“-Debatte - Antisemitismusbeauftragter gegen deutsch-israelisches Jugendwerk in Wittenberg. Mitteldeutsche Zeitung, 2. August 2023
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