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Aderlass
Der Aderlass (griech. Phlebotomie beziehungsweise lat. Missio sanguinis) ist ein seit der Antike bekanntes und bis ins 19. Jahrhundert verbreitet angewandtes Heilverfahren. Beim Aderlass wird dem Patienten eine teilweise nicht unerhebliche Menge Blut entnommen. Heute ist belegt, dass der Aderlass nur bei wenigen Krankheitsbildern eine positive Wirkung hat, sodass er weitgehend aus dem medizinischen Alltag verschwunden ist.
Umgangssprachlich wird gelegentlich auch die Blutspende oder die Blutentnahme zu Untersuchungszwecken als Aderlass bezeichnet. Auch finanzielle Einbußen oder Verluste an Soldaten und Material können im übertragenen Sinn gemeint sein.
Geschichte
Der Aderlass ist eine der ältesten medizinischen Behandlungsformen. Er war seit der Zeit des Hippokrates bekannt und galt bis ins 17. Jahrhundert als eine der wichtigsten medizinischen Therapieformen.
Der Nutzen des Aderlasses beruhte auf zwei Vorstellungen:
- Zum einen wurde angenommen, Blut könne sich in den Gliedern stauen und verderben. „Schlechtes Blut“ müsse entfernt werden.
- Zum anderen wurden Krankheiten auf ein Ungleichgewicht der Körpersäfte (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim) zurückgeführt. Durch Ausleitung bei Blutfülle und Fieber konnte nach dieser Vorstellung das Gleichgewicht wiederhergestellt werden.
Galenos glaubte, Blut sei der dominante Saft und müsse besonders kontrolliert werden. Er stellte ein umfassendes System auf, das die Menge des zu entnehmenden Blutes aus dem Alter des Patienten, seinem Zustand sowie aus Jahreszeit und Wetterbedingungen ableitete.
Auch in der islamischen Medizin war der Aderlass bekannt, wahrscheinlich durch die griechischen Autoren. Die historisch wichtigen medizinischen Schriften Al-Qanun von Ibn Sina (Avicenna) und insbesondere Al-Tasrif li-man 'ajaza 'an al-ta'lif empfehlen den Aderlass. Die ayurvedische Medizin kannte den Aderlass ebenfalls, wie in der Sushruta-Samhitâ dargestellt ist. Auch im fernen Osten gehört er zu den klassischen Standardtherapien.
Im Mittelalter war der Aderlass durch Ärzte und Bader gängige Praxis. Das Blut wurde mittels genauer Inspektion (Hämatoskopie, Blutschau) zu diagnostischen Zwecken benutzt[1][2]. Eine weite Palette von Krankheiten wurde durch den Aderlass behandelt; man kann fast von einer universellen Methode sprechen. Die Zeiten für den Aderlass und die entsprechenden Stellen am Körper wurden nach astrologischen Kriterien festgelegt. Davon zeugen die zahlreichen Darstellungen von sogenannten „Aderlass-Männchen“. Die Lasstafel oder Lasszettel genannten Aderlasskalender gehören zu den frühesten Erzeugnissen des Buchdrucks.[3] Sie sorgten schon bald für Spottgedichte und Parodien.
Im 16. Jahrhundert kam es innerhalb der europäischen Ärzteschaft zu einem mit großer Heftigkeit geführten Aderlass-Streit, nachdem Pierre Brissot eine von den Lehren der Araber abweichende Methode (die er auf Hippokrates zurückführte) propagierte.
Auch nachdem William Harvey durch die Entdeckung des Blutkreislaufs im Jahre 1628 die Grundlagen des Aderlasses widerlegt hatte und erste Schritte zu einer auf wissenschaftlichen Methoden basierenden Medizin gemacht waren (la méthode numérique), blieb der Aderlass eine verbreitete Behandlungsmethode. Selbst der berühmte Arzt Christoph Wilhelm Hufeland empfahl noch im frühen 19. Jahrhundert den Aderlass. Der Nachweis von Pierre Charles Alexandre Louis um 1800, dass der Aderlass bei Lungenentzündung und verschiedenen Fiebererkrankungen unwirksam sei, hatte kaum Einfluss auf die allgemeine Anwendung.
In den USA favorisierte der Arzt Benjamin Rush ein extensives Aderlassen. George Washington wurden wegen einer Kehlkopfinfektion mehr als 1,5 Liter Blut entnommen; dieser Verlust kann zu seinem Tode beigetragen haben. Auch beim Tod des Kaisers Leopold II. beschleunigte, so die Kritik Samuel Hahnemanns, ein vierfacher Aderlass innerhalb von 24 Stunden durch seinen Leibarzt Lagusius das Ableben des Herrschers.
Methoden
Der Bader des Mittelalters verwendete Aderlass-Messer, sogenannte Flieten, oder ab dem 15. Jahrhundert ein Gerät, dessen spezielles Messer nach dem Anritzen der Ader zurückschnappt, den Schröpfschnepper.
Heutzutage wird Venenblut mit einer größeren Kanüle abgenommen. Die Menge des abgenommenen Blutes liegt zwischen 50 und 500 ml.
Eine weitere Methode der Blutentziehung ist der Einsatz von Blutegeln. Die spezielle Zusammensetzung des Speichels des Blutegels verhindert die Gerinnung des Blutes. Allerdings ist die entnommene Blutmenge ziemlich gering.
Einsatz in der heutigen Medizin
Der Aderlass spielt heute nur bei wenigen Erkrankungen eine wichtige Rolle:
- Bei der Polycythaemia vera, einer Erkrankung, die insbesondere zu einer krankhaft vermehrten Bildung von Erythrozyten (rote Blutkörperchen) und damit zu einer Erhöhung der Blutviskosität führt. Zur Behandlung der Erkrankung werden anfänglich häufig 6 bis 8 Aderlässe im wöchentlichen Abstand (bis zu 500 ml) durchgeführt um den lebensbedrohlich hohen Hämatokritwert (teilweise über 0,6) auf einen Normalwert (ca. 0,45) abzusenken. Danach erfolgt diese Maßnahme in einem 6- bis 12-wöchigem Abstand, wenn nicht andere medizinische Schritte eingeleitet werden.
- Bei der Hämochromatose, einer Erkrankung des Eisenstoffwechsels, werden lebenslang Aderlässe zur Senkung des Eisengehaltes im Körper durchgeführt.
- Bei einer Polyglobulie kann eine Verbesserung der Fließeigenschaften des Blutes durch Aderlass erforderlich werden, wenn beispielsweise eine Zentralvenenthrombose im Auge droht oder bereits aufgetreten ist.
- Bei einer Porphyria cutanea tarda, einer Störung der Synthese des roten Blutfarbstoffs Häm, kann durch Aderlässe Eisen verringert werden, das ansonsten in der Leber Schäden anrichtet.
- Alle Erkrankungen mit venöser Stase, besonders der gesamte variköse Symptomenkomplex. Hier wird vor allem der lokale Aderlass eingesetzt.
Im japanischen Aderlass (auch Mikroaderlass oder Shiraku) werden Krampfadern oder Besenreiser mit einem Messer oder einer Lanzette aufgestochen. Behandelt wird der Unterschenkel. Die Anwendung erfolgt bei Blutstauungen, die mit einer Dehnung von Blutgefäßen einhergehen.
In der Alternativmedizin zählt der Aderlass (wie auch das Schröpfen) zu den ausleitenden Verfahren.
Kuriosa
- In früheren Jahrhunderten trug der Januar die Bezeichnung Lassmonat. Dies rührte daher, dass dieser Zeitraum von den Badern als der geeignetste Monat für den Aderlass angesehen wurde.[4]
- Der Aderlass nach Hildegard von Bingen[5] soll den Körper durch die Entnahme von „schlechtem Blut“ von Giften befreien, die durch übermäßiges Essen, Diätfehler, Stress, Sorgen, Angst und Enttäuschungen entstanden seien. Das Blut soll dadurch von „krankmachenden Schlacken und Fäulnisstoffen“ gereinigt werden. Diese „Leistung“ bieten einige Heilpraktiker an.[6]
Siehe auch
- Unblutiger Aderlass als Erste-Hilfe-Maßnahme bei Lungenödem aufgrund akuter Linksherzinsuffizienz
Quellennachweise
- ↑ Friedrich Lenhardt: Blutschau. Untersuchungen zur Entwicklung der Hämatoskopie, Würzburg 1986 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen, 22)
- ↑ Johannes Gottfried Mayer: Die Blutschau in der spätmittelalterlichen deutschen Diagnostik, Sudhoffs Archiv 72 (1988), S. 225-233
- ↑ Stephan Giess: Merckwürdige Begebenheiten in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte - Revue d'histoire, 1993/3
- ↑ Januar: Bauern- und Wetterregeln Webseite des Verlags Eugen Ulmer, aufgerufen am 14. Januar 2013
- ↑ Naturheilverfahren: Richtig glücklich und entspannt nach dem Aderlass Die Welt, 14. Juli 2012
- ↑ Aderlass nach Hildegard von Bingen Seminar des Bayerischen Bauernverbands, aufgerufen am 14. Januar 2013
Literatur
- Gerrit Bauer: Das 'Haager Aderlaßbüchlein' (= Studien zum ärztlichen Vademecum des Spätmittelalters, 1), Würzburg 1978 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen, 14)
- Konrad Goehl, Johannes Gottfried Mayer und Gundolf Keil: Der Aderlaßmann aus Michelstadt – Ein Plakat aus dem Mittelalter, in: Bewahren und Erforschen. Beiträge aus der Nicolaus-Matz-Bibliothek (Kirchenbibliothek Michelstadt. Festgabe für Kurt Hans Staub zum 70. Geburtstag), hrsg. von Wolfgang Schmitz, Michelstadt 2003, S. 56-74
Weblinks
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