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Benutzer:Michael Kühntopf/Herzl-Gumplowicz

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  • 11.12.1899: Brief Herzls an Ludwig Gumplowicz (1838–1909) in Graz/Steiermark, einen der Gründungsväter der europäischen Soziologie:

"Hochgeehrter Herr Professor, Ihr dieswöchentlicher Aufsatz in der "Zukunft" ["Soziologische Geschichtsauffassung", Bd. 29] hat mich zu mancherlei Gedanken angeregt, und zu dem Wunsche, Ihre Ansicht über den Zionismus kennenzulernen. Sie haben wohl schon von dieser verrückten Bewegung gehört. Ich lasse Ihnen einige Publikationen schicken: meine Broschüren und die stenographischen Protokolle der drei Baseler Kongresse. Es bereitet mir ein nachhaltiges Vergnügen, dass die Universität und noch andere ernsthafte Kreise die Bewegung bisher nicht bemerkt oder nicht verstanden haben. Ein hübsches Detail: in meiner ersten Schrift vom Judenstaate, mit der diese heute schon in aller Welt verbreitete Bewegung begann, war ein Kapitel dem Rechtsgrunde des Staates gewidmet. Ich setzte an die Stelle der kümmerlich opportunistischen Theorie der "Naturnotwendigkeit" – vom contrat social nicht mehr zu reden – die Theorie der negotiorum gestio [Herzls juristischer Vergleich mit der "Geschäftsführung ohne Auftrag"], die, wie mir scheint, vor Ihrer soziologischen Auffassung bestehen kann. Diese Theorie, die vielleicht mindestens diskutabel ist, wurde bisher noch von Niemandem eines Blickes gewürdigt. Ich tue offenbar nicht gelehrt genug. Lesen Sie die Sachen, die ich Ihnen schicke, wenn Sie Zeit haben, eine Bewegung zu beobachten, die noch nicht historisch ist, aber es möglicherweise werden wird. Hochachtungsvoll. Ihr ergebener Th. Herzl"

– die höchst interessante Antwort Gumplowiczs vom 12. Dezember 1899: 

"Geehrtester Herr Doctor! Sie thun mir Unrecht wenn Sie glauben dass ich Ihre Congressrede u. Schriften (auch die Nordaus!) nicht kenne – ich habe sie alle gelesen und besitze sie. Gelesen mit Überwindung denn ich war oft wüthend über Sie beide – zu wiederholten Malen warf ich die Schriften wüthend unter den Tisch – um sie dann wieder aufmerksam weiter zu lesen – mit steigendem Ingrimm. Ich möchte Sie beide verdammen – wenn ich nicht Determinist wäre und keinen Verbrecher verdamme. Ich bin alter Vertheidiger in Strafsachen und würde auch für Sie und Nordau warm plädieren: denn Ihre Motive begreife ich, die Naturnothwendigkeit für Ihre traurige unsinnige Strömung begreife ich – und last not least ich glaube, dass sie trotz alledem – trotz all dem Unsinn der in ihr steckt doch etwas Gutes mit sich bringen wird nähmlich [sic] eine Selbstbesinnung des Judenthums und eine Anbahnung moralischer Hebung. Sie fragen, warum ich still sass und nicht gegen den Zionismus auftrat? Weil es vergebens wäre – weil er zu natürlich ist, aber trotzdem eine – Fehlbewegung! (Es giebt viel Fehlbewegungen u. Strömungen die schliesslich doch etwas Gutes schaffen – d. h. sie erreichen wohl nicht ihr proclamirtes Ziel aber erzeugen einige respectable Nebenproducte an die sie nicht gedacht haben. Auch der Socialismus ist ja eine solche Bewegung!) Übrigens, was brauche ich gegen den Zionismus aufzutreten – da ich seit 25 Jahren eine denselben von Grund aus widerlegende Theorie in zahlreichen Schriften entwickle! Ihre theoretischen, historisch garnirten Grundlagen des Zionismus sind alle falsch! Ihr seidt in einem schrecklichen historischen Irrthum befangen – u. von einer politischen Naivität wie ich sie nur Dichtern verzeihen kann. Ihr wisst nicht dass die Juden zweimal grosse historische Falsch-Meldungen begangen haben – einmal als sie sich in Palästina meldeten dass sie direkt aus Egypten kommen – das 2te Mal als sie im Osten Europas sich meldeten dass sie aus Palästina kommen! Beides ist falsch! Ebenso falsch als dass unsere "Arier" aus Indien kommen! Wie man hier fälschlich aus der Sprache auf die Abstammung folgert, folgert man dort fälschlich aus der Religion auf die Abstammung! Im literarischen Nachlasse m. Sohnes Max findet sich eine Abhandl. über die "Anfänge der jüd. Religion in Polen" – die ich zu veröffentlichen Bedenken trage um nicht den Antisemiten noch einige Schimpfwörter zu liefern – die aber die Wahrheit nachweist wer eigentlich diese Millionen poln. u. russischer Juden sind! In Palästina waren ihre Vorfahren eben so wenig wie die Palästinenser in Egypten! Das ist Ihre historische Grundlage! Und nun Ihre politische Naivität! Sie wollen einen Staat ohne Blutvergiessen gründen? Wo haben Sie das gesehen? Ohne Gewalt u. ohne List? So ganz offen u. ehrlich – auf Actien? Gehen Sie und schreiben Sie Gedichte u. Feuilletons mitsamt dem Nordau – aber lassen's mich aus mit Ihrer Politik! Oder rechnen Sie auf den Gondel-Willi und den Abdul-Hamid? Sie glauben diese zwei fetten Fleischklumpen können einen Staat gründen für die Juden – auch wenn sie nicht solche "achbroischim" [jiddisch: "Ratten"] wären wie sie sind! Lieber Herr Doctor! verzeihen Sie meine so vertraute Offenheit – das sind m. Ansichten über die Sache. Da ich mich nicht für unfehlbar halte so rede ich Niemandem ab von dem Zionismus der ihm anhängt. Zu mir kommen begeisterte Zionisten u. fragen mich um Rath (z. B. Dr. Moses Schorr aus Lemberg). Ich sagte ihm – ich theile diese Ansichten nicht – doch mache ich keine antizionistische Propaganda – ich ziehe Niemanden ab davon! Ich weiss ja nicht wozu dieser naturnothwendig entstandene Unsinn gut sein kann? Da ich das nicht weiss – so halte ich ich mich fern u. passiv. Ich bedaure diese Bewegung – wie ich den armen Kranken bedaure der sich in Schmerzen windet u. dem ich nicht helfen kann! Mit bestem Gruss! Ihr ergebenster Gumplowicz" [zu dieser Korrespondenz: Werner J. Cahnmann, Scholar and Visionary. The Correspondence Between Herzl and Ludwig Gumplowicz", in: Herzl Year Book I., 1958]