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Diskussion:Antonia Hilke

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Katja Behling , tachles, 16. September 2022:


Die Grande Dame des TV-Modejournalismus

Mit ihren Modesendungen erreichte Antonia Hilke Kultstatus – in diesem Jahr wäre sie 100 Jahre alt geworden.

Mit ihren Modesendungen «Neues vom Rond Point» und «Neues vom Kleidermarkt» schrieb Antonia Hilke ab Mitte der Fünfzigerjahre Fernsehgeschichte und zeigte den Zuschauern Trends und Kreationen aus den Metropolen. Ihre Sendungen wurden von Modemachern so geschätzt wie gefürchtet – und gelten heute als Lehrfilme für Designstudenten.

Karl Lagerfeld geriet über Antonia Hilke regelrecht ins Schwärmen. Er gehörte zu ihren Bewunderern, schätzte, wie auch Wolfgang Joop, ihr feines, mit einer Prise Ironie durchsetztes Gespür für Geschmack wie für geschmacklose Entgleisungen. Dabei hatte die gebürtige Berlinerin sich eigentlich gar nicht in der Welt der schönen Kleider, sondern in der der weissen Kittel gesehen, denn die junge Antonia hatte 1941 nach dem Abitur Ärztin werden wollen. Aber ihre jüdische Mutter, die zum Protestantismus konvertiert war, fürchtete den «Ariernachweis», der für die Zulassung zum Medizinstudium verlangt worden wäre. So besuchte die Abiturientin die Berliner Grafikschule «Kunst und Werk», die renommierte einstige Reimann-Schule. Nach dem Krieg lebte sie in Hamburg und begann ihre Karriere in den frühen Fünfzigerjahren als Zeichnerin für «Die Welt» und andere Zeitungen. Wenig später wechselte sie zum Nordwestdeutschen Rundfunk (aus dem Mitte der Fünfzigerjahre der Norddeutsche Rundfunk, NDR, wurde). Sie blieb der Mode treu. Mit ihren Fernsehsendungen «Neues vom Kleidermarkt» und «Neues vom Rond Point» brachte sie via Bildschirm Pariser Chic in die Kleiderschränke der Wirtschaftswunderära und prägte ab Ende der Fünfzigerjahre auf ganz eigene Weise den Zeitgeist. Ihre Sendung am Samstagnachmittag vor dem flimmernden Fernsehapparat, anfangs noch ein Schwarzweissgerät, zu verfolgen, war ein Ritual. Bis in die Neunzigerjahre war sie auf der Mattscheibe präsent. Sie war eine Pionierin: Antonia Hilke etablierte eine Modeberichterstattung, die das Phänomen Mode, oft als überflüssiger Tand belächelt, seriös und anspruchsvoll in Szene setzte.

Neues aus Paris

Kerzengerade sass sie im nüchtern-weissen Studio mit verschränkten Armen hinter einem Schreibtisch, umgeben von Stiftehaltern, Scheren und anderem Bürozubehör – und plauderte hanseatisch-cool über Haute Couture und ab den Sechzigern auch über Prêt-à-porter sowie Tragbares für jeden Tag. Obwohl ihr Auftritt mit diesem Setting bewusst etwas Dozierendes, beinahe Wissenschaftliches hatte, wirkte ihr Vortrag auf die damaligen Zuschauer frisch, zwanglos und unterhaltsam. Zumal es von ihr kommentierte Filmeinlagen gab, in denen die Looks in einer Revue präsentiert wurden, vorgeführt nicht nur von Mannequins, die sich zur jeweiligen Popmusik des Jahrzehnts bewegten, sondern etwa auch von den berühmten Kessler-Zwillingen, zwei professionellen Tänzerinnen. Hilke brachte zugleich etwas Ironisch-Lockereres ins Fernsehen. Ihr Kommentar zum von den Designern gepredigten Siegeszug des Minirocks, der die ein paar Jahre gehypte Midi-Länge ablösen sollte: «Erst luchsen sie uns in die langen Röcke», erbitterte sie sich, «Und jetzt sagen sie einfach ‹April, April›, war alles nicht wahr». Ihre mit flottem Strich in Echtzeit gefertigten Zeichnungen sind legendär, viele garnierte sie mit einem Zwergpudel als Accessoire. Als studierte Illustratorin konnte Antonia Hilke die Trends und neuen Linien auf Grundformen herunterbrechen und den Zuschauerinnen die Silhouetten aus dem Off erklären. Ein grosser Vorteil, weil die Damen ihre Kleider damals häufig direkt vom Laufsteg kopierten, Stoff und Schnittmuster kauften, um selbst mit Nadel und Faden zu Werke zu gehen oder das unbezahlbare Traummodell aus dem Fernsehen von der Schneiderin nachnähen liessen. Antonia Hilkes Anspruch war es, Mode als Form von Kultur und Genuss zu vermitteln, begeistert, kritisch, richtungsweisend. Sie selbst: immer elegant, nie overdressed. Als einer der ersten TV-Modejournalistinnen überhaupt wurde ihr der Zutritt zur hermetisch verschlossenen Welt der Couturiers gewährt. Zum einen hatte das junge Medium Fernsehen nicht überall ein gutes Image, zum anderen war die berechtigte Angst der Modeschöpfer vor Kopisten sehr gross. Mit ihrer sachlich-seriösen Herangehensweise wusste Antonia Hilke Vorbehalte nach und nach zu zerstreuen, ausserdem hielt sie die verabredete Sperrfrist ein: Erst ein halbes Jahr nach dem Dreh durften die Aufnahmen von den Schauen der laufenden Saison ausgestrahlt werden. Ihre Sendung war auch ökonomisch wichtig. Denn über Jahrzehnte war Deutschland einer der grössten Textil-Exporteure der Welt. Antonia Hilke begegnete diesem Wirtschaftszweig mit der gebührenden Achtung. Sie bemühte sich, der Branche auf vielerlei Weise Impulse zu geben, um das vor allem nach dem Krieg gespaltene Verhältnis der Deutschen zur Mode zu verbessern. Schon in den Achtzigerjahren mahnte sie eine Neuaufstellung der einst so grossen Berliner Modeszene an.

Yves Saint Laurent und Kenzo

Antonia Hilke brachte das für die meisten Zuschauer unerreichbare Flair der Weltstadt Paris in die Wohnstuben. Sie machte Namen und Avantgardisten wie Sonia Rykiel und Ungaro bekannt, natürlich auch bei den zuschauenden Einkäufern für die Boutiquen im Land. Zu den Höhepunkten ihrer Sendefolgen gehört der Besuch bei dem jungen Yves Saint Laurent 1971 in dessen Wohnung. Bei dieser Homestory sass der zurückhaltende, scheue Mittdreissiger auf einem «mouton de laine» (die damals angesagten Wollschaf-Sitzmöbel gehören zu den bekanntesten Stücken des französischen Künstlers François-Xavier Lalanne). Den japanischen Modedesigner Kenzo begleitete das TV-Team sogar einen ganzen Tag lang mit der Kamera, filmte ihn vom Duschen bis zum Entwerfen. Mit solchen Einfällen trug die Sendung enorm zur Popularität der damals aufsteigenden Modedesigner bei. Das gilt auch für Newcomer von Issey Miyake über Yamamoto bis Castelbajac und Thierry Mugler. Insbesondere ihre Favoriten Yves Saint Laurent und Karl Lagerfeld (erst für Chloé, dann für Chanel) begleitete Antonia Hilke intensiv. Sie hat Karrieren gefördert, Generationen von Modeschaffenden inspiriert und Massstäbe gesetzt, die lange Bestand hatten, ihre Sendungen wurden Studenten zu Lehrstücken. Heute gibt es seltsamerweise kein Magazin-Format mehr im Fernsehen, das Mode so niveauvoll und intelligent betrachtet, wie Antonia Hilke es tat. Dass Kleider Leute machen, ist eine Binse, in ihrem Falle stimmt der Satz allemal. Die Zeitung «Die Welt» nannte Hilke angesichts ihres Einflusses auf die Mode rückblickend sogar «die Anna Wintour des deutschen Fernsehens». Antonia Hilkes Stil hat Kultstatus.

Abseits von glamourösen Events zurückgezogen in Hamburg lebend, gehörte sie mit ihrem zweiten Ehemann Henri Regnier zu den engsten Freunden des «Spiegel»-Herausgebers Rudolf Augstein. Henri Regnier (1917–1988) – jüngerer Bruder des Schauspielers Charles Regnier und teils in Montreux und Davos aufgewachsen – war ein bekannter Fernseh- und Hörfunkproduzent und bis 1982 Unterhaltungschef des Norddeutschen Rundfunks. Im Herbst 2012 wurde auf dem Filmfest Hamburg «Bienvenue im Kleidermarkt – Antonia Hilkes legendäre TV-Modenschau», ein 60-minütiger Dokumentarfilm über ihr Schaffen, gezeigt. Mit dieser Hommage begann, pünktlich zu ihrem 90. Geburtstag, eine stille Wiederentdeckung der Fernsehikone und ihres Faszinosums. Sie hat das leider nicht mehr miterleben können. Antonia Hilke, die Grande Dame des TV-Modejournalismus starb am 3. September 2009 in Hamburg. Am 19. November 2022 wäre sie 100 Jahre alt geworden.