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Diskussion:Chaim-Mosche Schapira

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tachles-Newsletter vom 17. Juli 2020, Beitrag von Emanuel Cohn:


Staatsgründer Chaim-Mosche Schapira ist vor 50 Jahren gestorben – er hat eine bis heute in Israels Politikbetrieb bestehende Lücke hinterlassen.

Am 16. Juli 1970, vor genau 50 Jahren, starb der langjährige israelische Minister Chaim-Mosche Schapira, Gründer und Vorsitzender der Nationalreligiösen Partei (Mafdal) in Israel. Irgendwie passt es zu Schapira, dass er, der bei der von ihm mitunterzeichneten Unabhängigkeitserklärung neben Ben Gurion sass, auf den meisten offiziellen Fotos von Mikrofonen verdeckt ist. Denn sein Wirken spielte sich hauptsächlich hinter den Kulissen ab. In vielen brenzligen Situationen und wegweisenden Krisensitzungen seit der Staatsgründung Israels war er ein wichtiger Entscheidungsträger an der Seite Ben Gurions. Auch war er der stille Architekt der legendären Einheitsregierung vor dem Sechstagekrieg 1967: Er erkannte den Ernst der Lage und die Wichtigkeit einer nationalen Einheit vor der bevorstehenden Konfrontation mit dem von Gamal Abdel Nasser angepeitschten Ägypten und den anderen arabischen Nachbarstaaten. Durch sein geschicktes Manövrieren bewog er schliesslich Ministerpräsident Levi Eschkol, dessen Intimfeind Mosche Dayan das Sicherheitsministerium zu überlassen und Menachem Begin aus dem rechten Lager in die Regierung zu integrieren. Diese nationale Einheit war ein Schlüssel des sagenhaften Erfolgs Israels im Sechstagekrieg und beflügelte das Einheitsgefühl der Israeli.

Politik statt Lehrhaus Schapira wurde 1902 in Grodno, Weissrussland, geboren, symbolischerweise im gleichen Jahr wie die religiös-zionistische Misrachi-Bewegung selbst, mit welcher er zeitlebens verbunden sein sollte. Sein Geburtsname war Bezalel, er nahm jedoch bald den Namen seines älteren Bruders Mosche an, der im Kindesalter verstarb, um durch dessen älteren Jahrgang dem Armeedienst in Osteuropa zu entgehen. Er erhielt eine klassische orthodoxe Erziehung in einem Cheder und dann in einer Jeschiwa, einer Talmudhochschule. Aber bereits im jungen Alter war er von der Gedankenwelt der Misrachi angezogen und gründete gar innerhalb seiner Jeschiwa eine Zweigstelle der «Jungen Misrachi». In den Jahren 1924/25 lernte er am Hildesheimer’schen Rabbinerseminar in Berlin, aber schlussendlich kristallisierte sich in ihm seine Berufung heraus: Nicht in der Diaspora, sondern in Zion wollte er dem jüdischen Volk dienen. Nicht im Lehrhaus, sondern in der Politik wollte er seinen Einfluss geltend machen. Und seine politische Laufbahn war in der Tat beeindruckend. Er war einer der Mitbegründer der «Hapoel Hamisrachi», der religiös-zionistischen Arbeiterpartei, die «Tora waawoda» («Thora und Arbeit») auf ihr Banner schrieb und deren Vorsitz er 1928 übernahm. 1935 bis 1946 war er Vizedirektor des Einwanderungressorts der Jewish Agency. Als solcher hatte er ein dramatisches Rencontre mit Adolf Eichmann, den er in Wien nach dem «Anschluss» 1938 aufsuchte. Eichmann schien vom unerschrockenen Auftreten Schapiras beeindruckt zu sein und offerierte ihm die Gebeine Theodor Herzls. Schapira stand auf, blickte in die eisigen Augen Eichmanns und sprach: «Ich will keine Knochen. Ich will lebende Juden.» So gestattete der imponierte Eichmann die Auswanderung von 1000 jüdischen Familien aus Wien nach Palästina. Noch Jahrzehnte danach kamen viele dieser Wiener Juden zu den Feiertagen bei Schapira vorbei, um sich bei ihm für ihre Rettung zu bedanken.

Von der Staatsgründung 1948 bis zu seinem Tod 1970 war er bei allen israelischen Regierungen dabei, wobei er verschiedene Ämter bekleidete: Innenminister, Gesundheitsminister, Einwanderungsminister (in den schicksalhaften Jahren 1949–1951), Religionsminister und Wohlfahrtsminister. Im Jahre 1957 sollte er einen weiteren Namen erhalten, nachdem er in der Knesset schwerverletzt worden war: «Chaim» («Leben»), gemäss der jüdischen Tradition, einem Schwerkranken zwecks Abwendung einer Granatbombe eines Geistesgestörten des Unheils einen zusätzlichen Namen zu geben. Als der Granatenwerfer vor dem Versöhnungsfest, Jom Kippur, aus seiner Gefängniszelle Schapira um Verzeihung bat, antwortete er ihm: «Ich persönlich verzeihe Ihnen. Aber das wird Sie nicht vor dem Rechtswesen unseres Staates befreien.» Irgendwie war diese sarkastische Antwort typisch für Schapira, der sein eigenes Wohl und sogar jenes seiner Partei stets hinter jenes des Staates stellte. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich Schapira mehrere Jahrzehnte lang als unangefochtener Leader der nationalreligiösen Partei Mafdal (gegründet 1956 aus der Fusion von Misrachi und Hapoel Hamisrachi) behaupten konnte, nicht zuletzt dank seiner Integrität und seinem Charisma. Der israelische Publizist Yair Sheleg meint dazu: «Im Gegensatz zu vielen Politikern, die ihr ganzes Leben nach Macht streben, in Krisenmomenten aber schweigen, war Schapira jederzeit bereit, Verantwortung zu übernehmen und jegliche Situation klar zu analysieren. Seine Argumente waren stichfest und rational aufgebaut, was es seinen Gegnern erschwerte, sie zu widerlegen. Nicht nur in seiner Partei fragte man stets ‹Was sagt Schapira?›, auch Ben Gurion war stets bemüht, bei kritischen Entscheidungen die Meinung Schapiras einzuholen.»

Moderat und konzessionsbereit Schapira war in menschlicher, religiöser und nicht zuletzt politischer Hinsicht durchwegs moderat. Die Nationalreligiöse Partei war zu seinen Zeiten politisch eher links angesiedelt, im Rahmen des «historischen Bündnisses» mit der Arbeiterpartei. Erst nach Schapiras Tod und dem messianischen Aufschwung nach dem Sieg im Sechstagekrieg wurde seine Generation von der jungen Garde abgelöst. Trotz seiner konzessionsbereiten Einstellung gegenüber den arabischen Nachbarn – selbst Mosche Dayan war empört über Schapiras äusserst vorsichtige Aussenpolitik – war er in Sachen Jerusalem, dessen Wiedervereinigung er 1967 als Innenminister ratifizierte, eindeutig: «Man darf die ewige Hauptstadt nicht von der Verwaltung des ewigen Volkes trennen», proklamierte er, und widerspiegelte dabei auch den Konsens unter den jüdischen Israeli bis heute.

Chaim-Mosche Schapira, der seine letzte Ruhe auf dem Ölberg fand, war mit Lisa, einer ehemaligen Kunststudentin aus Wilna, verheiratet, mit welcher er zwei Kinder hatte: Jehuda und Naomi. Jehuda heiratete Norma Pieck, die aus Uruguay nach Israel gekommen war, Naomi ist mit dem Basler Filmproduzenten Arthur Cohn verheiratet, womit auch der Schweizer Bezug zu Schapira hergestellt wäre. Im Rahmen des Sinai-Feldzugs 1956 sagte Schapira: «Etwas mehr Bescheidenheit und etwas weniger Prahlerei würden uns nicht schaden.» Diese Worte haben nicht nur bis heute an Bedeutung nichts eingebüsst und sollten jeder israelischen Regierung als Mahnung dienen, dieser Satz widerspiegelt auch die ethischen Werte desjenigen, der ihn gesprochen hat.