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Diskussion:Peggy Guggenheim

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tachles-Newsletter 27.5.2016:

Ein Bild pro Tag»

Katja Behling
, 27. Mai 2016

Ein neuer Dokumentarfilm portraitiert Leben und Schaffen der mondänen New Yorker Erbin und Kunstmäzenin mit Schweizer Wurzeln Peggy Guggenheim.


Peggy Guggenheim auf einer Aufnahme von 1979 neben zwei Bildern von Jackson Pollock.


Ihre Leidenschaft liess Peggy Guggenheim 
(1898–1979) zu einer der einflussreichsten Mäzeninnen, Sammlerinnen und Galeristinnen 
moderner Kunst werden. Ein Dokumentarfilm porträtiert die Kunstbesessene, deren Leben so faszinierend war, wie die Kunst, die sie sammelte.

Peggy Guggenheims Affäre mit Samuel Beckett 1938 in Paris war kurz, aber stürmisch – und folgenreich. Der Schriftsteller gab ihr einen Rat, der ihr gesamtes Leben in eine neue Richtung lenkte: Sie solle sich ausser mit Männern auch mit zeitgenössischer Kunst beschäftigen – und genau das tat sie. Peggy Guggenheim war reich, unabhängig, visionär, unkonventionell und hatte einen extravaganten Geschmack, und aus diesen Zutaten erschuf sie ihr Lebenswerk: die Peggy Guggenheim Collection in Venedig. Der Dokumentarfilm «Peggy Guggenheim – Ein Leben für die Kunst» von Lisa Immordino Vreeland erzählt von der New Yorker Erbin, die die Avantgarde förderte, von einem von Beziehungen zu grossen Künstlern geprägten Leben, von einer Amerikanerin mit Schweizer Wurzeln und spleeniger Grandezza, 
die in London, Paris und New York lebte, deren «Traumstadt» aber La Serenissima, Venedig, war.

Kunst-Ikone und Lebenskünstlerin Grundlage des Films sind verschollen geglaubte Tonaufnahmen von Interviews mit Peggy Guggenheim aus den Jahren 1978 und 1979, die letzten vor ihrem Tod. Zudem beschreiben Weggefährten, Künstler wie Marina Abramovic und Zeitzeugen wie der Schauspieler Robert de Niro, was sie mit Peggy Guggenheim verbindet. So entsteht ein Bild von der Sensibilität und der Einzigartigkeit der Lebenskünstlerin, die so oft missverstanden wurde. Dass sie mit Männergeschichten prahlte und den bunten Blättern Futter lieferte, trug Peggy die Missbilligung der intellektuellen Kunstszene ein und überdeckte lange die kunsthistorischen Verdienste der schrillen Autodidaktin.

Die Kunstbesessene stammte aus einer der einflussreichsten amerikanischen Industriellenfamilien, deren Name heute ein Synonym für moderne Kunst schlechthin ist. Peggys Vater Benjamin war einer von sieben Brüdern, die mit ihrem Vater Meyer Guggenheim, der 1847 aus der Schweiz in die USA ausgewandert war, durch Geschäfte im Bergbau das Familienvermögen aufgebaut hatten. Peggys Onkel Solomon, ein Kupfermagnat, gründete 1937 in New York die Solomon R. Guggenheim Foundation zur Förderung abstrakter Kunst und eröffnete das Museum of Non Objective Painting. Es bildete die Basis für das Guggenheim-Museum, das seit 1959 in dem spektakulären, von Frank Lloyd entworfenen Gebäude, der berühmten weissen Schnecke von Manhattan, «Onkel Sols Parkhaus», beheimatet ist.

Vreelands Film, eine Zeitreise von den zwanziger Jahren bis in die Gegenwart, schaut auch hinter die Maske der schrägen Kunstliebhaberin mit dem Faible für übergrosse Brillen. Peggy Guggenheim war ein unglücklicher Mensch, das enfant terrible ihrer Familie. Peggys Vater kam beim Untergang der Titanic 1912 ums Leben, ihre Schwester starb, zwei Ehen scheiterten. Während sie mit ihren persönlichen Tragödien rang, verfolgte sie ihre Vision, eine Kunstkollektion zusammenzutragen und stürzte sich nymphomanisch in zahllose Affären. Die Männer gingen, die Kunst blieb. So leistete sie, die ihrem persönlichen Drama nur die Kunst entgegenzusetzen hatte, als Mäzenin Pionierarbeit: Weil sie Werke stets direkt bei den Künstlern im Atelier erstand, konnte sie gezielt und unabhängig von etablierten Wertmassstäben Einfluss nehmen. Gut war, was ihr gefiel oder wozu Künstlerfreunde ihr rieten. Auf diese Weise baute sie eine der bedeutendsten Privatsammlungen moderner Malerei und Plastik überhaupt auf – erst für sich und dann, um sie mit der Welt zu teilen.

Rettung «entarteter» Kunst Mit Anfang 20 stürzte sie sich in die wilde Pariser Bohème um Man Ray, der 1925 ein superbes Fotoporträt von ihr schuf. In Paris verliebte sich in die gerade entstehende Kunst der Moderne und profilierte sich als Kunstförderin. Später eröffnete sie in London ihre Galerie «Guggenheim Jeune» und präsentierte noch weitgehend erfolglose Avantgardisten. In der Eröffnungsschau im Januar 1938 zeigte sie Jean Cocteaus Zeichnungen nackter Männer. Die Presse war entsetzt, Becket aber telegrafierte Glückwünsche aus Paris. Wassily Kandinskys erste Soloschau in England folgte, und eine Ausstellung von Kinderzeichnungen, darunter erste Werke von Lucian Freud, galt als geradezu revolutionär.

In München hatten die Nazis gerade mit der Ausstellung «Entartete Kunst» vorgeschrieben, was als Kunst zu gelten hatte und was nicht: die Moderne. Peggy startete eine persönliche Rettungsaktion. Zwischen 1939 und 1940 kaufte sie im Eiltempo Werke an, darunter Picasso, Giacometti, Klee und Mirò, Archipenko und Tanguy, Braque, Dalí und Mondrian. Ihre Devise lautete: ein Bild pro Tag. Viele Meisterwerke ihrer Sammlung erwarb sie zu dieser Zeit, mitten im Krieg. Nachts noch wurde sie von verzweifelten Künstlern aufgesucht, die ihre Flucht vorbereiteten. Und Peggy kaufte zu Tiefstpreisen, die Künstler waren unter Druck, brauchten Geld. Mit nur rund 40 000 investierten Dollar legte sie den Grundstein für ihre Kollektion kubistischer, abstrakter und surrealistischer Arbeiten, deren Schätzwert sich heute auf mehr als eine Milliarde Dollar beläuft. Vielen Künstlern half sie bei der Flucht aus Europa, sie unterstützte die Rettungsaktionen von Varian Fry. Im Juli 1941 verliess die jüdische Mäzenin selbst, zusammen mit ihrer Familie und dem Surrealisten Max Ernst, der kurz darauf ihr zweiter Mann wurde, Vichy-Frankreich. Ihre Sammlung konnte sies unter abenteuerlichen Umständen nach New York verschifft, ebenfalls ausser Landes bringen.

In New York eröffnete Peggy Guggenheim 1942, unterstützt von Piet Mondrian, Marcel Duchamp und Max Ernst, ihre Galerie Art of This Century, die aus dem Stand zum «place to be» wurde und Kunst völlig neu in Szene setzte. Sie war die erste, die europäische und amerikanische Kunst mixte, sie organsierte eine Ausstellung mit Werken nur von Künstlerinnen, sie präsentierte regelmässig Werke damals noch unbekannter Künstler wie Mark Rothko und Robert de Niro senior – und Jackson Pollock, der die Kunstwelt mit seinem farbtröpfelnden Action Painting und seinen Dripping-Bildern entzückte. Sie promotete Pollocks Werke mit riesigem Erfolg und spielte so eine wegweisende Rolle in der Entwicklung der ersten US-amerikanischen Kunstbewegung, dem Abstrakten Expressionismus. Pollock entdeckt zu haben, hielt Peggy Guggenheim für die bedeutendste Leistung ihres Lebens.

Die letzte Dogaressa Ihr Interesse galt nicht nur den Werken, sondern auch deren Schöpfern. Sie kümmerte sich um die Künstler, inszenierte sie und sich, mehrte damit deren Nimbus und den Wert der von ihnen erschaffenen – und von ihr erworbenen – Werke. Aber ihre wahre Liebe galt der Kunst selbst, und einer Stadt, die mit ihrer Schönheit und Morbidität die perfekte Kulisse dafür bot: Venedig. 
Dorthin zog Peggy nach dem Krieg mit ihrer Sammlung und kaufte 1947 den Palazzo Venier dei Leoni am Canal Grande. Dort gab sie, gewandet in ausgefallene Roben, überraschend spartanische Partys: lieber investierte sie in Kunst als in teure Speisen. Die Venezianer aber feierten sie als die «letzte Dogaressa».

Der Palazzo, der die seit 1980 für die Öffentlichkeit zugängliche Peggy Guggenheim Collection beherbergt, war bei seiner Eröffnung eines der ersten Museen Europas, das sich ganz der modernen Kunst verschrieben hatte. Zur Sammlung gehören weit über 300 Werke von über 100 Künstlern, darunter Picasso, Dali, Klee, Duchamp, Léger, Magritte, Delaunay, Miró, Kandinsky, Giacometti, Ernst, Rothko – und Pollock natürlich. Einen Raum widmete sie den Werken ihrer geliebten Tochter Pegeen Vail, einer talentierter Malerin, die 1967 Selbstmord beging. Peggy Guggenheim starb im Dezember 1979. Sie liegt ganz in der Nähe ihrer Bilder, im Garten der Villa, begraben. Neben ihr ruhen 14 ihrer tibetischen Lhasa-Apso-Hunde. «Alles», sagt Peggy Guggenheim in Vreelands Film, «alles in meinem Leben drehte sich um Kunst und Liebe.»

Peggy Guggenheim. Ein Leben für die Kunst (2015). Kinostart Schweiz: 9. Juni.