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Habituation
Habituation (v. lat.: habituari: etwas an sich haben bzw. habitus: Aussehen, Haltung; Adjektiv habituell: zur Gewohnheit geworden), auch Habituierung, Gewöhnung oder erlernte Verhaltensunterdrückung genannt, bezeichnet eine einfache (und beim Menschen in der Regel nicht-bewusste) Form des Lernens. Habituation setzt ein, wenn ein Individuum wiederholt einem Reiz ausgesetzt ist, der sich als unbedeutend erweist. Die Reaktion auf diesen Reiz schwächt sich dann allmählich ab und unterbleibt schließlich womöglich völlig. Hält man nach Eintritt der Habituation den Reiz genügend lange fern, nimmt die Reaktionsbereitschaft des Individuums in der Regel wieder zu. Diese zentralnervös bedingte Reaktionsabnahme ist zu unterscheiden von der peripher verursachten Reaktionsabnahme durch Adaptation.
Das Gegenteil zu Habituation ist Sensitivierung.
Begriffsgeschichte
Die Bezeichnung ‚Habituation‘ führte William Thorpe (1944) in einem Fachaufsatz[1] in die verhaltensbiologische Terminologie ein und definierte ihn als „eine Aktivität des Zentralnervensystems, die dazu führt, dass angeborene Antworten auf schwache Stör- und Warnreize abnehmen, wenn der Reiz über längere Zeitspannen andauert, jedoch keine unvorteilhaften Auswirkungen hat“ („an activity of the central nervous system whereby innate responses to mild shock and warning stimuli wane as the stimuli continue for a long period without unfavourable results“).
Habituation bewirkt also, dass ein Individuum lernt, auf bestimmte Reize nicht zu reagieren, so dass ständig vorhandene Reizmuster aus der Wahrnehmung ausgeblendet und dem Individuum „unnütze“ Reaktionen erspart bleiben.
Von der Habituation zu unterscheiden ist die Abschwächung der Reaktion auf einen häufig wiederholten Reiz aufgrund von Ermüdung oder aufgrund einer Anpassung von Sinnesorganen (Adaptation) an den Reiz, wie sie sich zum Beispiel im Auge beim Übergang von Dunkelheit zu – anfangs blendender – Helligkeit vollzieht.
Beispiele für Habituation bei Tieren
Habituation kann, wie schon Thorpe beschrieben hat, dazu führen, dass erlernte Alarmreize aus der Umwelt eines Tieres letztlich zu keiner messbaren Reaktion mehr führen.
Ein bekanntes Beispiel für erlernte Alarmreize sind die Kommandos, die der Halter seinem Hund gibt: „Hasso, komm!“, „Hasso, aus!“ Häufig ist jedoch zu beobachten, dass Hundehalter diese Befehle zwar äußern, ohne dass dies aber zu einer erkennbaren Reaktion des Tieres führt. Der Halter lässt dann seinerseits oft keine unmittelbaren Konsequenzen für den Hund folgen, womöglich bettet er seine Befehle stattdessen in einen Schwall von verbalen Beschimpfungen ein. Das Verhalten des Hundes kann so gedeutet werden, dass er sich daran gewöhnt hat, dass den vom Halter geäußerten Rufen keine unvorteilhaften Auswirkungen folgen, weswegen der Hund keine Reaktion mehr auf die zuvor erlernten Befehle zeigt.
Habituation kann aber auch zum Ausbleiben von angeborenen Antwortreaktionen führen. Ein neu in den Haushalt gekommenes Kaninchen, das im Käfig liegend ruht, richtet sich beispielsweise umgehend auf, wenn ein Mensch sich ohne Ansprache des Tieres kurz über den Käfig beugt und danach sofort wieder weggeht. Diese als Vorstufe zur Fluchtbereitschaft zu deutende Reaktion des Tieres schwächt sich allmählich ab und bleibt schließlich ganz aus, wenn die Bewegungen über dem Käfig keine Konsequenzen für das Tier haben.
Die Piepslaute einer aus dem Nest geratenen jungen Hausmaus führen regelmäßig dazu, dass die Mutter das Nest verlässt, sich dem Jungtier annähert und es in das Nest zurück trägt. Diese angeborene, als Eintrageverhalten bezeichnete Reaktion wird im Experiment auch dann ausgeführt, wenn die Piepslaute eines Nestlings vom Tonband abgespielt werden. Die Mutter nähert sich dann dem Lautsprecher an, nach wiederholtem Abspielen bleibt diese Annäherung jedoch aus.
Ein Hund, der nachts schläft und in früher Morgenstunde immer zur selben Zeit den Zeitungslieferanten auf dem Grundstück bemerkt, wird diesen nach einer gewissen Eingewöhnungszeit ignorieren und einfach weiterschlafen, sofern eine unmittelbare Konsequenz ausbleibt, der Zeitungslieferant also nicht auf den Hund eingeht und der Hund dem Zeitungslieferanten auch nicht nahe kommen kann. Kommt der Zeitungslieferant hingegen einmal früher oder später, wird der Hund vermutlich anschlagen, da der Habituationsprozess sich auf eine bestimmte Tageszeit bezieht und die Ankunft des Zeitungslieferanten zu einer anderen Tageszeit nicht im Habituationsprozess „Zeitungslieferant kommt jeden Morgen zu einer bestimmten Zeit“ enthalten ist. Es findet eine Dishabituierung statt, da der Reiz eine unerwartete Änderung in einem Faktor erfährt.
Habituation beim Menschen
Eine frühe Studie zum Nachweis von Habituation beim Menschen publizierte 1925 der Berliner Kinderarzt Albrecht Peiper, nachdem er festgestellt hatte, dass Neugeborene bereits wenige Minuten nach der Geburt auf akustische Signale (Töne einer Spielzeugtrompete) mit veränderten Körperbewegungen reagieren. Er testete daraufhin, ob auch Ungeborene bereits durch verändertes Strampeln auf solche Laute reagieren. Seine Beobachtungen zeigten, dass die Reaktionen der Ungeborenen auf eine Autohupe umso schwächer ausfielen, je öfter sie den Lauten ausgesetzt worden waren. Später konnten andere Forscher nachweisen, dass Neugeborene auch auf wiederholt dargebotene olfaktorische und visuelle Reize mit Habituation reagieren, wenn sie folgenlos bleiben, also nicht verstärkt werden.
Ein weiteres Beispiel für Habituation beim Menschen ist die Gewöhnung an Kleidung, wie sie jedem FKK-Liebhaber bekannt ist: Wer im Urlaub mehrere Wochen lang weder Hose noch Hemd getragen hat, wird bei seiner Rückkehr in die Textilkultur durch das beständige Drücken des Stoffs gegen Haut und Körperhaare anfangs erheblich irritiert sein, sich aber nach kurzer Zeit wieder an diesen Dauerreiz gewöhnt haben. Auch eine neue Brille kann zunächst zu derartigen Irritationen an Ohren und Nase führen, die später durch Habituation wieder verloren gehen.
Dass es sich beim Phänomen der Habituation um keine bloße „Erschöpfung“ der an der Wahrnehmung des Reizes beteiligten Sinneszellen handelt, kann man leicht an folgendem Beispiel nachvollziehen: Der Mensch gewöhnt sich nach kurzer Zeit zum Beispiel an das nächtliche, gleichmäßige Summen der Fahrzeuge auf einer entfernten Autobahn, bis er dieses Hintergrundgeräusch schließlich nicht mehr als störend wahrnimmt. Sobald das Geräusch aber aussetzt, weil man an einem absolut ruhigen Ort übernachtet, bemerkt man, dass etwas „nicht stimmt“.
Eigenschaften von Habituation
Ein wesentliches Problem bei der Identifizierung liegt in der Abgrenzung zu Ermüdung bzw. Erlahmung (engl.: fatigue) und der sensorischen Adaption des Organismus. Angenommen, wir betrachten die Reaktion einer Ratte auf ein sehr helles Licht. Anfangs zeigt die Ratte eine sehr starke Reaktion – sie zeigt eine Schreck-Reaktion (springt kurz in die Luft). Mit wiederholter Reizdarbietung nimmt diese Reaktion in ihrer Stärke sukzessive ab. Ist diese Abnahme der Reaktion nun ein Beweis für Habituation? Sie könnte ebenso auf Ermüdung der Ratte zurückzuführen sein – sie wäre dann einfach konstitutionell nicht in der Lage, ständig einen starke Schreck-Reaktion auszuführen. Ebenso könnte die Reaktionsabnahme durch sensorische Adaptation verursacht worden sein. Möglicherweise ist die Ratte nach der Darbietung des Lichtes für eine Weile ‚geblendet‘, kann also die weiteren Darbietungen des Reizes nicht angemessen wahrnehmen.
Eine Reihe von bestimmten Eigenschaften, die nur bei Habituation auftreten, helfen, diese von anderen Prozessen zu unterscheiden.
Reizspezifität
Habituation ist reizspezifisch. Das bedeutet, die Reaktion habituiert nur auf einen bestimmten Reiz (mit wachsender Unähnlichkeit zwischen zwei Reizen wird die Habituation der Reaktion zunehmend aufgehoben). Damit lässt sich Habituation von Ermüdung unterscheiden. Wenn der Organismus konstitutionell erlahmt bzw. ermüdet ist, dann sollten alle seine Reaktionen in verminderter Stärke auftreten. Eine habituierte Reaktion tritt jedoch nur auf einen bestimmten Reiz auf. Wird ein anderer Reiz dargeboten, ist die Reaktion auf ihn unvermindert stark. Zum Beispiel die Ratte: Bei der wiederholten Darbietung eines sehr lauten durchdringenden Tones zeigt die Ratte eine starke Schreck-Reaktion (sie springt kurz in die Luft), welche bei wiederholter Reizdarbietung immer schwächer wird. Nun wird die Ratte einem Elektroschock ausgesetzt. Wenn die Ratte auf den Elektroschock eine unvermindert starke Schreck-Reaktion zeigt, dann wäre dies ein Beleg dafür, dass die Reaktion auf den Ton habituiert hätte. Wenn die Ratte jedoch auch auf den Schock eine sehr schwache Reaktion zeigt, wäre dies ein Hinweis für generelle Ermüdung des Tieres.
Reaktionsspezifität
Habituation ist reaktionsspezifisch. Wenn eine Reaktion auf einen Reiz habituiert wurde, muss eine andere Reaktion auf denselben Reiz nicht habituiert sein. Somit lässt sich Habituation von sensorischer Adaptation abgrenzen. Wenn ein Organismus einen bestimmten Reiz nicht angemessen wahrnehmen kann (z. B. durch helles Licht geblendet ist), dann sollten alle Reaktionen auf diesen Reiz vermindert stark auftreten. Ist die Reaktion jedoch habituiert, kann eine andere Reaktion auf den Reiz in unverminderter Stärke auftreten.
Nehmen wir ein Beispiel aus dem Schulalltag: Während einer Klausur macht der Lehrer plötzlich eine Ankündigung. Für einen kurzen Moment halten wir in unserer Arbeit inne und schauen nach vorn. Gleich darauf blicken wir wieder auf unsere Klausur und arbeiten weiter, hören jedoch trotzdem noch der Ankündigung des Lehrers zu. Unsere eine Reaktion auf den Lehrer (das Aufblicken) ist also habituiert, eine andere jedoch (das Achten auf seine Worte) besteht unvermindert stark weiter.
Zeitliche Dauer
Man unterscheidet hinsichtlich der zeitlichen Dauer des Habituationseffektes zwei Arten der Habituation:
Lang-Zeit-Habituation
Dieser Effekt hält zeitlich vergleichsweise lang an. Nehmen wir zum Beispiel ein abstraktes Gemälde. Sehen wir dieses zum ersten Mal, werden wir ihm sehr viel Aufmerksamkeit widmen und die ungewöhnliche Darstellung erstaunt eine Weile betrachten. Sehen wir das Bild später erneut, so blicken wir nur kurz hin und sind nicht mehr überrascht, da wir es bereits kennen. Unsere Reaktion hat also habituiert. Diese Habituation ist zeitlich lang andauernd – auch wenn wir dem Bild nach fünf Wochen oder noch länger wieder begegnen, wird unsere Reaktion im Vergleich zum ersten Anblick stark vermindert sein.
Kurz-Zeit-Habituation
Diese Form der Habituierung ist zeitlich relativ kurz andauernd. Wenn wir beispielsweise eine Disko besuchen, wird uns die laute Musik anfangs vielleicht stören. Mit der Zeit wird diese Reaktion jedoch habituieren und wir werden die Lautstärke kaum noch bewusst wahrnehmen. Verlassen wir dann die Disko für ein paar Stunden und betreten sie dann erneut, wird diese Habituation nicht mehr bestehen und die Lautstärke uns erneut stören. Der Habituationseffekt ist also von relativ kurzer Dauer.
Kurz-Zeit-Habituation beobachtet man z. B. auch bei Habituierungen von Versuchstieren auf aversive Reize, z. B. Elektroschocks.
Eine wesentliche Charakteristik der Kurz-Zeit-Habituation in Abgrenzung zur Lang-Zeit-Habituation ist der Spontanerholungseffekt. Dieser besteht in einer Erholung der Reaktion von der Habituierung (also in einer zugenommenen Stärke der Reaktion) nach einem time-out. Time-out bedeutet, dass man dem Organismus nach abgeschlossener Habituierung auf einen Reiz diesen Reiz für eine gewisse Zeitspanne nicht mehr darbietet (z. B. die Ratte für 24 Stunden in ihren Heimatkäfig entlässt). Bietet man nach dieser Auszeit den Reiz erneut dar, dann tritt die vorher habituierte Reaktion in stärkerer Form als bei Abschluss der Habituationsphase auf. Diesen Effekt bezeichnet man als Spontanerholung.
Habituation als Problem von Verhaltenstests
So nützlich der Mechanismus der Habituation für Tier und Mensch ist, so unangenehm berührt sind von ihm häufig die Verhaltensforscher. In ihren Experimenten sind sie ja häufig gerade darauf angewiesen, ihre Testtiere wiederholt bestimmten Reizmustern auszusetzen, um glaubwürdige Aussagen über die Wirkung eines bestimmten Reizes auf deren Verhalten formulieren zu können. Bei der Planung der Experimente muss daher stets darauf geachtet werden, dass durch genügend lange Zeitabstände zwischen den Wiederholungen der Experimente eine das Ergebnis der Tests verfälschende Habituation der Testtiere mit hinreichend großer Sicherheit ausgeschlossen werden kann.
Siehe auch
- Handlungsbereitschaft
- Gegenkonditionierung
- Electrodermale Habituation ist eine emergenetische Eigenschaft.
Literatur
- Albrecht Peiper: Sinnesempfindungen des Kindes vor seiner Geburt. Monatsschrift für Kinderheilkunde 29 (1925): 237-241.
- Robert Hinde: Behavioral Habituation. New York: Cambridge Univ. Press, 1970
- H.V.S. Peek und M.J. Hertz (Hrsg.): Habituation (2 Bände). New York: Academic Press, 1973
Einzelnachweise
- ↑ W. H. Thorpe: Proceedings of the Linnaean Society of London. Session 156, 1943–44. part 2, S. 70–83
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