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Jewiki:Hannes Stein, 20. Dezember 2024

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Hannes Stein: Standpunkt, 20. Dez 2024


Der Wahnsinn an der Macht

Als Kind wäre ich furchtbar gern Astronaut geworden. Meine Kindheit fiel in die Zeit des Apollo-Programms und der Mondflüge; ich konnte mir nichts Grossartigeres vorstellen, als auf einem Feuerstrahl in den unendlichen Himmel zu reiten und meine Füsse auf einen fremden Planeten zu setzen. Von der Richtung, die der technische Fortschritt dann in der Realität einschlug, war ich ziemlich enttäuscht. Wen, bitte, interessierten Superkondensatoren, Videokameras, Klapprechner und das ganze Zeug? Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir um das Jahr 2000 herum die erste Mondstation errichtet – danach: auf zum Mars!

Unter heutigen Bedingungen hätte ich in meiner Kindheit nie und nimmer von Raumflügen geträumt. Warum? Weil die Mehrheit der Leute mir eingeredet hätte, die Mondlandung habe in Wahrheit nie stattgefunden. Alles Fake News, hätten sie gesagt und wissend gelacht. Alles im Studio produziert! Niemand hätte das Apollo-Programm als wegweisende Ingenieurleistung gefeiert – es wäre als das Werk von Betrügern abgetan worden. Astronauten wie Neil Armstrong, Sally Ride, Juri Gagarin hätten nicht als Volkshelden gegolten, sondern als staatlich bezahlte Lügner; vielleicht hätte der Mob sie an der nächsten Fernsehantenne aufgeknüpft.

Ich denke das, weil wir gerade eben Zeugen des grössten wissenschaftlichen Durchbruchs seit dem Zweiten Weltkrieg geworden sind. So aufregend wie die Mondlandung, nur 100-mal bedeutender. Und nützlicher. Mitten in einer tödlichen Pandemie, die weltweit mindestens sieben Millionen Opfer gefordert hat, gelang es binnen Tagen, Impfstoffe zu entwickeln, die sicher und effizient waren. Innerhalb von neun Monaten waren die Impfstoffe getestet. Danach gelang es in Rekordzeit, einen Grossteil der Menschheit durchzuimpfen. Laut einer Studie konnte die Todesrate dadurch um 63 Prozent gedrückt werden. Alles an dieser Geschichte ist schön: die weltweite Zusammenarbeit von Wissenschaftlern über ethnische, kulturelle und politische Grenzen hinweg; die gute Arbeit von demokratischen Regierungen, die Sportstadien in Impfstätten verwandelten und Konteradmirälen den Auftrag erteilten, Impfungen mit militärischer Effizienz zu organisieren; das Zusammenspiel von internationalen Konzernen und sympathischen Nerds.

Wer religiösem Gedankengut nicht völlig abgeneigt ist, wird in dieser Geschichte eine Art Gottesbeweis sehen. Das, was uns die Impfstoffe entdecken und Impfungen organisieren liess, war der göttliche Funke in uns, der Funke der Vernunft, Entdeckerfreude und Nächstenliebe.

Würde noch dieselbe Atmosphäre herrschen wie in meiner Kindheit, hätte es nach dem Ende der Seuche Konfettiparaden auf der Fifth Avenue gegeben. Kinder auf der ganzen Welt würden jetzt davon träumen, medizinische Forscher zu werden. Jeder Teenager, der mathematisch auch nur halbwegs begabt ist, würde ein naturwissenschaftliches Fach studieren, um später einmal genauso reich und berühmt zu werden wie Özlem Türeci und Ugur Sahin, die beiden Gründer von Biontech. Jeden zweiten Abend gäbe es Sondersendungen im Fernsehen, um die neuesten Errungenschaften auf dem Gebiet der Medizin vorzustellen. Und die traurigen Kids von der Last Generation würden sich sagen: Wenn es möglich ist, die Menschheit von einer tödlichen Seuche zu heilen, kriegen wir auch die Sache mit dem Klimawandel hin. Neue Formen der Solarenergie, neue Batterien, neue Formen der Atomenergie werden dafür sorgen, dass wir nicht mehr gestorbene Wälder durch den Schornstein jagen. Kein Mensch muss auf irgendetwas verzichten, stattdessen darf der Wohlstand ruhig weiter wachsen. Auch Länder wie China, Indien und Nigeria dürfen so reich werden wie die USA.

Was ist stattdessen geschehen? Die Bewegung der Impfgegner hat den grössten historischen Sieg ihrer Geschichte errungen. In den Vereinigten Staaten wird bekanntlich bald ein Mann das Gesundheitsministerium kontrollieren, der nicht nur die neuen Covid-Impfstoffe, sondern Vakzine im Allgemeinen ablehnt. Dass nach seinen eigenen Angaben ein Wurm Teile des Gehirns jenes Mannes gefressen hat, klingt wie eine satirische Übertreibung, ist aber keine. Bald werden in Amerika die Masern zurückkehren. Und die Röteln. Vielleicht auch die Kinderlähmung. Auch in Europa sind die Impfgegner so stark wie nie zuvor; auch in Lateinamerika und Afrika warnen Scharlatane im Internet vor den angeblichen Gefahren, die durch Impfungen drohen. Was kommt als Nächstes: Wird man Ärzte dazu zwingen, ihre Patienten mit ungewaschenen Händen zu operieren, weil das natürlicher ist? Sterben bald wieder Frauen am Kindbettfieber?

In diesem Zusammenhang ist es eigentlich unmöglich, nicht an die Geschichte des Hexenwahns zu denken. Beinahe alles, was landläufig über die europäischen Hexenverbrennungen geglaubt wird, ist falsch. Die Hexen wurden nicht im Mittelalter gejagt, sondern in der frühen Neuzeit. Die Inquisition war an diesem Verbrechen unschuldig: Im katholischen Spanien und Italien wurden überhaupt keine Hexen auf Scheiterhaufen zu Tode gefoltert, im protestantischen Schweden und in Norddeutschland starben sie zu Tausenden.

Es handelte sich nicht um ein Projekt der Eliten, im Gegenteil. Die Eliten haben immer wieder versucht, dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten; die Massen aber wollten, dass völlig unschuldige Frauen – in vielen Fällen auch Männer – zu Tode gebracht wurden. Boshaft formuliert: Die treibende Kraft der Hexenverfolgungen waren die besorgten Bürger. Und so verhält es sich bis heute, denn die Geschichte der Hexenverfolgungen ist keineswegs vorbei: In Indien, in Benin, in Tansania, in Südafrika klagen Dorfgerichte Frauen bis heute wegen Hexerei an – und wenn die demokratische Mehrheit sie für schuldig befindet, werden die Übeltäterinnen selbstverständlich umgebracht.

Die Historiker erklären uns, die Ursache der europäischen Hexenverfolgungen sei ein Klimawandel gewesen. Die kleine Eiszeit habe dafür gesorgt, dass Ernten ausfielen, Hunger herrschte und Seuchen die geschwächte Bevölkerung dezimierten. Kriege seien ausgebrochen, allgemein sei der Weltuntergang erwartet worden. Das alles ist bestimmt richtig. Dennoch neige ich zu einer anderen Theorie: Der Buchdruck war schuld. Der erste europäische Bestseller war der «Hexenhammer» von Heinrich Kramer, ein Machwerk voller Lügen, für das sich der Autor eine kirchliche Autorität erschlich, die er gar nicht besass. Heute verbreitet sich der Müll in den sozialen Medien mit Lichtgeschwindigkeit. Zum Teil ist gar nicht mehr feststellbar, woher die besorgten Bürger den Blödsinn haben, den sie felsenfest glauben. Millionen leben heute in einem geistigen Lala-Land, in dem die Naturgesetze aus-ser Kraft gesetzt sind, es keinen menschengemachten Klimawandel gibt, die Ukraine irgendwie am russischen Angriffskrieg schuld ist, die Israelis einen Genozid an den unschuldigen Palästinensern verüben, die Weisen von Zion kleine Kinder kidnappen, um in unterirdischen Anlagen ihr Blut zu trinken, und Donald Trump ein guter Mann ist, der von den bösen Ostküsteneliten verfolgt wird.

Was unter diesen Umständen nicht mehr möglich ist, ist Demokratie. Denn die liberale Demokratie lebt von der stillschweigenden Voraussetzung, dass es sich bei der Mehrheit nicht um Wahnsinnige handelt. Was, wenn diese optimistische Annahme nicht stimmt? Die Zeit der Hexenverfolgungen in Europa hat damals ungefähr 400 Jahre gedauert. Dann kam die Epoche der Aufklärung: Plötzlich zählten Argumente wieder etwas, und Angeklagte galten vor Gericht als unschuldig, bis ihre Schuld zweifelsfrei erwiesen war. Wie lange wird es diesmal dauern? Wann wird die Menschheit aus ihrem Albtraum erwachen, sich die Augen reiben und erkennen, dass der Schlaf der Vernunft – wie bei Francisco de Goya – flatternde Ungeheuer hervorbringt? Keine Ahnung. Leider dämmert mir, dass ich das Ende unserer Ära des finsteren neuzeitlichen Aberglaubens nicht mehr erleben werde.

Hannes Stein ist Publizist und lebt in New York. Er analysiert regelmässig im tachles-Podcast amerikanische Politik und jüdisches Leben in den USA.