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Jewiki:Interview NZZ November 2024 zum Thema Riefenstahl

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Feuilleton NZZ 20. November 2024

«Als Leni Riefenstahl Hitler traf, hatte sie Schweissausbrüche. Es war wie etwas Erotisches», sagt der Regisseur Andres Veiel

Lange galt Leni Riefenstahl als ikonische Filmemacherin. Dass sie eine führende Nationalsozialistin war, wurde verdrängt. «Es war kein Zufall, dass Riefenstahl Hitler gefunden hat und Hitler sie», sagt die Produzentin Sandra Maischberger, die zusammen mit Andres Veiel den Riefenstahl-Mythos dekonstruiert.

Leni Riefenstahl wurde 101-jährig. Kurz vor ihrem Tod 2003 führte die Moderatorin Sandra Maischberger ein Interview mit der Regisseurin von «Triumph des Willens». War Riefenstahl eine unpolitische Ästhetin, wie sie stets vorgab, oder eine lupenreine Nationalsozialistin, die bei Hitler in höchster Gunst stand? Auf die Frage fand Maischberger damals keine Antwort. Aber die Sache liess sie nicht los. Und als sie vor ein paar Jahren Zugang zum Nachlass bekam, zögerte sie nicht.

700 Kartons mit persönlichem Film- und Tonmaterial, mit unzähligen Notizen auch, durchforsteten der Regisseur Andres Veiel («Beuys») und sie. Ihr Film «Riefenstahl» reisst nicht nur das Lügengebäude ein, das die schamlose Filmemacherin aufgebaut hat. Vielmehr ist er am eindrücklichsten da, wo er die Verdrängungsleistung von Nachkriegsdeutschland vorführt. Am Zurich Film Festival stellten Maischberger und Veiel den Dokumentarfilm vor, der nun in die Kinos kommt.

Wer war Leni Riefenstahl?

Sandra Maischberger: Eine Frau mit einem unzweifelhaften Talent zur Manipulation.

Andres Veiel: Sie hatte ein Gespür dafür, welche Menschen ihr nützen können. Ein gutes Gespür auch für Bilder, für Rhythmus. Aber gar kein Gespür für die Sprache und das Schreiben. Eine miserable Autorin, eine herausragende Schnittmeisterin.

Maischberger: Ihr «unique selling point» war Adolf Hitler. So wie sie ihn gezeigt hat, haben wir ihn in Erinnerung. Wir kennen Adolf Hitler durch die Linse von Leni Riefenstahl, durch ihre Fotos, durch «Triumph des Willens». Als Überschrift könnte man sagen: Sie war «Hitlers Meistermanipulatorin».

Sie wird oft auch als «Hitlers Lieblingsregisseurin» bezeichnet. Was heisst das konkret?

Veiel: Hitler hatte einen Instinkt, welche Talente Leni Riefenstahl mitbringt. Er kannte sie von Bergfilmen wie «Das blaue Licht» von 1932, in dem sie auch die Hauptrolle gespielt hat. Er hat wohl gespürt, was sie beide verbindet.

Was genau?

Veiel: Eine tiefe Verachtung für Schwäche, für das vermeintlich Kränkliche, Fremde. Und auf der anderen Seite teilte sie mit ihm umso mehr die Feier des vorgeblich Erhabenen, Siegreichen. Das hat er alles in ihren Bergfilmen entdeckt. Es ist kein Zufall, dass er sie gefragt hat: «Wollen Sie, wenn wir an die Macht kommen, unsere Filme machen?»

Hat er so direkt gefragt?

Veiel: Es ist zwar nur von ihr so kolportiert, aber es hat eine grosse Plausibilität.

Maischberger: Sie hat schon früh «Mein Kampf» gelesen und war überzeugte Nationalsozialistin, das hat sie bereits 1934 in einem Interview gesagt. Und Goebbels schreibt in seinen Tagebüchern: «Sie ist von all den Künstlern die Einzige, die uns wirklich versteht.» Es war kein Zufall, dass sie Hitler gefunden hat und Hitler sie.

Wie muss man sich Hitler und Riefenstahl privat vorstellen?

Veiel: Vieles bleibt Spekulation. Interessant ist, wie sie die erste Begegnung im Februar 1932 erzählt, Hitler hielt eine seiner Reden. Sie habe gezittert und Schweissausbrüche gehabt. Ein Nicht-mehr-bei-sich-Sein. Albert Speer schilderte Ähnliches. Und das minimiert ja die eigene Verantwortung. Die Ratio ist ausgeschaltet, die Aussage ist: «Ich konnte gar nicht anders, ich war diesem Mann verfallen.» Das hat natürlich auch etwas Erotisches. Riefenstahl beschreibt, wie sich für sie die Erde öffnete, ein hoher Wasserstrahl schnellte empor . . . Ich bin kein Freudianer, aber die Symbolik hat schon eine gewisse Eindeutigkeit. [MK: ➢] weibliche Ejakulation?

Maischberger: Gleichzeitig haben Hitler und sie sich bis zuletzt gesiezt. Daraus spricht eher keine intime Nähe, sondern eine Zweckgemeinschaft, die selbst in den Kriegstagen noch gehalten hat. Wenn sie Mittel brauchte und Goebbels seine Schatulle geschlossen hielt, stiess sie bei Hitler auf offene Ohren. Und sie konnte 1938 die Premiere von «Olympia» an seinem Geburtstag machen.

Veiel: Es gibt die Aufnahme, wie sie mädchenhaft lacht, weil sie Hitler für die «Olympia»-Premiere herumgekriegt hat, sie ist stolz darauf. Dann schämt sie sich, weil sie ahnt, dass sie da eine Intimität verrät.

Also doch eine Intimität?

Veiel: Wir wissen es nicht, und wir werden es nie herauskriegen. Es war auch nicht die Fragestellung für unseren Film, wie nah die beiden sich gekommen sind.

Und was ist mit Riefenstahls Beziehung zu Goebbels? Sie deuten im Film an, dass er sie missbraucht habe.

Veiel: Es gibt die Erzählung von der beinahe oder tatsächlich erfolgten Vergewaltigung. In ihren Memoiren sagt sie: Der war ein Widerling, der war mein Feind. Wir haben aber auch Fotos, die eine grosse Vertrautheit, eine Nähe und Zärtlichkeit zeigen. Dann wiederum gibt es Aussagen, die eine Gekränktheit ausdrücken, weil sie nie bei Goebbels eingeladen war. Wie eine enttäuschte Geliebte klingt sie da. Was genau zwischen ihnen war, wissen wir nicht. Aber in jedem Fall erzählt die Komplexität dieser Beziehung von einer grossen Nähe, selbst wenn es eine Nähe in der Feindschaft war.

In anderen Worten, Leni Riefenstahl war Teil des engsten Nazi-Zirkels?

Veiel: Teil der NS-Nomenklatura, ja. Ob man die Nähe auf Hitler bezieht, auf Goebbels, Streicher, Speer: Das ist das Eigentliche, was bei all den unterschiedlichen Erzählungen herauskommt.

«Sie ist von all den Künstlern die Einzige, die uns wirklich versteht», schrieb Goebbels über Riefenstahl in seinen Tagebüchern, wie Sandra Maischberger sagt.

Sie hingegen hat stets behauptet, von all dem Nazi-Grauen nichts mitbekommen zu haben.

Veiel: Dabei war sie schon in den ersten Kriegstagen 1939 Zeugin eines Massakers im polnischen Konskie.

Worüber sie allerdings sehr unterschiedliche Geschichten erzählt hat.

Veiel: Bis 1950 bestritt sie nicht, Augenzeugin gewesen zu sein. Als 1952 ihre Entnazifizierung anstand, behauptet sie hingegen: «Ich habe nichts mitbekommen, ich habe keinen Toten gesehen.» Und es gibt eine dritte Erzählung. Laut einem Wehrmachtsangehörigen hat sie beim Filmen eine Regieanweisung gegeben, die sich dann verselbständigt hat.

Sie wollte die Beerdigung von vier deutschen Soldaten mit der Kamera festhalten. Eine Gruppe von Juden war gezwungen worden, eine Grube für die Toten auszuheben, aber Riefenstahl wollte die Juden nicht im Bild haben und rief sinngemäss: «Weg mit den Juden!»

Veiel: Darauf sind die Juden noch einmal geschlagen worden. Sie haben versucht zu entkommen, und die Deutschen haben sie erschossen. Wenn die Schilderungen des Adjutanten zutreffen, war Riefenstahl nicht nur anwesend, sie hat das Massaker unwillentlich mit ihrer Regieanweisung «Juden aus dem Bild» mit ausgelöst.

Man hat ihr lange abgekauft, dass sie von nichts gewusst habe, hat sie bewundert. Wird Leni Riefenstahl in Deutschland noch immer idealisiert?

Maischberger: Idealisiert würde ich nicht sagen. Aber entweder wird sie komplett verdammt: Mit der müsse man sich ja nicht beschäftigen, heisst es. Sie sei weder künstlerisch einflussreich noch wirkungsvoll, bleibt uns weg mit der Altnationalsozialistin. Oder es gibt diejenigen, die sie nach wie vor bewundern für das, was sie erreicht hat.

Was hat sie erreicht?

Maischberger: Sie hat sich ab den zwanziger Jahren als Frau in einer Männerwelt durchgesetzt. Beim Bergfilm vor und hinter der Kamera, später in der Nazi-Nomenklatura: die einzige einflussreiche Frau weit und breit. Später verbrachte sie Monate in Afrika und wurde mit ihren Fotos von den Nuba weltweit erfolgreich. Es hätte schon Anlass gegeben, diese Frau für ihre Schaffenskraft zu bewundern.

Wollte man sie in Deutschland aber auch bewundern, weil es von der eigenen Schuld ablenkte?

Maischberger: Ja, in ihr hatten die Deutschen jemanden gefunden, von dem sie sagen konnten: Selbst sie, die so nah dran war, hat nichts gewusst. Also können wir ja auch nichts gewusst haben von dem Grauen, das die Nazis gebracht haben.

Sie steht symptomatisch für Deutschlands Verdrängungsleistung?

Veiel: Absolut! Deutschland hat sich mit der Aufarbeitung lange Zeit extrem schwergetan. 1964 dann der Auschwitz-Prozess, zuvor der Eichmann-Prozess in Jerusalem. Die Auseinandersetzung mit der Shoah kam aus der Ferne – ein erster kleiner Riss in dieser sehr dicken Betonwand. Dann setzte mit 1968 das Hinterfragen von Persönlichkeiten ein – von Richtern bis hoch zum Bundeskanzler –, die in einem Kontinuum standen mit dem «Dritten Reich». Und man kann sagen, dass Mitte der siebziger Jahre mit Leni Riefenstahl die schweigende Mehrheit sich zu Wort meldete.

«Ist sie eine Opportunistin, die unpolitisch war? Oder wie weit war sie innerlich ideologisch verstrickt?» – Mit diesen Fragen ging Sandra Maischberger in das Gespräch mit Leni Riefenstahl.

Ein Talkshow-Auftritt, in dem sie auf ihre Karriere im «Dritten Reich» angesprochen worden war, sorgte 1976 für Schlagzeilen.

Veiel: Aber sie bekam danach säckeweise Post: alles positiv. Darunter auch Briefe von Menschen, die sagten: «Ich war im Konzentrationslager, ich war von der Gestapo verhaftet worden, ich bin Teil der jüdischen Gemeinde . . .» So viele Menschen standen weiter hinter ihr. Und wir haben uns natürlich gefragt: Wie kann das sein?

Weshalb wollten die Leute nicht sehen, wer Riefenstahl wirklich war?

Veiel: Eine Diagnose ist: Es war die Solidarität mit einer Frau, die doch angeblich so viel gelitten hat. Und das hat wiederum viel mit Leni Riefenstahl zu tun und ihren Fake News. Sie sagt, sie sei verfolgt worden wie eine Hexe, habe drei Jahre in Lagern und Gefängnissen verbracht.

Stimmte das nicht?

Veiel: De facto waren es vier Wochen in amerikanischer Haft, wobei das eher ein Hotelvollzug war. Dann noch zwei Wochen bei den Franzosen. Mit ihrer Opfergeschichte und ihrem Raffinement, alles einzusetzen – Wut, Gekränktsein, feuchte Augen im richtigen Moment –, zog sie eine bundesrepublikanische Öffentlichkeit auf ihre Seite. Aber das war nicht nur schauspielerisches Talent, vielmehr hat sie auch ein Bedürfnis befriedigt.

Das Bedürfnis nach einem Schlussstrich?

Veiel: Genau, die Leier «Wir sind ein Land, wir haben genug von unserer Schuld». Dafür stand Leni Riefenstahl: «Die hat genug gelitten für uns. Sie ist eine Märtyrerin.»

Frau Maischberger, Sie haben Leni Riefenstahl persönlich getroffen, vor gut zwanzig Jahren führten Sie mit ihr ein Interview. Mit welchen Gedanken gingen Sie damals in das Gespräch rein?

Maischberger: Meine grosse Frage war: Ist sie eine Opportunistin, die unpolitisch war? Oder wie weit war sie innerlich ideologisch verstrickt? Darauf habe ich in diesem Gespräch keine Antwort bekommen. Weder konnte ich sie überführen, noch konnte ich mich mit ihr verbinden. Es blieb eine grosse Leerstelle.

Und darum jetzt dieser Dokumentarfilm?

Veiel: Ja, weil es anhand des Nachlasses an der Zeit ist, einen differenzierten, sehr genauen Blick auf Leni Riefenstahl zu werfen. Wir wollen nicht das Tribunal ansetzen und mit einer moralischen Empörung ihr gegenübertreten: «Lügnerin, Legendenmacherin, Charakterschwein.» Sondern wir nützen diesen Nachlass, um die entscheidende Frage zu stellen: Was ist heute das Bedürfnis für diese Ästhetik? Warum erleben wir eine Renaissance der Ästhetik und der Ideologie des Heldenhaften?

Wo ist Leni Riefenstahl heute präsent?

Maischberger: Sie ist es vielfach. Sie sehen Riefenstahl bei Sportübertragungen, bei mancher Eröffnungsfeier, Olympischen Spielen etwa. Sie sehen sie aber eben auch bei einer Militärparade wie in Russland am 8. Mai, direkt nach dem Einmarsch in die Ukraine. Die Ästhetik dieser imperialistischen Gewaltverherrlichung ist komplett gegenwärtig. Das ist überhaupt nicht zu leugnen. Die Frage, die wir uns gestellt haben, war: Ist, wenn die Bilder schon so gegenwärtig sind, möglicherweise der dahinterliegende ideologische Bodensatz auch wieder gegenwärtig?