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Odradek
Odradek ist eine rätselhafte und vieldeutige, am Anfang dingartige, im weiteren Verlauf jungenhafte Gestalt aus Franz Kafkas Prosatext Die Sorge des Hausvaters aus der Erzählungssammlung Ein Landarzt. Die Figur wird zumeist als Frage nach einem Sinn gedeutet, da die Auflösung seines Wirklichkeitsstatus und seines Sinns im Text unklar bleibt. Der Erzähler selbst bezeichnet das Wesen und den Sinn Odradeks ausdrücklich als unverständlich und widersprüchlich.
Beschreibung
In der Geschichte beschreibt der Protagonist den Odradek als einen hölzern wirkenden, mit verknoteten, bunten Fäden aufgewickelten Zwirnstern, der auf einem seiner Zacken hochkant steht. Als stabilisierendes Bein hat er ein von der Mitte des Sterns ausgehendes Querstäbchen, dem sich im rechten Winkel ein zweites anfügt.
Er wirkt trotz seiner vom Hausvater als abgebrochen wahrgenommenen äußeren Form zugleich abgeschlossen. Diese Vollendung wird dadurch unterstrichen, dass dieser auch mutmaßt, dass Odradek ihn wohl überleben werde oder gar unsterblich sei. Auch ist er nicht zu fangen, während er flink durch alle Häuser streunt und stets zurückkehrt. Fragt man ihn etwas, gibt er keine oder kurze Antworten und lacht.
Odradek, als Symbiose zwischen menschlichen und dinghaften Eigenschaften, erscheint als eine rätselhafte, kaum einzuordnende Figur. Der Hausvater als Erzähler bezeichnet den Namen „Odradek“, dessen Etymologien aus dem Slawischen oder Deutschen er ablehnt, und das damit benannte Objekt selbst als „sinnlos“.
Deutungsansätze
Die Kurzgeschichte, die die Frage nach dem Sinn des Odradeks auf den Leser wendet, lässt dessen Auflösung ausdrücklich offen.
Kurt Weinberg (1963) hat Odradek symbolisch im Sinne des Davidsterns, aus dem das christliche Kreuz entspringt gedeutet, ihm wurde allerdings auch Überinterpretation vorgeworfen (Heinz Hillmann). Oft wird die Figur allegorisch als Frage nach dem Sinn des Lebens verstanden. Klaus Wagenbach hat in einem Bildband über Kafka (F.K. Bilder aus seinem Leben, Berlin 1983, S. 47) ein Motorrad abgebildet, wie Kafka eines gefahren hat, und es als „Modell Odradek“ betitelt; es handelte sich allerdings um einen Scherz Wagenbachs, um die Deutungssucht der Kafka-Interpreten zu karikieren. Thomas Borgstedt (2009) verweist auf die Verwandtschaft des Objekts zu einem Holzspielzeug. Andreas Kilcher (2010) vergleicht die Beschreibung Odradeks mit der Warenkritik von Karl Marx.
Auseinandersetzung zwischen Wilhelm Emrich und Malcolm Pasley
Von den meisten Interpreten wird Odradek als Zweifel am Sinn selbst interpretiert. Eine ältere Auseinandersetzung fand statt zwischen Wilhelm Emrich, der von jenem generellen Zweifel am Sinn ausging, und Malcolm Pasley, der versuchte, konkretere biografische Aspekte zu integrieren.
Wilhelm Emrichs eher ins Universale greifende Theorie basiert auf dem Paradoxon, dass wenn das Sinnlose das Sinnvolle überlebt, das Sinnvolle sinnlos ist. Das erlaubt den Schluss, von einem Vergleich Kafkascher Bilder und Motive ausgehend, Odradek stelle „das Fazit aller in der Menschen- und Tiergesellschaft sich vollziehenden Bemühungen“ dar, das „Ineinander und Gegeneinander aller menschlichen Lebens- und Denkvorgänge“.
Malcolm Pasley ging demgegenüber werkchronologisch vor und hob die Nähe zu Kafkas Erzählungen „Der Jäger Gracchus“ und „Elf Söhne“ hervor, woraus er eher auf Kafka und sein Werk als auf einen universalen Hintergrund abhob. Odradek scheine „eine Chiffre für Kafka selbst zu sein“, ein „neues Bild seiner eigenen Existenz aus der Vaterperspektive“, und er meint, auf einer zweiten Interpretationsstufe müsse gefragt werden, was Kafka durch eine solche „Poetisierung seiner Existenzproblematik“ ausdrücken wollte.
Neuere Deutungsansätze
Odradeks äußere Erscheinung wird mit knapper Präzision beschrieben. Der Stil erinnert manche an die Berichte Kafkas, die er während seiner Arbeit in der Arbeiter-Unfallversicherung über technische Zusammenhänge verfasst hat. Diese Präzision der Beschreibung mündet in der Aussage: „ …; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen“. Diese Feststellung kann für vieles gelten, so etwa auch für bürokratische Systeme. Zugleich passt sie auch auf die ästhetische Qualität künstlerischer Hervorbringungen, die im Sinne der Autonomieästhetik als funktionsfrei und ästhetisch geschlossen angesehen werden.
Ähnlichkeiten sind auch zwischen Odradek und Goethes Figur der Mignon aus dem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre festgestellt worden (Borgstedt 2009): Beide werden zunächst als geschlechtsloses „es“ bezeichnet und erst später mit einem Geschlecht versehen, beide haben etwas Mechanisches und Artistisches an sich und sind zwischen verschiedenen Kulturen angesiedelt, beide sind „beweglich und schwer zu fangen“ und geben Anlass zu väterlicher „Sorge“, beide symbolisieren in gewissem Sinn das Poetische. Weitere Ähnlichkeiten sind zu Herman Melvilles Figur des Bartleby beschrieben worden.
Der selbstbestimmte, keinen Regeln unterworfenen Odradek weist zudem Gemeinsamkeiten mit anderen „Kafka-Wesen“ auf, beispielsweise mit den springenden Bällchen aus Blumfeld, ein älterer Junggeselle. Auch Eine kleine Frau gehört in diese Kategorie, wenn man ihre funktionslosen Accessoires und ihre bewegliche Puppengestalt betrachtet. Diese Wesen enthalten gewisse Slapstick-Elemente, wobei die Tücke des Objekts, mit denen man im Alltag zu kämpfen hat, ein Thema ist.
Deutungen des Namens „Odradek“
Bezüglich der sprachlichen Herkunft des Namens „Odradek“ und seiner Bedeutung wurden verschiedene, widersprüchliche Vorschläge gemacht. In der Erzählung selbst wird die Deutung als unsicher bezeichnet. Die fragliche Herkunft des Wortes Odradek aus dem Slawischen und/oder Deutschen lässt sich beziehen auf die sprachlich-kulturelle Situation der deutsch-sprachigen Juden in Prag.
Max Brod und Wilhelm Emrich haben den Namen recht plausibel vom tschechischen Verb „odradit“ abgeleitet, das „abraten“ oder „widerraten“ bedeutet und in dem der deutsche Wortstamm „Rat“ steckt. „Odradek“ wäre dann ein „kleiner Abrater“ oder Meckerer. Detlef Kremer bezieht es auf das tschechische „řádek“ für „Schriftzeile“, wogegen allerdings die lautlichen Abweichungen sprechen. Slavoj Žižek wiederum bezieht sich auf den französischen Sprachwissenschaftler Jean-Claude Milner und will ein durch zwei geteiltes Anagramm des griechischen dodekaedron erkennen: „Odradek“ wäre also die Hälfte eines Dodekaeders.
Immer wieder findet sich jedoch der Ansatz, dass sich diese Geschichte vom Dichter so gewollt ganz der Interpretation entziehe, ähnlich der nicht zum Ziel führenden Erforschung des Wortes „Odradek“. In dieser Geschichte könnte Kafka die Vieldeutigkeit, die zahllosen Interpretationsversuche und das jahrhundertelange Überdauern seiner Werke anhand eines skurrilen, kleinen Wesens ausgedrückt und vorweggenommen haben.
Nach dem von Kafka erfundenen Wesen sind ein Verlag und ein Label benannt.
Literatur
- Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53441-4.
- Thomas Borgstedt: Neinsager und Räderwerk. Kafkas Rätsel Odradek. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Bd. 56 (2009), Heft 2, S. 200–218, ISSN 0418-9426
- Wilhelm Emrich: Die Sorge des Hausvaters. In: Akzente, Bd. 13 (1966), S. 295–303, ISSN 0002-3957
- Heinz Hillmann: Das Sorgenkind Odradek. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 86 (1967), S. 197–210, ISSN 0044-2496
- Andreas Kilcher: Kafkas Proteus. Verhandlungen mit Odradek. In: Irmgard M. Wirtz (Hrsg.): Kafka verschrieben. Wallstein-Verlag, Göttingen 2010, S. 95–115, ISBN 978-3-8353-0624-0.
- Jean-Claude Milner: Odradek, la bobine de scandale. In: Elucidation, Bd. 10 (2004), S. 93–96, ISSN 1634-1260
- Gerhard Neumann: Die Arbeit im Alchimistengäßchen (1916–1917). In: Hartmut Binder (Hrsg.): Kafka-Handbuch in zwei Bänden, Bd. 2: Das Werk und seine Wirkung. Kröner, Stuttgart 1979, S. 313–350, ISBN 3-520-81801-9.
- Malcolm Pasley: Die Sorge des Hausvaters. In: Akzente, Bd. 13 (1966), S. 303–309, ISSN 0002-3957
- Kurt Weinberg: Kafkas Dichtungen. Die Travestien des Mythos. Francke, Bern 1963.
- Slavoj Žižek: The political suspension of the Ethical. 2003.
- deutsch: Die politische Suspension des Ethischen (Edition Suhrkamp; Bd. 2412). Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2005, ISBN 3-518-12412-9, S. 58, dazu Fußnote 50.
Weblinks
- Walter Höllerer: Das verfitzte Ding Odradek. In: Die Zeit vom 11. März 1966 (Feuilleton)
Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Odradek aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar. |