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Sophinette Becker
Sophinette Becker (* 15. Dezember 1950 in Lindau im Bodensee; † 24. Oktober 2019[1]) war eine deutsche psychoanalytische Psychotherapeutin und Sexualwissenschaftlerin.
Leben
Becker war die Tochter des Pädagogikprofessors Hellmut Becker und der deutsch-französischen Kinderbuchautorin Antoinette Becker. Sie studierte an der Universität Frankfurt am Main mit dem Abschluss Diplom-Psychologin (1978) und promovierte 2007 an der Universität Hannover. Von 1979 bis 1988 arbeitete sie als Assistentin an der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidelberg, ab 1989 am Institut für Sexualwissenschaft der Universitätsklinik Frankfurt.[2] Nach dessen Auflösung 2006 leitete sie bis 2011 die verbliebene „Sexualmedizinische Ambulanz“ und setzte dort die Arbeit von Volkmar Sigusch fort. Danach arbeitete sie weiter in freier Praxis.
Forschungsthemen
Ihre Forschung richtete sich auf die Geschlechtsidentität, Perversionen bei Männern und Frauen und den kulturellen Wandel von Sexualität.[3] Sie war ab der Gründung 1988 langjährige Mitherausgeberin der in der Tradition der Frankfurter Schule stehenden Zeitschrift für Sexualforschung und war im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. Besonders in der wissenschaftlichen Diskussion über Pädophilie und über sexuelle Identität wurde sie bzw. ihr Werk häufig herangezogen.
Aufarbeitung der Geschichte
Sie leistete auch psychologisch angelegte Beiträge zur geschichtskulturellen Aufarbeitung der deutschen Geschichte: so über den Umgang mit der NS-Medizin an der Universität Heidelberg am Beispiel der kollegialen Missachtung von Alexander Mitscherlichs Studien zum Nürnberger Ärzteprozess[4]. Sie trat gegen das Konzept eines fehlenden Aggressionstriebs oder einer natürlichen Friedfertigkeit der Frauen z. B. im Zusammenhang mit NS-Antisemitismus ein[5], wandte sich gegen eine Deutung der 68er-Bewegung als bloße Empörung gegen die Schuld der Vätergeneration[6] oder analysierte den Umgang der westdeutschen 68er-Generation mit der (im Sinne von Ralph Giordano) „dritten Schuld“ (des SED-Staates) in der Wiedervereinigung, als deren Vertreter, die ehemaligen eigenen linken Utopien verdrängend, sich vielfach als „Chefankläger“ aufspielten[7]. Am 9. November 1990 veröffentlichte Becker in der Frankfurter Rundschau einen Artikel, in dem sie den Ostdeutschen absprach, dass sie selbst eine Friedliche Revolution in der DDR angezettelt hätten, weil sie zu angepasst gewesen seien. Ihre Scham über sich habe sich dann in einer übersteigerten Aggression gegen die ehemalige Herrschaftsgruppe von SED und Stasi entladen.[8] Diese Sichtweisen wurden von Historikern teilweise zurückgewiesen.[9]
Pädophilie in der Erziehung
Durch das jahrzehntelange Engagement ihres Vaters Hellmut Becker († 1993) für die Odenwaldschule, der z. B. für die Einstellung des Schulleiters Gerold Becker gesorgt hatte, war ihr dieses progressive Landerziehungsheim in ihrer nahen Umgebung bekannt, zumal es sich nach eigener Behauptung um eine aufgeklärte Sexualerziehung bemühte. Auf dem Höhepunkt des Missbrauchskandals um dieses Internat um 2010 nannte sie die Debatte in der Zeitung Die Welt verlogen. Der enge Freund ihres Vaters, ihr Patenonkel Hartmut von Hentig, wurde auch massiv angegriffen und reflektierte dies später in seinen Erinnerungen 2016.[10] Der Erziehungswissenschaftler an der FU Berlin, ein Zögling Hellmut Beckers, und zeitweilige Bildungsredakteur der Zeit Jürgen Zimmer[11] wies ihn 2010 explizit auf Sophinette Beckers kritischen Beitrag zur Pädophilie (1997) hin.[12] Darin wurde deutlich die Ungleichzeitigkeit des Begehrens bei Erwachsenem und Kind aufgezeigt und Pädophilie alles andere als verharmlost.[13] Hentig reagierte nur durch Rückzug und blieb bis heute eine Antwort schuldig.
Schriften
- Brustkrebs und Weiblichkeit: ein psychoanalytischer Beitrag zur Psychosomatik des Mamma-Carzinoms. Diplomarbeit Universität Frankfurt am Main 1978 (Abdruck in: Forum für Medizin und Gesundheitspolitik 16: Frauen und Gesundheit. Verlagsgesellschaft Gesundheit, Berlin/West 1981)
- mit Hans Jaeger: AIDS : psychosoziale Betreuung von AIDS- u. AIDS-Vorfeldpatienten, Thieme, Stuttgart New York 1987 ISBN 978-3-13-703901-3
- mit Walter Bräutigam: Kooperationsformen somatischer und psychosomatischer Medizin : Aufgabe — Erfahrungen — Konflikte, Springer Berlin Heidelberg 1988 ISBN 978-3-642-74015-2
- Pädophilie zwischen Dämonisierung und Verharmlosung, in: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik, Nr. 38, 1/1997: 5–21 online
- Die Unordnung der Geschlechter : klinische und sozialpsychologische Beiträge zur Geschlechtsidentität und ihren Störungen, Hannover, Diss. 2006
- Sex, Lügen und Internet. Sexualwissenschaftliche und psychotherapeutische Perspektiven (Beiträge zur Sexualforschung), Psychosozial-Verlag. 2009 ISBN 978-3-8379-2019-2
- Mitautorin: Soziale Dimensionen der Sexualität (Beiträge zur Sexualforschung), 2010 ISBN 978-3-8379-2010-9
- Sex mit Kindern – Diskurse und Realitäten. texte (psychoanalyse. aesthetik. kulturkritik.), 33. Jhg. (2013), Heft 2/13, S. 76–91
- „Transsexualität“ – zwischen sozialer Konstruktion, bisexueller Omnipotenz und narzisstischer Plombe. Freie Assoziation 16 (2013), 3+4, S. 65–81
- Männliche Perversionen, in: Grimmer, B.; Afflerbach, T.; Dammann, G. (Hrsg.) : Psychoandrologie. Psychische Störungen des Mannes und ihre Behandlung. Kohlhammer Stuttgart 2016, S. 102–119
- Mithrsg.: Pornografie und psychosexuelle Entwicklung im gesellschaftlichen Kontext : psychoanalytische, kultur- und sexualwissenschaftliche Überlegungen zum anhaltenden Erregungsdiskurs, Psychozial-Verlag, Gießen 2017 ISBN 978-3-8379-2817-4
Weblinks
- Sascha Zoske: Sexualwissenschaften in Frankfurt: Zur Therapie durch den Lieferanteneingang. In: FAZ.net. 15. April 2008 .
- Pädophilie: Psychologin findet Missbrauchsdebatte „verlogen“. In: Welt.de. 16. März 2010 .
- Anne-Catherine Simon: Sophinette Becker: „Sexuelle Lust ist nie ganz harmlos“. In: DiePresse.com. 28. April 2015 .
- Patricia Hecht: Psychoanalytikerin über Geschlecht: „Wir sind nicht fluide“. In: taz.de. 9. März 2018 .
- Martin Leupold: Trans* – Einblicke in ein kontroverses Thema. (pdf, 1,5 MB) In: Weißes Kreuz. Zeitschrift für Sexualität und Beziehung. Nr. 75, IV/2018, 26. November 2018, S. 11–15 (Interview mit S. Becker).
Einzelbelege
- ↑ Karl Fallend: Wir trauern um Sophinette Becker. In: Werkblatt-Facebook-Account. 29. Oktober 2019, abgerufen am 1. November 2019.
- ↑ Elisabeth Vlasich: 10 Jahre Arbeitskreis „Psychotherapie – Transsexualität“ Fachtagung und Feier: Bericht über die Fachtagung. In: vlasich.at. 26. November 2005, abgerufen am 26. Februar 2019.
- ↑ Sophinette Becker: Lust im Wandel. (pdf, 85 kB) Vortrag vor Evangelische Familienberatung in Westfalen. In: hauptstelle-ekvw.de. 27. März 2014, abgerufen am 26. Februar 2019.
- ↑ Sophinette Becker, Petra Becker-von Rose, Bernd Laufs: Einblicke in die Medizin während des Nationalsozialismus – Beispiele aus der Heidelberger Universität. In: Auch eine Geschichte der Universität Heidelberg. Mannheim 1985, S. 315–336.
- ↑ Becker, Sophinette/Stillke, Cordelia: Von der Bosheit der Frau. In: Befreiung zum Widerstand. Aufsätze zu Feminismus, Psychoanalyse und Politik. Fischer, Frankfurt am Main 1987, S. 13-23.
- ↑ Sophinette Becker: Bewußte und unbewußte Identifikationen der 68er Generation. In: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Zur Psycho-Analyse deutscher Wenden. Berlin 1992, ISBN 978-3-7466-0186-1, S. 269-275.
Dazu Ute Scheub: Erinnyen oder Erinnern: „Zur Psychoanalyse deutscher Wenden“, ein Kongreß an der Freien Universität Berlin / „Gewendete Biographien“ bei der „HJ-Generation“, den West-68ern und den Ost-89ern. In: Die Tageszeitung (taz). 17. Februar 1992, S. 6, abgerufen am 2. November 2019.
Cornelia Brink: Ikonen der Vernichtung: Zum öffentlichen Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945. Akademie, Berlin 1998, S. 192 (https://books.google.de/books?id=-ZBsDwAAQBAJ&pg=PA192&lpg=PA192&dq=sophinette+becker+68-Generation&source=bl&ots=98Rg9expcE&sig=ACfU3U1hPNTZl-5Dy-DkYLPbBzOaXDLH4Q&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjI7YCXmtrgAhVC1hoKHQ-kAysQ6AEwAXoECAIQAQ#v=onepage&q=sophinette%20becker%2068-Generation&f=false). - ↑ Sophinette Becker, Hans Becker: Die Wiedervereinigung der Schuld. In: psychosozial. 45, 1991 S. 64-75.
- ↑ Hans Becker, Sophinette Becker: Von der ersten zur zweiten und jetzt zur dritten Schuld. In: Die Mauer fiel, die Mauer steht. Ein deutsches Lesebuch 1989–1999. dtv, München 1999, S. 33 (zuerst erschienen in Frankfurter Rundschau am 9. November 1990).
- ↑ Mark Arenhövel: Demokratie und Erinnerung: der Blick zurück auf Diktatur und Menschenrechtsverbrechen. Campus, Frankfurt New York 2000, S. 23.
- ↑ Hartmut von Hentig: Noch immer mein Leben. Erinnerungen und Kommentare aus den Jahren 2005 bis 2015. wamiki, 2016, ISBN 978-3-945810-26-2.
- ↑ Timbo Kingsley: Prof. em. Dr. Jürgen Zimmer: Angaben zur Person. In: juzimmer.de. Abgerufen am 26. Februar 2019.
- ↑ Jürgen Zimmer: Pädophilie und Pädagogik. In: noch-immer-mein-leben.de. 2. Juni 2016, abgerufen am 26. Februar 2019.
- ↑ Sophinette Becker: Aktuelle Diskurse über Pädophilie und ihre Leerstellen. In: Tabubruch und Entgrenzung: Kindheit und Sexualität seit 1968. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2017, ISBN 978-3-412-50793-0.
Personendaten | |
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NAME | Becker, Sophinette |
KURZBESCHREIBUNG | deutsche Psychotherapeutin, Sexualwissenschaftlerin und Autorin |
GEBURTSDATUM | 15. Dezember 1950 |
GEBURTSORT | Lindau im Bodensee |
STERBEDATUM | 24. Oktober 2019 |
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