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Geschichte der Juden auf Norderney

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Die Norderneyer Synagoge 1904

Die Geschichte der Juden auf Norderney ist erforscht für einen Zeitraum von etwa 120 Jahren. Sie beginnt mit der Aufzeichnung über jüdische Urlauber im Seebad von Norderney ab etwa 1820 und endet mit der Auflösung der Gemeinde während des Nationalsozialismus bis 1941. Während sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Bäder-Antisemitismus an der Nordseeküste festsetzte, besaß allein Norderney einen eher liberalen Ruf. Jüdische Badegäste bevorzugten darum die ostfriesischen Insel, so dass Norderney bis 1933 als sogenanntes Judenbad über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt war.

Geschichte der Juden auf Norderney

18. Jahrhundert bis 1919

Jüdische Gemeinden in Ostfriesland vor 1938

Norderney wurde 1797 das erste deutsche Nordseeheilbad. Seit 1820 sind auf der Insel auch jüdische Badegäste nachzuweisen.[1] Norderney war keine eigene Synagogengemeinde. Die dort lebenden Juden waren Teil der Synagogengemeinde in Norden. Schon vor dem Ersten Weltkrieg galt Norderney als reiches Judenbad, während von Borkum und anderen Inseln ein Antisemitismus ausging, der sich um 1900 unter anderem im Borkumlied manifestierte. Dort heißt es:

Borkum, der Nordsee schönste Zier,
bleib du von Juden rein,
laß Rosenthal und Levinsohn
in Norderney allein.

In dieselbe Kerbe schlägt das Wangerooger Judenlied. Dieses endet mit dem Refrain:

Und tausendstimmig schallet unser Schrei:
Der Jud' muss 'raus, er muss nach Norderney

Die anderen Nordseebäder wurden erst später zu solchen und versuchten sich durch ihren Antisemitismus (zunächst sozusagen als Alleinstellungsmerkmal, das dann später immer deutlicher werden musste, da die anderen Inseln nachzogen) von Norderney abzuheben.

Allein Norderney besaß einen eher liberalen Ruf und wurde so immer mehr zu einem beliebten Badeort für jüdische Urlauber, unter ihnen prominente Gäste wie Heinrich Heine, Franz Kafka, Felix Nussbaum und Sergei Michailowitsch Eisenstein. Antisemitische Äußerungen waren hier selten. Durch die vielen jüdischen Badegäste ließen sich, im Gegensatz zum übrigen Ostfriesland, mehr Juden auf der Insel nieder, um den Badegästen eine jüdische Infrastruktur zu bieten. 1840 erhielt der Zuckerbäcker David Bentix die Erlaubnis, während der Saison eine koschere Garküche zu führen, wenig später gab es auch einen Schlachter, der in seinem Haus einen Raum als Betstube zur Verfügung stellte.[2] Da Norderney ein landesweit bekanntes Seebad der gehobenen Klasse geworden war und in der Saison auch der Hochadel zu seinen Gästen zählte, zog es Badegäste aus wohlhabenden, gutbürgerlichen Kreisen an. In diesen Schichten waren jüdische Unternehmer stark vertreten, sodass auf Norderney viele „neureiche“ Badegäste weilten.[3]

Die Norderneyer Synagoge um 1880

Ab 1877 gab es Bestrebungen, für die auf der Insel lebenden und zu Besuch weilenden Gäste eine Synagoge zu errichten. Dies wurde von der zuständigen Finanzdirektion in Hannover jedoch abgelehnt, indem diese sich weigerte, ein Grundstück unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Um dennoch eine Synagoge auf der Insel errichten zu können, wurde ein Verein gegründet. In einem Brief des Amtshauptmanns in Norden an die Königliche Landdrostei in Aurich vom 17. Oktober 1877 heißt es dazu: „1877 gründete sich ein Comitee, welches die Erbauung eines jüdischen Tempels auf Norderney befördert und an dessen Spitze ein Kaufmann M. Bargebuhr aus Harburg sowie ein Dr. phil Rosin in Breslau steht, mittels Kauf in den Besitz eines privaten Grundstücks gelangt sei. auf welchem der Bau zur Ausführung gelangen soll“.[4] Die letzte Hürde für die Genehmigung wurde mit der Erklärung genommen, dass mit dem Synagogenbau nicht zugleich eine eigenständige Synagogengemeinde geplant sei und der Unterhalt der Synagoge durch den Verein gesichert sei. 1878 wurde die Synagoge dann schließlich auf Sondererlass des Kaisers Wilhelm I. erbaut. Architekt des Gebäudes war der aus Hannover stammende Baurat Edwin Opler. Geöffnet war die neue Synagoge nur in den Sommermonaten, im Winter wurde weiterhin das private Bethaus genutzt. Bis 1933 diente diese Synagoge den jüdischen Badegästen als Gebetsraum.

Wie sehr die jüdischen Badegäste im Straßenbild der Insel gegenwärtig waren, verdeutlicht sich in einem Brief Theodor Fontanes, den er 1881 von der „Judeninsel“ Norderney nach Hause sandte: „Fatal waren die Juden; ihre frechen, unschönen Gaunergesichter (denn in Gaunerei liegt ihre ganze Größe) drängen sich einem überall auf. Wer in Rawicz oder Meseritz ein Jahr lang Menschen betrogen oder wenn nicht betrogen, eklige Geschäfte besorgt hat, hat keinen Anspruch darauf, sich in Norderney unter Prinzessinnen und Comtessen mit herumzuzieren.“[5]

Für Norderney waren die jüdischen Badegäste jedoch von großer Bedeutung. 1896 findet sich eine Nachricht in Im deutschen Reich, der Zeitung des Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens: „Dem weiteren Aufschwung unseres herrlichen Nordseebades wird es höchst förderlich sein, daß sich neuerdings auch das Nordseebad Amrum als ein ‚deutschnationales‘ in antisemitischen Blättern feiern lässt“.[6] 1901 schreibt C. W. Posen in der gleichen Zeitung: „Gehen Sie ruhig wieder nach Norderney, welches im Verhältnis zu anderen Nordseebädern durchaus nicht theuer ist, wenn man den dafür gehobenen Comfort in Abschlag nimmt. Die angeblich billigeren ‚judenreinen‘ Nordseebäder können den Vergleich damit nicht aushalten'“.[7]

Weimarer Republik

In der Weimarer Republik erreichte der Bäder-Antisemitismus seinen Höhepunkt. Juden waren auf den anderen ostfriesischen Inseln nicht mehr erwünscht, was zur Folge hatte, dass auf Norderney der Anteil jüdischer Badegäste in den zwanziger Jahren auf 50 Prozent stieg. Im Juli 1924 erwähnten mehrere jüdische Bürger der Insel gegenüber dem Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, dass sich der Antisemitismus auch auf Norderney breitzumachen beginne. Sie baten jedoch darum, die Angelegenheit möglichst in kleinem Rahmen zu besprechen, um die Ressentiments nicht noch weiter zu schüren. Daraufhin erkundigte sich Dr. Alfred Wiener vom Centralverein beim Führer des örtlichen Stahlhelm-Verbandes, wie der örtliche Verband zur Entscheidung des Bundesverbandes stehe, im Stahlhelm keine Juden aufzunehmen. Der Stahlhelm-Führer Schlichthorst beteuerte, dass er kein Antisemit sei, und drehte den Vorwurf gegen die Opfer: Es seien die Juden selbst, die durch unnötige Polemik den Frieden störten und den in Norderney bislang unbekannten Antisemitismus großzögen.[8] Dennoch waren jüdische Badegäste bis 1933 auf der Insel willkommen, und das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden galt als problemlos.[9]

1933 bis 1941

Nach 1933 verschlechterte sich die Situation für Juden auch auf der Insel. Neuer Bürgermeister der Insel wurde Anfang Juli 1933 auf Weisung des Gauleiters Weser-Ems Carl Röver der Gerichtsreferendar Bruno Müller. Müller war 1905 als Sohn eines Eisenbahnbeamten in Straßburg geboren worden und hatte sein Abitur in Oldenburg absolviert, nachdem seine Familie das Elsass 1919 wegen ihrer deutschen Abstammung verlassen hatte. Im Alter von 26 Jahren trat Bruno Müller 1931 der NSDAP bei. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften und der Promotion zum Dr. jur. war er 1933/34 Bürgermeister auf der Nordseeinsel Norderney, „zur Beordnung der dortigen Verhältnisse“, wie er später in einem Lebenslauf schrieb. Als Bürgermeister und kommissarischer Leiter der Badeverwaltung hatte er dafür die nötigen Mittel in der Hand.[8]

Die Inselverwaltung unternahm unter seiner Oberaufsicht große Anstrengungen, die Insel vom Makel des Judenbades zu befreien. Die Zeitung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens berichtet am 14. Dezember 1933, dass die Kurverwaltung auf der Nordseeinsel Norderney Briefverschlussmarken habe drucken lassen mit der Aufschrift: „Nordseebad Norderney ist judenfrei!“. Zugleich seien von der Kurverwaltung Schreiben an jüdische Zeitungen gesandt worden, in denen es u. a. hieß, „dass jüdische Kurgäste auf Norderney nicht erwünscht sind. Sollten Juden trotzdem versuchen, im kommenden Sommer in Norderney unterzukommen, so haben sie selbst die Verantwortung zu tragen. Bei vorkommenden Reibereien müsste die Badeverwaltung im Interesse des Bades und der anwesenden deutschen Kurgäste die anwesenden Juden sofort von der Insel verweisen.“[10] Im August 1933 berichtete die Norderneyer Badezeitung von einem jüdischen Kurgast, der von anderen Kurgästen wegen Rasseschändung denunziert wurde, weil er mit einem Christenmädel zwei durchgehende Zimmer teilte. Polizei und SA fielen daraufhin nachts über den Mann her und nahmen ihn zwei Jahre vor Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze in Schutzhaft. Die Norderneyer Bäderzeitung forderte Konzentrationslager sowie Todesstrafe für den Mann und schrieb weiter: „Dem nächsten Juden, der hier in gleicher Weise gefaßt würde, könnte es passieren, daß er hier am hellichten Tage einen unfreiwilligen Spaziergang machen müßte, geschmückt mit einem Plakat, auf welchem Name, Adresse und Tatbestand seiner Handlungsweise kurz jedermann mitgeteilt würde.“[11]

Ab 1937 hatten die Juden mit zahlreichen Einschränkungen, Reglementierungen und Schikanen zu leben, bis um 1938/1939 ihre vollständige Verbannung aus Erholungsorten folgte.

Die Synagoge, in der seit 1933 kein Gottesdienst mehr stattfand, wurde am 11. Juli 1938 an einen Norderneyer Eisenwarenhändler für 3500 Reichsmark unter der Bedingung verkauft, alle Hinweise auf die Synagoge zu entfernen. Der Umbau zum Lagerraum fand erst nach den Novemberpogromen 1938 statt, und so verblieb zunächst noch der Davidstern am Giebel. Die Synagoge selbst blieb von den Aktionen in Zusammenhang mit den Novemberpogromen verschont, doch sollen SA-Männer versucht haben, den Davidstern aus dem Giebel zu entfernen, was aber nicht gelang. Am 10. November trieb die SA die Juden der Insel zusammen und führte sie an einen umzäunten Ort vor dem heutigen Haus der Insel. Dort mussten sie den ganzen Tag stehend verbringen. Abends konnten sie nach Hause gehen und wurden, im Unterschied zu den anderen Juden Ostfrieslands, nicht deportiert, da der SA vorort die Weisung dazu fehlte. Dennoch verließen die meisten Juden in den folgenden Monaten die Insel. Die letzten verbliebenen Juden waren zwei Frauen, die mit Nicht-Juden verheiratet waren. Sie verließen Norderney spätestens im April 1941.

Nach 1945

Von den früheren jüdischen Einwohnern kehrte nur eine Frau nach Norderney zurück, verzog zwischenzeitlich nach Augsburg und verbrachte ihre letzten Lebensjahre wieder auf Norderney. Die Stadt Norderney tat sich lange schwer mit der Erinnerung an die jüdische Vergangenheit. 1988 wurde zum 50. Jahrestag der Pogromnacht im Haus der Insel eine Gedenktafel angebracht, auf welcher mit den Worten

Zum Gedenken
an die jüdischen Mitbürger
der Stadt Norderney
die durch nationalsozialistischen Terror eines gewaltsamen
Todes sterben mußten oder vertrieben wurden
Den Lebenden zur Mahnung
9. 11. 1988
Der Rat der Stadt Norderney

an die jüdischen Bewohner Norderneys erinnert werden soll.

Das Gebäude der ehemaligen Synagoge wurde nach 1945 als Diskothek, argentinisches Steakhaus und später als italienisches Restaurant genutzt. Heute befindet sich in dem Gebäude ein Restaurant für regionale Spezialitäten.[12] Einzig die seitliche Mauer auf der Nordseite des Gebäudes ist im ursprünglichen Zustand geblieben. Ansonsten ist das Gebäude baulich stark verändert worden. Erst 1996 wurde auf Anregung der Evangelischen Jugend von Norderney an der Fassade des Gebäudes eine Gedenktafel angebracht.[13] Diese trägt die Inschrift:

Ehemalige Synagoge (1878–1933)
Dieses Gebäude wurde als Bethaus für jüdische
Bürger und Gäste errichtet. Im Juli 1938
verkauft entging es der Zerstörung in der Pogromnacht
vom 9. November des Jahres

Zur Erinnerung und zum Gedenken.

Mittlerweile wurde vom Stadtarchiv Norderney auch eine Ausstellung zum Thema Juden auf Norderney konzipiert, mit der erstmals jüdisches Leben, der Beitrag von Juden an der Entwicklung des Nordseebades sowie die Maßnahmen der Ausgrenzung und Vernichtung des Judentums auf Norderney einer größeren Öffentlichkeit präsentiert werden.[1]

Gemeindeentwicklung

Norderney war keine eigene Synagogengemeinde. Die dort lebenden Juden waren Teil der Synagogengemeinde in Norden. Aufgrund seiner Bedeutung als Judenbad siedelten sich jedoch immer mehr Juden auf Norderney an. So stieg ihr Bevölkerungsanteil im Unterschied zum übrigen Ostfriesland bis 1925 an.

Jahr Gemeindemitglieder
1867 6 Personen
1871 9 Personen
1885 31 Personen
1895 35 Personen
1905 35 Personen
1925 88 Personen1
1933 28 Personen
1935 9 Personen
1939 3 Personen
1941 1 Person
1 Die Zählung erfolgte nicht wie sonst üblich im Dezember, sondern zu Beginn der Badesaison. Die tatsächliche Zahl der dauerhaft auf Norderney lebenden Juden dürfte geringer gewesen sein.

Gedenkstätten

  • Gedenktafel am Gebäude der ehemaligen Synagoge, Schmiedestraße 6
  • Gedenktafel im Haus der Insel

Literatur

Fußnoten

  1. 1,0 1,1 Juden auf Norderney. Förderverein Museum Nordseeheilbad Norderney e.V.. Abgerufen am 28. Mai 2009.
  2. Herbert Obenaus (Hrsg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen. ISBN 3-89244-753-5, S. 1130
  3. Ingeborg Pauluhn: Zur Geschichte der Juden auf Norderney. Von der Akzeptanz zur Desintegration. mit Dokumenten und historischen Materialien. Oldenburg 2003. 240 Seiten. ISBN 3-89621-176-5, S. 27
  4. STAA, Rep. 15 12626
  5. Zitiert nach: Wolfgang Benz: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus, C. H. Beck Verlag, München 2001, ISBN 978-3-406-47575-7
  6. Anonym, In: Im deutschen Reich, Jg. 2 (1896) Nr 7, S. 397–398
  7. C. W. Posen, In: Im deutschen Reich, Jg. 7 (1901) Nr 5, S. 302–303
  8. 8,0 8,1 Michael Wildt: Der muß hinaus! Der muß hinaus!- Antisemitismus in deutschen Nord- und Ostseebädern 1920–1935, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Band 4, 2001
  9. Das Ende der Juden in Ostfriesland, Katalog zur Ausstellung der Ostfriesischen Landschaft aus Anlaß des 50. Jahrestages der Kristallnacht, Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1988, ISBN 3-925365-41-9
  10. Frank Bajohr, Unser Hotel ist judenfrei. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2003, S. 117.
  11. Das Ende der Juden in Ostfriesland, a. a. O., S. 64
  12. Restaurant de Leckerbeck auf Norderney - Die Geschichte
  13. Ingeborg Pauluhn: Zur Geschichte der Juden auf Norderney. Von der Akzeptanz zur Desintegration. mit Dokumenten und historischen Materialien. a. a. O., S. 49
53.7072222222227.1469444444444
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