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Lyssenkoismus

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Der Lyssenkoismus war eine von dem sowjetischen Agrarwissenschaftler Trofim Lyssenko in den 1930er Jahren begründete pseudowissenschaftliche Theorie, die unter anderem an den Lamarckismus anknüpfte. Das zentrale Postulat des Lyssenkoismus lautete, dass die Eigenschaften von Kulturpflanzen und anderen Organismen nicht durch Gene, sondern nur durch Umweltbedingungen bestimmt würden. Das war schon damals mit dem Stand der Wissenschaft in keiner Weise zu vereinbaren.

Lyssenko gewann jedoch in der stalinistischen Sowjetunion vor allem zwischen 1940 und 1964 eine tonangebende Stellung, da es ihm gelang, den Diktator Josef Stalin als Förderer zu gewinnen. Schwere Ernteeinbußen wurden angeblichen Saboteuren zugeschrieben. Damit verbunden war ein Feldzug gegen die sogenannte „faschistische“ oder „bourgeoiseGenetik sowie gegen jene Biologen, die sich mit dieser Disziplin befassten.

Lyssenkos Aufstieg

Lyssenko (links) während einer Rede 1935 im Kreml, rechts oben Stalin

Im Jahre 1931 verabschiedete das Zentralkomitee der KPdSU eine Resolution, wonach innerhalb weniger Jahre alle in der UdSSR angebauten Getreidearten in vielfältiger Weise verbessert und zugleich an alle Anbaugebiete angepasst werden sollten.[1] Dieser Plan war aus wissenschaftlicher Sicht unsinnig und selbst in einer viel längeren Zeitspanne nicht erfüllbar. Auf der Konferenz der Sowjetischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften 1936 trat jedoch der Agrarwissenschaftler Trofim Denissowitsch Lyssenko auf, der damals am Allunionsinstitut für Genetik und Zuchtverfahren in Odessa tätig war, und kündigte an, die veranschlagten Ziele mittels unkonventioneller Methoden in sehr kurzer Zeit erreichen zu können. Lyssenko verwarf die herrschende Lehre in der Genetik und behauptete, es gebe gar keine Gene und man könne verschiedene Getreidesorten durch geeignete Kulturbedingungen ineinander umwandeln. Dabei genoss er die persönliche Unterstützung des Diktators Josef Stalin, der ihn öffentlich lobte und protegierte.

Schon 1938 wurde Lyssenko zum Präsidenten der Akademie für Landwirtschafts-Wissenschaften ernannt, und seine Thesen erlangten bald allgemeine Gültigkeit in der Sowjetunion, während kritische Stimmen – wie allgemein in jener Phase des Stalinismus – massiv unterdrückt wurden und kaum zur Geltung kamen. Zu den zentralen Themen des Lyssenkoismus gehörte neben der Veränderung von Getreidesorten durch spezielle Kulturbedingungen auch die „Artumwandlung“, bei der ebenfalls durch bestimmte Kulturbedingungen etwa aus Weizenkörnern Roggenpflanzen hervorgehen sollten.[2] Wichtig war auch die Technik, insbesondere Baum-Setzlinge in „Nestern“ eng beieinander auszupflanzen, damit im Zuge der „Selbstausdünnung“ nur die besten überlebten und die übrigen sich „opferten“. Darüber hinaus propagierte Lyssenko besondere Düngermischungen wie etwa die Kombination von Superphosphat und Kalk, die wirkungslos ist, weil diese beiden Substanzen sich zu unlöslichem Calciumphosphat verbinden.

Die sowjetischen Massenmedien stellten Lyssenko als ein Genie dar, das die Landwirtschaft revolutionierte. Die Propaganda liebte es, Geschichten von einfachen Bauern groß herauszubringen, die durch ihre Geschicklichkeit und Erfahrung praktische Probleme lösten. Lyssenko genoss diese Aufmerksamkeit der Medien und nutzte sie, um Genetiker anzuschwärzen und seine eigenen Ideen zu verbreiten. Wo er sich in der Fachwissenschaft nicht durchsetzen konnte, half ihm die Propaganda: Lyssenkos Erfolge wurden übertrieben und die Misserfolge totgeschwiegen. Er führte selten kontrollierte Experimente durch, denn hauptsächlich verließ er sich auf Fragebögen von Bauern, mit denen er zum Beispiel „bewies“, dass die von ihm propagierte Vernalisation die Weizenerträge um 15 % erhöhen würde.

Lyssenkos politischer Erfolg beruhte erheblich auf seiner Herkunft als Bauernkind. Die meisten Biologen stammten aus dem Bürgertum, welches seit der Oktoberrevolution ideologisch suspekt war: Arbeiter und Bauern sollten die herrschende Schicht stellen. Obendrein war Lyssenko begeisterter Anhänger Stalins und seines Systems.

Lyssenko hatte schnell „Lösungen“ für aktuelle Probleme parat. Wann immer die Kommunistische Partei gerade entschieden hatte, eine neue Getreidesorte zu verwenden oder neues Agrarland zu erschließen – Lyssenko tauchte mit praktischen Ratschlägen auf. Er entwickelte seine Ideen – die Vernalisation, das Blätterabschneiden bei Baumwollpflanzen, die gruppenweise Anpflanzung von Bäumen bis hin zu merkwürdigen Düngermischungen – in einem so hohen Tempo, dass die akademischen Wissenschaftler kaum Zeit hatten, diese teilweise unnützen und oftmals gefährlichen Lehren zu untersuchen und gegebenenfalls zu widerlegen.

Konsequenzen für die Sowjetunion und die Wissenschaft

Die staatlich gelenkte Presse applaudierte Lyssenkos „praktischen Fortschritten“ und zog die Motive seiner Kritiker in Zweifel. Schließlich wurde er von Stalin zu seinem persönlichen Landwirtschaftsberater ernannt – eine Position, die Lyssenko dafür nutzte, Biologen als „Fliegen-Liebhaber und Menschenhasser“ zu denunzieren. Außerdem setzte er die Hetze gegen „Saboteure“ fort, die angeblich vorhatten, die Wirtschaft der UdSSR zu ruinieren. Sabotage war ein Straftatbestand in der Sowjetunion.[3] Lyssenko bestritt – wie auch die Partei – jeden Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Biologie.

Die Missernten der sowjetischen Landwirtschaft in den 1930er Jahren beruhten zum großen Teil darauf, dass viele Bauern die Kollektivierungspolitik ablehnten. Lyssenkos Methoden boten einen Weg, die Bauern aktiv am Ernteerfolg und an der „Landwirtschaftsrevolution“ teilnehmen zu lassen. Für die Parteifunktionäre war ein Bauer, der – für welchen Zweck auch immer – Getreide ansäte, nützlich, im Gegensatz zur vorher verbreiteten Praxis, Getreide zu zerstören, um es nicht dem Staat zu überlassen.

Die akademischen Wissenschaftler dagegen konnten keine einfachen oder sofort umsetzbaren Neuerungen vorschlagen, und so erlangte die Scharlatanerie Lyssenkos bei der KPdSU einen guten Ruf. Dieser Ruf breitete sich auch über die Grenzen der Sowjetunion in anderen kommunistischen Parteien aus, wo Lyssenkos Thesen zeitweise herrschende Doktrin wurden.

Eine eigene Wissenschaft Lyssenkos existierte niemals. Er kopierte die Ideen Iwan Mitschurins und wendete eine Art Lamarckismus an. Die Pflanzen, so Lyssenko, wechselten ihre Gestalt durch Hybridisierung, Pfropfung und andere nicht-genetische Techniken. Ein Grund für Lyssenkos Erfolg in der Sowjetunion wird darin gesehen, dass nach damaliger marxistischer Auffassung erbliche Einflüsse auf die menschliche Entwicklung minimal waren. Vorstellungen wie Erblichkeit oder Eugenik lehnte Lyssenko als bourgeoisen Einfluss auf die Wissenschaft ab, der in der Diktatur des Proletariats bekämpft werden musste.

Der Lyssenkoismus war – wie die Japhetitentheorie Nikolai Jakowlewitsch Marrs in der Linguistik – ein Auswuchs des Umstandes, dass ein pseudowissenschaftlicher Ansatz aus ideologischen Gründen in einer totalitären Diktatur mit allen Mitteln gefördert wurde.

Verfolgung der Wissenschaftler und nachfolgende Entwicklung

Die zunächst noch offenen Auseinandersetzungen zwischen den Genetikern und den Anhängern Lyssenkos wurden entschieden, als die Genetiker durch den „Großen Terror“ 1937 sämtliche Fürsprecher in der Politik verloren. Daraufhin wurden auch viele Wissenschaftler (u. a. Solomon Levit, Grigori Lewizki, Isaak Agol, Georgi Nadson) verhaftet und unter dem Vorwand liquidiert, mit „Feinden des Volkes“ zu kooperieren.[4][5][6] Andere Genetiker wurden durch Rufschädigung von ihren Stellen verdrängt. Zu den wenigen Forschungszentren der Genetiker, die sich etwas länger halten konnten, gehörten das von Nikolai Kolzow, der 1940 vergiftet wurde[5], sowie das Institut von Nikolai Wawilow. Wawilow wurde 1940 verhaftet und starb drei Jahre später im Gefängnis.

Genetik wurde als eine „faschistische und bourgeoise Wissenschaft“ bezeichnet. 1948 wurde die Genetik schließlich offiziell zur „bourgeoisen Pseudowissenschaft“ erklärt – daraufhin wurden alle verbliebenen Genetiker entlassen oder eingesperrt. Auch Evolutionsbiologen wie Iwan Schmalhausen wurden ihrer Ämter enthoben.

Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow stand Lyssenko kritischer gegenüber, unterstützte ihn jedoch weiter. 1962 wurden seine wissenschaftlichen Fehlinterpretationen und Fälschungen durch prominente Naturwissenschaftler kritisiert, woraufhin er 1962 als Präsident der Lenin-Landwirtschaftsakademie abgesetzt wurde. Aber erst nach Chruschtschows Sturz im Oktober 1964 konnten Lyssenkos Irrlehren als solche bezeichnet und verworfen werden.[2] 1965/66 wurde der Biologie-Unterricht in der Sowjetunion ausgesetzt, um neue Lehrpläne entwickeln und die Lehrer umschulen zu können.

Heute bezeichnet man mit dem Begriff „Lyssenkoismus“ in einem breiteren Sinn auch allgemein die politische Förderung pseudo- oder unwissenschaftlicher Thesen und die Behinderung der freien Wissenschaftsentfaltung durch die Politik.[7]

Versuche der Rehabilitierung im 21. Jahrhundert

Seit der zweiten Hälfte der 2000er Jahre erlebt der Lyssenkoismus in Russland eine Renaissance. Zunächst fachfremde Autoren, inzwischen auch Biologen, veröffentlichen Texte, in denen die pseudowissenschaftliche Lehre verteidigt und z. T. in die Nähe der Epigenetik gerückt wird. Dies ist allerdings nicht korrekt, da bei der Epigenetik die Gene als solche nicht verändert werden.

Die Renaissance des Lyssenkoismus steht im Kontext einer Sehnsucht nach vergangener Größe[8] und zunehmender Sympathien für Stalin und einer Glorifizierung der Zeit seiner Herrschaft. Lyssenko wird als Patriot hingestellt, der als Wissenschaftler seiner Zeit voraus gewesen sei, und seine Gegner, insbesondere Wawilow, als Handlanger des Westens und Volksverräter. Das Thema hat in jüngster Zeit auch in renommierten Zeitungen wie der Literaturnaja Gaseta Aufmerksamkeit gefunden, wobei naturwissenschaftliche Fakten allerdings kaum zur Sprache kommen. Vor allem aber sei es gemäß einer Studie von Uwe Hoßfeld auch ein Problem der sozialen Medien, wo Fakten und ernsthafte Wissenschaft ohnehin keine Rolle spielten. Eines der einschlägigen Bücher mit dem Titel Dva mira, dve ideologii (Zwei Welten, zwei Ideologien) wurde gar von der staatlichen Bundesstelle für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit gefördert.[9][10]

Literatur

Einzelnachweise

  1. Peter von Sengbusch: Einführung in die Allgemeine Biologie, 2. Aufl. Springer 1977, S. 148
  2. 2,0 2,1 Sengbusch, S. 149.
  3. Siehe Wrecking (Soviet Union) (engl. WP).
  4. Nikolai Krementsov: Stalinist Science. Princeton University Press, 1997.
  5. 5,0 5,1 Valery N. Soyfer: The consequences of political dictatorship for Russian science Nat Rev Genet 2, 2001, S. 723–729.
  6. Nikolai Krementsov: A “second front” in Soviet genetics: The international dimension of the Lysenko controversy, 1944–1947. Journal of the History of Biology 29 (1996).
  7. Bruce Sterling, Artikel Suicide by Pseudoscience, in: Wired 12.06 (Juni 2004), abgerufen am 6. Oktober 2013.
  8. Was die Stalin-Nostalgie in Russland für kuriose Blüten treibt. In: Philippinen: Pressefreiheit unter Druck. SRF, Kultur Kompakt, 22. Januar 2018
  9. Universität Jena: Lyssenkoismus in Russland: Ein Zombie kehrt zurück. Abgerufen am 11. Oktober 2017. (deutschsprachige Zusammenfassung)
  10. Edouard I. Kolchinsky, Ulrich Kutschera, Uwe Hoßfeld, Georgy S. Levit: Russia’s new Lysenkoism. In: Current Biology. 27, Nr. 19, 2017-10-09 ISSN 0960-9822, S. R1042–R1047, doi:10.1016/j.cub.2017.07.045, PMID 29017033. (Volltext online)
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