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Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch

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„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ ist eine Aussage Theodor W. Adornos aus seinem Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft, der im Jahr 1949 geschrieben und 1951 erstmals veröffentlicht wurde. Der Satz wurde unterschiedlich interpretiert: er wurde als generelles Verdikt gegen jegliche Dichtung nach dem Holocaust, als konkretes Darstellungsverbot von Gedichten über Auschwitz und die Konzentrationslager oder als bloßes provokatives Diktum verstanden. Sein Urteil über die Lyrik wurde auf die Literatur oder die Kunst im Allgemeinen erweitert.[1]

Adorno erklärte und modifizierte die Aussage mehrfach, späte Äußerungen wurden als Revision oder Widerruf der ursprünglichen These verstanden. Dabei nahm die Öffentlichkeit überwiegend nur die verkürzte Aussage wahr: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Der Satz wurde über Jahrzehnte hinweg von Philosophen, Literaturwissenschaftlern und Schriftstellern kontrovers diskutiert und rief den Widerstand von Lyrikern auf den Plan, die in Gegenthesen oder mit ihren Werken reagierten. Die Auseinandersetzung um Adornos Satz wurde für Robert Weninger „zum vielleicht wichtigsten Drehpunkt des ästhetischen Diskurses der Nachkriegszeit“.[2] Laut Günther Bonheim gibt es „innerhalb der deutschen Literaturgeschichte wahrscheinlich keine zweite Aussage über Literatur, die eine solche Bekanntheit erlangt hat wie diese.“[3]

Adornos Aussagen

Die These „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ entstammt dem Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft, den Theodor W. Adorno 1949 schrieb und 1951 erstmals im Rahmen einer Festschrift für den Soziologen Leopold von Wiese veröffentlichte. Der vollständige Satz aus Kulturkritik und Gesellschaft lautet:

„Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“

Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft[4]

Dabei greift die so genannte „Dialektik von Kultur und Barbarei“ eine These Adornos und Max Horkheimers aus ihrem gemeinsamen Werk Dialektik der Aufklärung auf, nach der die Kultur auf ihrem Höchststand von Zivilisation und Aufklärung in die Verdinglichung des Menschen und somit in Barbarei und Totalitarismus umzuschlagen drohe, wofür gerade auch der Nationalsozialismus als Beispiel dienen könne.[2] In Kulturkritik und Gesellschaft bekundet Adorno nach der Erfahrung des Holocausts ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der gesamten Kultur inklusive der Kulturkritik. Auch die Kulturkritik teile „mit ihrem Objekt dessen Verblendung“ und lenke vom eigentlichen Grauen ab. Insofern müsse eine dialektische Kulturkritik an der Kultur „teilhaben und nicht teilhaben“. Dies führt zu dem widersprüchlichen Urteil, dass einerseits Gedichte nach Auschwitz „barbarisch“ seien, gleichzeitig aber auch die Kritik an ihnen fragwürdig ist.[5]

Im 1962 erschienen Essay Jene zwanziger Jahre kehrt Adorno vor dem Hintergrund einer künstlerischen Wiederkehr der 1920er Jahre zu der Frage einer Kultur nach Auschwitz zurück und beschreibt eine „gegenwärtige kulturelle Aporie“, während er sich erstmals für den Fortbestand einer Kunst nach Auschwitz ausspricht:

„Der Begriff einer nach Auschwitz auferstandenen Kultur ist scheinhaft und widersinnig, und dafür hat jedes Gebilde, das überhaupt noch entsteht, den bitteren Preis zu bezahlen. Weil jedoch die Welt den eigenen Untergang überlebt hat, bedarf sie gleichwohl der Kunst als ihrer bewußtlosen Geschichtsschreibung. Die authentischen Künstler der Gegenwart sind die, in deren Werken das äußerste Grauen nachzittert.“

Theodor W. Adorno: Jene zwanziger Jahre[6]

Im gleichen Jahr erklärt Adorno im Essay Engagement sein Urteil über die Dichtung nach Auschwitz:

„Den Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch, möchte ich nicht mildern; negativ ist darin der Impuls ausgesprochen, der die engagierte Dichtung beseelt.“

Theodor W. Adorno: Engagement[7]

Zwar erkennt Adorno die Entgegnung Hans Magnus Enzensbergers an, „die Dichtung müsse eben diesem Verdikt standhalten“, sowie die Notwendigkeit einer künstlerischen Bewahrung: „Das Übermaß an realem Leiden duldet kein Vergessen.“ Gleichzeitig berge die künstlerische Umsetzung jedoch das Gefahr einer ästhetischen Stilisierung hin zu einem „Genuß“ und einem „Sinn“: „es wird verklärt, etwas von dem Grauen weggenommen; damit allein schon widerfährt den Opfern Unrecht, während doch vor der Gerechtigkeit keine Kunst standhielte.“[8]

1966 hingegen in einer Passage aus Negative Dialektik revidiert Adorno seine These teilweise:

„Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen, darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen.“

Theodor W. Adorno: Negative Dialektik[9]

Allerdings beharrt Adorno, Auschwitz habe „das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen.“: „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.“ Mit ihrer Unterstützung mache man sich zum Helfershelfer, mit ihrer Verweigerung befördere man die Barbarei. „Nicht einmal Schweigen kommt aus dem Zirkel heraus; es rationalisiert einzig die eigene subjektive Unfähigkeit mit dem Stand der objektiven Wahrheit und entwürdigt dadurch diese abermals zur Lüge.“[10]

Später erklärte Adorno, seine Aussage „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ sei nicht als Verbot gemeint gewesen und ziele nicht bloß auf Gedichte sondern Kultur im Generellen, wobei er dem Leiden das „Recht auf Ausdruck“ zubillige. Kunst bleibe nötig als der „geschichtliche Sprecher unterdrückter Natur“.[11] In seiner Ästhetischen Theorie von 1972 stellt er sich gegen jedes Verbot der Kunst, jedes totalitäre Verdikt und urteilt etwa über Paul Celan, in dessen Werken er ebenso sein Ideal einer Kunst verwirklicht sieht wie bei Samuel Beckett und Franz Kafka:

„Diese Lyrik ist durchdrungen von der Scham der Kunst angesichts des wie der Erfahrung so der Sublimierung sich entziehenden Leids. Celans Gedichte wollen das äußerste Entsetzen durch Verschweigen sagen. Ihr Wahrheitsgehalt selbst wird ein Negatives.“

Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie[12]

Diskurs

Als Adorno diese „apodiktische Formulierung“ prägte, die sich zum „Topos der Literaturtheorie, zumal der Kritischen“ [13] entwickeln sollte, gab es bereits „Gedichte über Auschwitz“ wie Paul Celans Todesfuge, den 1949 veröffentlichten Zyklus In den Wohnungen des Todes von Nelly Sachs oder das 1945 entstandene Gedicht Armer Christ sieht das Ghetto von Czesław Miłosz, die Adorno vermutlich nicht gekannt hatte. Offenbar sind es genau solche Gedichte gewesen, die ihn später an seinem eigenen Urteil zweifeln ließen. „Der Satz aus Kulturkritik und Gesellschaft, so abschließend, ja endgültig er auch formuliert sein mag, stellt tatsächlich eher den Beginn von Adornos Nachdenken über Lyrik nach dem Holocaust dar“, meinte Dieter Lamping. [14]

Der Beginn der kritischen Auseinandersetzung mit Adornos Darstellungsverbot, das Wolfdietrich Schnurre als „niederknüppelndes Verdikt“ bezeichnete,[15] ist nach Lamping auf Hans Magnus Enzensbergers Rezension Die Steine der Freiheit von Gedichten der Nelly Sachs zurückzuführen. Enzensberger mahnte eine Widerlegung von Adornos Ausspruch an. In ihren Gedichten gebe es keine Sprache für die Henker, Mitwisser und Helfershelfer, vielmehr sprächen die Gedichte von dem, „was Menschengesicht hat, von den Opfern“[16] In einer Auseinandersetzung mit Enzensbergers Argumenten wollte Adorno seine Aussage zwar nicht „mildern“, gestand jedoch ambivalent differenzierend zu: „Aber jenes Leiden […] erheischt auch die Fortdauer von Kunst, die es verbietet; kaum woanders findet das Leiden noch seine eigene Stimme, den Trost, der es nicht sogleich verriete“. [17]

Celans Todesfuge

Insbesondere Celans bekanntes Gedicht Todesfuge, in den Jahren 1944 bis 1945 entstanden und 1947 erstmals veröffentlicht, wurde „zum Brennpunkt“ von Adornos Wort, das nach Ruth Klüger in einem Kontext zu sehen ist, in dem „über das dialektische Verhältnis von Kultur und Barbarei gehandelt wird“.[18] Die über zwei Jahrzehnte währende Klärung der Position Adornos begleitet die Erschließungsgeschichte von Celans Gedicht.[19] Celan selbst hatte Adornos These von sich gewiesen: „Was wird hier als Vorstellung von Gedicht unterstellt? Der Dünkel dessen, der sich untersteht hypothetisch-spekulativerweise Auschwitz aus der Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive zu betrachten oder zu berichten“.[20] Mit ähnlicher Schärfe reagierte Wolfdietrich Schnurre [21]: „Haben die ich-bezogenen Gedichte des Andreas Gryphius den Greueln des Dreißigjährigen Krieges standgehalten oder nicht. Sie haben ihnen ebenso standgehalten, wie Celans Todesfuge den Akten des Frankfurter Auschwitz-Prozesses standhält“. Die menschliche Sprache sei nicht zum Verstummen, „sie ist zum Sprechen gedacht“. Hilde Domin, Marie Luise Kaschnitz, Ernst Meister[22], Ruth Klüger[23] und weitere Stimmen betonten die Legitimation ihres Dichtens und die tröstende Kraft der Sprache. Auch Celan bekannte sich entgegen dem Diktum Adornos in seiner Bremer Literaturrede (1958) zur Macht der Sprache: „Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache blieb unverloren, ja, trotz allem.“ Als Adorno sein Verdikt zurücknahm, geschah dies auch „unter dem Eindruck vor allem der Holocaust-Lyrik Celans“.[24]

Spätere Bewertungen

Peter Härtling schränkte im Hinblick auf Adornos These 1967 ein: „Nach Auschwitz sind Gedichte geschrieben worden, über Auschwitz nicht; auch Celans Todesfuge paraphrasiert nur unvergleichlich das Echo der Todesschreie. Den Mord macht sie nicht sichtbar. Wir haben keine Poetik gefunden, die das Entsetzen unserer Zeitgenossenschaft reflektiert.“[25] In seinem Imre-Kertész-Wörterbuch fasste László F. Földényi unter dem Stichwort Atonalität die Interpretation des Schriftstellers und Nobelpreisträgers zu Adornos Aussage zusammen: Was dieser im Sinn gehabt haben mag, habe Kertész mit Adornos Lieblingskomponisten Arnold Schönberg genauer formuliert: „Nach Auschwitz läßt sich nur noch in einer atonalen Sprache authentisch schreiben“.[26]

Literatur

  • Petra Kiedaisch (Hrsg.): Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter. Reclam, Stuttgart 1995 (= RUB 9363), ISBN 3-15-009363-5.
  • Robert Weninger: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. Beck, München 2004, ISBN 3-406-51132-5, S. 32–49.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Petra Kiedaisch (Hrsg.): Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter, S. 10.
  2. 2,0 2,1 Robert Weninger: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser, S. 33.
  3. Günther Bonheim: Versuch zu zeigen, dass Adorno mit seiner Behauptung, nach Auschwitz lasse sich kein Gedicht mehr schreiben, recht hatte. Königshausen & Neumann, Würzburg 2002, ISBN 3-8260-2327-7, S. 7.
  4. Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Gesammelte Schriften, Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I, „Prismen. Ohne Leitbild“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-07172-6, S. 30.
  5. Petra Kiedaisch (Hrsg.): Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter, S. 13.
  6. Theodor W. Adorno: Jene zwanziger Jahre. Zitiert nach: Petra Kiedaisch (Hrsg.): Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter, S. 53.
  7. Theodor W. Adorno: Engagement. Zitiert nach: Petra Kiedaisch (Hrsg.):Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter, S. 53.
  8. Theodor W. Adorno: Engagement. Zitiert nach: Petra Kiedaisch (Hrsg.):Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter, S. 54–55.
  9. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-518-06572-6, S. 355.
  10. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Zitiert nach: Petra Kiedaisch (Hrsg.):Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter, S. 61–62.
  11. Theodor W. Adorno: Paralipomena zur „Ästhetischen Theorie“. Zitiert nach: Petra Kiedaisch (Hrsg.): Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter, S. 16.
  12. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, S. 477.
  13. Dieter Lamping: Sind Gedichte über Auschwitz barbarisch? Über die Humanität der Holocaust-Lyrik. In: Ders.: Literatur und Theorie: Über poetologische Probleme der Moderne. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1996, ISBN 3-525-01217-9, S. 100-118, hier S. 100.
  14. Vergleiche dazu Lamping, a.a.O, S.102.
  15. Wolfdietrich Schnurre: Dreizehn Thesen gegen die Behauptung, daß es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, in: Der Schattenfotograf. Paul List Verlag, München 1978, ISBN 3-548-26024-1; auch: Ullstein-Buch Nr. 26042, S. 454-457.
  16. zitiert bei Lamping, a.a.O. S. 102f.
  17. Theodor W. Adorno: Engagement. In: Ders.: Noten zur Literatur, herausgegeben von Rolf Tiedemann, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, S. 35-53, hier S. 35.
  18. Ruth Klüger: Paul Celan: Die Todesfuge. In dsb: Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik. Wallstein Verlag, Göttingen 2007, ISBN 978-3-89244-490-9, S. 134.
  19. Markus May, Peter Großens, Jürgen Lehmann (Hrsg.): Celan-Handbuch, Leben-Werk-Wirkung. Metzler, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-476-02063-5, S. 62.
  20. Robert Weninger: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser, S. 38.
  21. Schnurre, a.a.O., 5. und 6. These.
  22. Vgl. die Beispiele in der Sammlung Lyrik nach Auschwitz
  23. Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Wallstein Verlag, Göttingen 1992, ISBN 3-7632-4238-4, S. 36,110, 125-126.
  24. Lamping, a.a.O., S. 104.
  25. Robert Weninger: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser, S. 32.
  26. László F. Földényi: Schicksallosigkeit: Ein Imre-Kertész-Wörterbuch. Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg 2009, ISBN 978-3498021221, S. 32.
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