Jewiki unterstützen. Jewiki, die größte Online-Enzy­klo­pädie zum Judentum.

Helfen Sie Jewiki mit einer kleinen oder auch größeren Spende. Einmalig oder regelmäßig, damit die Zukunft von Jewiki gesichert bleibt ...

Vielen Dank für Ihr Engagement! (→ Spendenkonten)

How to read Jewiki in your desired language · Comment lire Jewiki dans votre langue préférée · Cómo leer Jewiki en su idioma preferido · בשפה הרצויה Jewiki כיצד לקרוא · Как читать Jewiki на предпочитаемом вами языке · كيف تقرأ Jewiki باللغة التي تريدها · Como ler o Jewiki na sua língua preferida

Agatha Dietschi

Aus Jewiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Agatha Dietschi, auch bekannt als Hans Kaiser und Schnitter Hensli († nach April 1548), wurde in Freiburg im Breisgau der Ketzerei angeklagt, weil sie sich als Mann ausgegeben hatte und eine Ehe mit einer Frau eingegangen war. Sie gilt als ein frühes Beispiel für die Strafverfolgung einer homosexuellen Frau.

Leben

Dietschi stammte aus Wehingen und war dort mit einem Mann verheiratet. In Neidingen an der unteren Donau lernte sie später Anna Reuli kennen. Als sie dort zum ersten Mal erschien, trat sie als Mann in Begleitung einer Frau und eines älteren Kindes auf. Zwischenzeitlich verschwunden, kehrte Dietschi alleine nach Neidingen zurück und gab an, Frau und Kind seien gestorben. Unter dem Namen Hans Kaiser, genannt Schnitter Hensli, arbeitete Dietschi nachweislich seit 1538 als Landarbeiter im Donautal. Für Pfingsten 1540 ist bezeugt, dass Hans Kaiser und Anna Reuli „einander zum heiligen Sakrament der Ehe genommen“[1] haben. Damit war zunächst nur der Ehevollzug gemeint, nicht aber die kirchliche Feier im Sinne einer rechtsgültigen Eheschließung.[2] Hans Kaiser zog erneut fort, dieses Mal nach Schaffhausen. Erst als Anna Reulis Schwager ihm nachreiste und forderte, er solle Anna „zur Kirche und Straße führen“, kam es zur kirchlichen Trauung – mit Zustimmung der Gemeinde.[3]

Sieben Jahre später ging Reuli eine Beziehung mit Marx Gross ein, was die Ehe stark belastete. Anna Reuli gab später zu Protokoll: „Das wollte Agatha nicht leiden und tät stets wie ein ander Mann mit ihr darum hadern, schelten und kriegen. Also (daß) sie, Anna, solches Gezänk nicht mehr leiden mochte und es ihrem Schwager […] anzeigte.“[4] Demnach teilte Anna erst wegen des andauernden Streits ihrem Schwager mit, dass ihr Ehemann eine Frau war. Sie selbst hatte nach eigener Aussage einige Zeit nach der Eheschließung gemerkt, dass Hans eigentlich Agatha war. Sie sagte aus, „daß sie einander eineinhalb Jahre eheliche Beiwohnung getan, das sie (aber bis dahin) noch nicht gewußt, ob Agatha eine Frau oder ein Mann wäre, bis erst um dieselbige Zeit, (da) hätten sie beide an einem Abend nieder- und schlafen gehen wollen. Da hätte sie, Agatha, zuvor das Wasser abgeschlagen, dazu wie ein Weib niedergehockt. Das hätte (wäre) sie, Anna, gewahr geworden und (dann) erst gedacht, daß er auch ein Weib wäre“.[5]

Nach dieser Entdeckung entschieden sich beide, weiterhin als Ehepaar zusammen zu leben. Den Aussagen der Nachbarn zufolge haben sie eine gute Ehe geführt und „gar wohl mit einander gelebt“.[1] Dass Hans Kaiser eine Frau war, blieb der Dorföffentlichkeit bis zuletzt verborgen.[6] Anna Reulis Beziehung zu Marx Gross zog aber schließlich die Scheidung nach sich: Zusammen mit ihrem Schwager zeigte Anna Reuli ihren ‚Ehemann‘ Agatha Dietschi an. Diese floh daraufhin nach Freiburg und wurde dort 1547 festgenommen. Die im Stadtarchiv Freiburg aufbewahrte „Criminalia“-Akte zu dem Fall wurde am 10. Dezember 1547 eröffnet und am 16. April 1548 geschlossen.[7] Im Scheidungsprozess leugnete Reuli, mit Dietschi in einem sexuellen Verhältnis gestanden zu haben. Gross, der Reuli vor Bestrafung schützen wollte, versicherte, dass sie beim ersten gemeinsamen Geschlechtsverkehr noch Jungfrau gewesen sei. Demgegenüber sagten Zeugen aus, Dietschi und Reuli beim gemeinsamen Liebesspiel beobachtet zu haben. Die Ermittlungen ergaben, dass Dietschi bereits mehrfach verheiratet gewesen war – als Mann und als Frau.[3] Dietschi gab als Grund für die Entscheidung, als Mann leben zu wollen, an: „Wäre auch in dreizehn Jahren bei keinem Mann nie gelegen und es hätt ihr ein Pfaff gesagt, es wär ihr angetan worden, dass sie keine Liebe zu keinem Mann nicht mehr haben würd“.[8] Reuli gegenüber soll Dietschi gesagt haben: „Es wäre ihr von einem anderen bösen Weib angetan, das wisse Gott, daß sie also in Mannskleidung gehen müßte, könnte auch keinen Mann mehr lieb gewinnen.“[8]

Pranger mit Halseisen in Ilmenau, Thüringen (Beispielfoto)

Entscheidend für die Anklage der Ketzerei war der Nachweis sexueller Handlungen zwischen Personen desselben Geschlechts. Bei Dietschi wurde ein phallisches Hilfsmittel gefunden, jnnstrument oder rüstung genannt, das beim Akt zwischen Frauen verwendet werden konnte,[3] vergleichbar mit einem Strap-on-Dildo. Sie gestand, es zu Beginn ihrer Ehe mit Anna Reuli benutzt zu haben, was die Verhaftung Reulis nach sich zog. Für Reuli ist indes keine, für Dietschi eine vergleichsweise milde Strafe überliefert. Offenbar hatte man trotz vorhandener Indizien angenommen, dass die Penetration nicht erfolgreich war und daher die Ehe nicht vollzogen worden ist.[9] Die Verwendung des penisähnlichen Instruments stellte gleichwohl eine verbotene Verkehrung der Geschlechterhierarchie dar und wurde bestraft: Dietschi wurde 1548 mehrere Tage lang am Freiburger Münsterplatz am Pranger „mit dem Halseisen bestraft“[8] und anschließend aus der Stadt verbannt.[10]

Ähnliche Fälle

In einem ähnlichen Fall wurde Katherina Hetzeldorfer 1477 bei Speyer im Rhein ertränkt.[9] Catharina Margaretha Linck war 1721 die letzte Frau, die in Europa wegen Sodomie hingerichtet wurde. Homosexualität unter Frauen wurde wesentlich seltener strafrechtlich verfolgt als bei Männern: „Das Strafrisiko für Frauen stieg insbes[ondere] dort, wo sie sich männlicher Geschlechts- und Sexualrollen bedienten“.[9] Auch in Freiburg war der Prozess um Dietschi/Kaiser sehr ungewöhnlich.[10] In ihrem Buch über Freiburger Frauen vom 13. bis 18. Jahrhundert stellen Sully Roecken und Carolina Brauckmann für Agatha Dietschi als Besonderheit heraus,

„daß sie als Mann lebt. Sie entzieht sich ganz und gar dem Frauenleben. Sie kleidet sich wie ein Mann, sie kann es sich leisten, allein umherzuziehen. Sie arbeitet wie ein Mann, sie bekennt auch, dass sie zu Neudingen ein Bannwart wär gewesen. Ein Bannwart, der sie als Frau nie hätte sein können.“

Sully Roecken und Carolina Brauckmann: Margaretha Jedefrau[8]

Allerdings ist das Phänomen, dass Frauen in Männerkleidern auftraten und männlichen Rollen ausfüllten (weiblicher Transvestitismus), seit dem 16. Jahrhundert auch in anderen europäischen Ländern belegt. Das gilt sowohl für die Seefahrt und den Kriegsdienst als auch für die Arbeit in der Landwirtschaft. Frauen konnten andere Tätigkeiten ausführen und höhere Verdienste erzielen, wenn sie als Männer auftraten.[11] Für Grenzach ist ein Fall „von einer frowen, so in manszkleidung gerichtet wart“, überliefert. Sie war – wie Dietschi – Ehemann und Landarbeiter, blieb über Jahre hinweg unentdeckt und wurde 1537 ertränkt, als nach einem Diebstahl ans Licht kam, dass es sich bei ihr um eine Frau handelt.[12]

Nachwirkung

Agatha Dietschi aka Hans Kaiser
Vorlage:Infobox Gemälde/Wartung/KünstlerRia Brodell, 2018
Gouache auf Papier, 28 cm × 18 cm

Link zum Bild
(Bitte Urheberrechte beachten)

Das Freiburger Theaterkollektiv „RaumZeit“ inszenierte das Leben Agatha Dietschis bzw. Hans Kaisers mit dem Stück Hans Kayser auf der Flucht – eine wahre Lügengeschichte. Dabei wurden die Originaldokumente des Gerichtsverfahrens von 1548 aus dem Stadtarchiv Freiburg zugrunde gelegt.[13] Der digitale AudioguideQueere Geschichte*n Freiburg“ widmet dem Leben Dietschis und dem Gerichtsverfahren die knapp zehnminütige Station 5 am Freiburger Münster mit dem Titel „Hans Kayser, queer in der Frühen Neuzeit“.[10][14]

Ria Brodell, ein nicht-binärer amerikanischer Künstler, begann 2010 mit der Gemäldeserie Butch Heroes. Sie zeigt 28 Menschen, „who were assigned female at birth, had relationships with women and presented in a more masculine than feminine manner“ (Übersetzung: die bei der Geburt als weiblich eingestuft wurden, dokumentierte Beziehungen zu Frauen hatten und deren Erscheinung eher männlich als weiblich war).[15] Die Gemälde sind im Stile katholischer Andachtsbilder von Heiligen gefertigt und sollen auf diese Weise Menschen würdigen, die vielerorts vergessen sind und ausgegrenzt wurden.[16] Brodell malte „Agatha Dietschi aka Hans Kaiser“ bei der Arbeit als Erntehelfer bei der Getreideernte.[17]

Literatur

  • Helmut Puff: Sodomy in Reformation Germany and Switzerland, 1400–1600. University of Chicago Press, Chicago 2003, ISBN 0-226-68505-5, S. 32–35.
  • Sully Roecken, Carolina Brauckmann: Margaretha Jedefrau. Kore, Freiburg im Breisgau 1989, ISBN 3-926023-15-5, S. 295–298.
  • Katharina Simon-Muscheid: Geschlecht, Identität und Soziale Rolle: Weiblicher Transvestismus vor Gericht, 15. / 16. Jahrhundert. In: Weiblich – männlich: Geschlechterverhältnisse in der Schweiz: Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken. Chronos, Zürich 1995, ISBN 3-905311-81-X, S. 45–57.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 Sully Roecken und Carolina Brauckmann 1989, S. 296. Zitat aus den Freiburger Gerichtsakten in angepasster Rechtschreibung.
  2. Sully Roecken und Carolina Brauckmann 1989, S. 296 (Fußnote).
  3. 3,0 3,1 3,2 Helmut Puff 2003, S. 32–35.
  4. Sully Roecken und Carolina Brauckmann 1989, S. 297 f. Zitat aus der Akte des Stadtarchivs Freiburg C1 Criminalia 9, 10. Dezember 1547 bis 16. April 1548.
  5. Sully Roecken und Carolina Brauckmann 1989, S. 297. Zitat aus der Akte des Stadtarchivs Freiburg C1 Criminalia 9, 10. Dezember 1547 bis 16. April 1548. Einklammerungen sind Ergänzungen von Roecken / Brauckmann.
  6. Katharina Simon-Muscheid 1995, S. 51.
  7. Sully Roecken und Carolina Brauckmann 1989, S. 473. Signatur: C1 Criminalia 9.
  8. 8,0 8,1 8,2 8,3 Sully Roecken und Carolina Brauckmann 1989, S. 298. Zitat aus der Akte des Stadtarchivs Freiburg C1 Criminalia 9, 10. Dezember 1547 bis 16. April 1548.
  9. 9,0 9,1 9,2 Helmut Puff und Claudia Jarzebowski: Homosexualität. In: Enzyklopädie der Neuzeit Online. Brill, 2019 (https://referenceworks.brillonline.com/browse/enzyklopaedie-der-neuzeit).
  10. 10,0 10,1 10,2 Lio Okroi: Queere Geschichte*n Freiburg. Audioguide que(e)r durch die Stadt. Feministisches Zentrum Freiburg e.V., abgerufen am 9. Mai 2024.
  11. Katharina Simon-Muscheid 1995, S. 49.
  12. Katharina Simon-Muscheid 1995, S. 50.
  13. Hans Kayser auf der Flucht. In: Theater Freiburg. Abgerufen am 9. Mai 2024.
  14. Lio Okroi: Queering History? Spannungsfelder des Erinnerns im Audioguide Queere Geschichte*n Freiburg. In: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. 24, Männerschwarm Verlag, Berlin 2023, ISBN 978-3-86300-094-3, S. 22.
  15. Leah Sandler: Trans artist Ria Brodell transports themself into multiple genders and histories. In: Orlando Weekly. 7. Februar 2018, abgerufen am 9. Mai 2024 (en-US).
  16. Ria Brodell: About Butch Heroes. In: Ria Brodell. Abgerufen am 9. Mai 2024 (en-US).
  17. Ria Brodell: Agatha Dietschi aka Hans Kaiser c. 1547 Germany. In: Ria Brodell. Abgerufen am 9. Mai 2024 (en-US).
Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Agatha Dietschi aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar.