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Anstandsrest
Als Anstandsrest (auch: Anstandsstück, Anstandshappen, Anstandsbissen, Anstandsbrocken,[1] Reputationsbissen; bei Getränken: Anstandsschluck) wird der Rest einer Mahlzeit bezeichnet, der aus Gründen des Anstands zurückgelassen wird. Während der Rest früher von Wohlhabenden für andere zurückgelassen wurde, nahm der Brauch später eine rein symbolische Bedeutung an. Im Gegensatz zu Speiseresten, die aufgrund von Sättigung übrigbleiben, drückt der Anstandsrest einen freiwilligen Verzicht aus. Dabei kann durch Bestecksprache signalisiert werden, dass die Mahlzeit beendet ist, obwohl sich ein Rest auf dem Teller befindet.[2] Anweisungen, Reste von Mahlzeiten freiwillig zurückzulassen, um gute Manieren zu zeigen, sind seit dem Spätmittelalter überliefert. Die Sitte des Anstandsrests wird seit dem 19. Jahrhundert in Benimmbüchern als veraltet bezeichnet. Im Gegensatz zum Wort Anstandsrest können die Wörter Anstandsstück, -happen, -bissen oder -schluck auch das einmalige Probieren von einem Gericht oder Getränk bezeichnen, das aus Höflichkeit erfolgt, obwohl kein Interesse daran besteht.[3]
Die Frage, ob es sich gehört, das letzte Stück einer individuellen Portion oder einer geteilten Speise aufzuessen, wird in verschiedenen Kulturen unterschiedlich beantwortet und kann zu Missverständnissen bei der interkulturellen Kommunikation führen. In zahlreichen Ländern gehört die Geste, den Teller nicht leer zu essen, zu den Tischsitten. Häufig wird ein Rest auf dem Teller gelassen, um dem Gastgeber oder der Bedienung zu signalisieren, dass kein Nachschlag gewünscht wird. Verschiedene staatliche „Leere-Teller-Kampagnen“ forderten aus ökonomischen oder ökologischen Gründen zur Vermeidung von Anstandsresten auf, so etwa in den USA während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs oder in der Volksrepublik China ab 2013.
Geschichte
Begründungen
Als Gründe für einen Anstandsrest werden das Signalisieren von Großzügigkeit, Bescheidenheit oder Wohlstand genannt. Verschiedene Bräuche gehen davon aus, dass es Unglück bringt, den Teller leer zu essen (siehe Bezeichnungen). In der Gegenwart wird der Anstandsrest in der Adipositastherapie als Instrument der Diätetik erwähnt.[4][5] Einen Anstandsrest übrigzulassen, kann als Signal der Selbstkontrolle gesehen werden.[6] Insbesondere in Asien gilt ein Rest auf dem Teller als Zeichen dafür, dass der Gastgeber seinen Anspruch, gut für den Gast zu sorgen, erfüllt hat.[7]
In der von Sebastian Brant um 1490 aus dem Lateinischen übersetzten Tischzucht Thesmophagia, einem Lehrgedicht aus dem 12. Jahrhundert, wird dazu aufgefordert, den Teller nicht leer zu essen und stattdessen etwas für das Gesinde übrig zu lassen. So zeige man ein dem ritterlichen Leben angemessenes, maßvolles Verhalten (Mâze)[8] und gelte nicht als gefräßig:
Ob du mich furter frogst alsus / Ob du solt essen alles vß / Das dir kumbt vff din teller gon / Oder ob ein teil solt ligen Ion / Sprich ich das sig die groste ere / Das dir din teller nit standt ler / Unnd das du schonst eins teils der spiß / Die von dir kum nach disches wise / Unnd für das gesind getragen werd / So spuret man an dir höflich berd / Unnd neigt man dir mit houptes nick / Uff din hoffzucht thut man vil blick / Ouch haltest du ere / sydtt / vnnd maß / Das man nit sprech du sigst ein fraß[9][10]
Als Vorbild für die mittelalterlichen Tischzuchten gilt ein Rat aus der um 190 v. Chr. entstandenen Spätschrift Jesus Sirach des Alten Testaments, als erster mit dem Essen aufzuhören, um Bescheidenheit zu signalisieren: „Hör als Erster auf, wie es der Anstand verlangt, / und schlürfe nicht, sonst erregst du Anstoß.“ (Sir 31,17)[11][12] Die Anweisung findet sich in verschiedenen Tischzuchten.[13][14]
Die Adelige Jacobe von der Asseburg (1507–1571) fordert in einer Erziehungsschrift ihre Enkelinnen dazu auf, von verschiedenen Schüsseln zu nehmen, aber jeweils einen Anstandsrest darin zu lassen. Eine Jungfrau verhalte sich am besten, wenn sie von allen Gerichten probiere.[15] Im Französischen ist seit dem 17. Jahrhundert die Bezeichnung ‚morceau honteux‘ (wörtlich ‚Scham-‘ oder ‚Schandstück‘) belegt.[16] Darin kommt zum Ausdruck, dass es mit Scham oder Schande belegt ist, den letzten Bissen von einem gemeinsamen oder individuellen Teller zu nehmen, anstatt ihn übrigzulassen, um nicht als geizig zu gelten.[17] In zahlreichen weiteren europäischen Sprachen finden sich ähnliche Wörter (siehe Bezeichnungen).
Der Atlas der deutschen Volkskunde veröffentlichte 1935 Ergebnisse zur Frage, ob es als unschicklich gelte, als Gast das Letzte aus einer Schüssel zu nehmen.[18] Obwohl nach Resten auf dem eigenen Teller nicht gefragt wurde, sind Aussagen aus verschiedenen deutschsprachigen Regionen vermerkt, die den Anstandsrest als gängigen Brauch beschreiben.[19]
Gegenargumente
Als Grund dafür, keinen Anstandsrest übrigzulassen, wird häufig genannt, dass ein leerer Teller Lob für den Gastgeber und das Essen ausdrücke. Umgekehrt kann das Übriglassen von Resten als Signal gedeutet werden, dass die Mahlzeit nicht zufriedenstellend gewesen sei. Eine Oral History der Tischsitten sizilianischer Einwanderer in den USA berichtet vom Brauch, dass das letzte Stück zweimal abgelehnt werden muss, bevor es verspeist werden darf. Eine dritte Ablehnung wird als Beleidigung des Gastgebers wahrgenommen.[20]
Häufig werden nachhaltiger Konsum und die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung als Gründe angegeben, nichts übrigzulassen. In zahlreichen Erziehungsschriften wird geraten, Kinder zum Aufessen von Portionen anzuhalten, so etwa bei Johann Heinrich Pestalozzi.[21] Eine in Deutschland übliche Begründung ist, dass das Wetter schlecht werde, wenn das Kind nicht aufesse.[22]
Anstandsrest als altmodische Tischsitte
Bereits der Schriftsteller Plutarch beschreibt in seiner Ende des 1. Jahrhunderts verfassten Schrift Römische Fragen (Quaestiones Romanae) eine frühere, abergläubische Sitte im alten Rom, den Tisch nie leerzuräumen, als veraltet und kritisiert sie als verschwenderisch.[23] Seit dem 19. Jahrhundert wird der Anstandsrest in Benimmbüchern als altmodisch und unhöflich bezeichnet. Der Arzt und Schriftsteller Gustav Blumröder bezeichnet den „Reputationsbissen“ in seinen 1838 erschienenen Vorlesungen über Esskunst als eine obsolete Sitte, die „jetzigen reiferen Begriffen widerspräche. Der Bewirtende kann durch nichts auf schmeichelhaftere und augenfälligere Weise zu der genugtuenden Überzeugung gelangen, daß Alles gut war, als wenn Alles aufgegessen wird.“[24] Routledge’s manual of etiquette bezeichnet es in den 1860er Jahren als schlechte Erziehung und Beleidigung des Gastgebers, etwas übrig zu lassen.[25] Der Autor Hans Reimann bezeichnet es in seinem Buch Der wirkliche Knigge (1933) als „unsozial“, einen Anstandsrest zu lassen.[26]
Leere-Teller-Kampagnen
In Zeiten wirtschaftlichen Mangels oder verstärkten ökologischen Bewusstseins riefen Regierungen seit dem 20. Jahrhundert sogenannte „Leere-Teller-Kampagnen“ ins Leben. Dabei wurde die Bevölkerung symbolisch dazu aufgerufen, den Teller leer zu essen, jedoch auch allgemein dazu, keine Speisereste zu hinterlassen und wegzuwerfen. Während des Ersten Weltkriegs prägte der spätere amerikanische Präsident Herbert Hoover mit der ihm unterstellten United States Food Administration das „Prinzip des leeren Tellers“ („Gospel of the Clean Plate“).[27][28]
Während des Zweiten Weltkriegs gehörten Leere-Teller-Kampagnen („clean plate campaigns“) oder „Leere-Teller-Clubs“ („clean plate clubs“) zu Maßnahmen der amerikanischen Heimatfront. Die Kampagnen richteten sich dabei häufig an Kinder und Schulen und appellierten daran, den Teller leerzuessen, um mehr Essen an die Soldaten an der Front schicken zu können.[29]
2013 startete die Regierung der Volksrepublik China eine Leere-Teller-Kampagne, um der verbreiteten Sitte entgegenzuwirken, dass Mahlzeiten nicht aufgegessen werden, um Stolz und Wohlstand zu signalisieren. Die Kampagne wurde vom Slogan „Ich bin stolz auf meinen leeren Teller“ begleitet.[30] Während der COVID-19-Pandemie 2020 wurden die Maßnahmen nach öffentlichen Aufrufen des Staatsoberhaupts Xi Jinping weiter verschärft[31] und 2021 ein Gesetz gegen das Wegwerfen von Lebensmitteln erlassen. Darin werden unter anderem Binge-Eating- oder Mok-Bang-Videos und Wettessen verboten, außerdem können Gäste und Inhaber von Restaurants für übermäßige Speisereste mit Geldstrafen belegt werden.[32]
Interkulturelle Kommunikation
Häufig wird von Situationen berichtet, in denen der Gast in Bezug auf die Frage, ob das letzte Stück zu essen ist, von einer anderen Sitte ausgeht als der Gastgeber. Insbesondere beim Kontakt verschiedener Kulturen kann dieser Unterschied zu Missverständnissen führen. Als popkulturelles Beispiel wird häufig ein Werbespot der britischen Bank HSBC aus dem Jahr 2003 angeführt.[33][34] Darin wird ein Brite bei einem Geschäftsessen mit chinesischen Geschäftspartnern in einem Restaurant gezeigt. Er bekommt eine Schüssel mit Aalsuppe, die er vollständig aufisst, obwohl es ihn Überwindung kostet. Als die Geschäftspartner bemerken, dass die Schüssel leer ist, geben sie der Küche ein Signal für Nachschlag. Eine noch größere Schüssel wird serviert, und die Szene wiederholt sich erneut, bis der Werbespot mit dem verzweifelten Gesicht des Europäers endet, der sieht, wie mehrere Kellner einen noch größeren Aal bringen. Die Off-Stimme sagt: „Die Engländer glauben, es ist eine Beleidigung für das Essen Ihres Gastgebers, wenn Sie Ihren Teller nicht aufessen. Die Chinesen haben dagegen den Eindruck, dass Sie ihre Großzügigkeit infrage stellen.“ („The English believe it is a slur on your host's food if you don't clear your plate. Whereas the Chinese feel you are questioning their generosity if you do.“)[35]
Reste von Getränken
Auch die Frage, ob von Getränken der letzte Schluck zu nehmen ist oder nicht, wird je nach Trinkkultur unterschiedlich beantwortet. In bestimmten Kulturen wird ein leeres Glas ähnlich wie ein leerer Teller als Zeichen zum Nachschenken gedeutet. So sind Aussagen russischer Gastgeber beschrieben, den Anblick eines leeren Wodkaglases nicht ertragen zu können.[36] Im Österreichischen wird der letzte Schluck, der anstandshalber übriggelassen wird, auch als ‚Anstandslackerl‘ (von ‚Lache‘) bezeichnet.[37]
In der zeitgenössischen Psychologie wird Ekel als Grund dafür genannt, einen Schluck in einem Behälter zu lassen.[38] Das Sprichwort „Der Rest ist für die Gottlosen“ oder „den Gottlosen die Neige“ geht auf eine Psalmstelle (Jeremia 25) zurück: „Jahwe hält einen Becher in der Hand, / gefüllt mit scharfem, gärendem Wein. / Und von dem schenkt er den Gottlosen ein. / Sie müssen ihn schlürfen und trinken bis zum letzten bitteren Rest.“[39] Die Stelle spielt darauf an, dass sich früher im Bodensatz von alkoholischen Getränken kaum genießbare Hefe sammelte.
Bezeichnungen und Brauchtümer für Bierreste
In zahlreichen Sprachen gibt es negative Bezeichnungen für den letzten Schluck oder abgestandenen Rest eines Bieres. In bairischen Dialekten wird der Rest am Boden eines Bierkrugs als ‚Noagerl‘ (von ‚Neige‘) und ein Mann, der Reste aus fremden Biergläsern trinkt, abschätzig als ‚Noagerlzuzler‘ (von ‚zuzeln‘, ‚lutschen‘, hochdeutsch selten: ‚Neigentrinker‘[40]) bezeichnet, so etwa vom Kabarettisten Gerhard Polt in dessen Serie Fast wia im richtigen Leben.[41] Im Österreichischen,[42] Rotwelschen[43] und Ladinischen[44] wird die abgestandene Bierneige auch als „Bierhansel“[45] „Hansl“ oder „Hanzl“ bezeichnet. Im Wienerischen war für Männer, die Reste aus Bierfässern verwerteten, die Bezeichnung ‚Hanseltippler‘ (so die Titel eines Gedichts von Theo Waldinger[46] und einer Illustration von Rudolf Kristen[47]), ‚Hansltippler‘[48], ‚Hansldippler‘[49] ‚Biertippler‘[50] oder ‚Bierdippler‘[51] geläufig. Im viktorianischen England war der Trinkspruch „no heeltaps“ („ausgetrunken“,[52] wörtlich: „keine Reste“) gebräuchlich, der auf das Neigen eines Fasses (‚to heel a cask‘)[53] zurückgeführt wurde und in Charles Dickens’ Roman Die Pickwickier (1837) verwendet wird.[54] Mindestens seit dem 18. Jahrhundert sind Fälle dokumentiert, in denen der Verkauf von Bierresten aus Fässern (Leckbier, Tropfbier[55] bzw. Abtropfbier[56]) oder Gläsern (Neigebier,[57] Neigbier[58], Bierneigen[59] oder Ständerlingsbier[60]) als neues Bier bestraft wurde.
Bezeichnungen
Für das letzte Stück, das von einer Mahlzeit bleibt, gibt es in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Bezeichnungen, die mit den damit verbundenen Bräuchen zusammenhängen. Das Wort ‚Anstandsrest‘ wird mindestens seit dem 19. Jahrhundert verwendet, in Grimms Wörterbuch ist es nicht enthalten. Direkte Äquivalente des Anstandsrests finden sich in fremdsprachigen Wörterbüchern nicht, zum ‚Anstandsstück‘ gibt es Äquivalente im Italienischen (‚boccone della creanza‘) und im Englischen (selten: ‚manners bit‘). In der englischsprachigen Fachliteratur wird das deutsche Wort ‚Anstandsstück‘ mit „etiquette piece“ übersetzt.[61] Es gibt sowohl negativ als auch positiv konnotierte Bezeichnungen für das letzte Stück einer Mahlzeit, jeweils in Bezug darauf, ob es gegessen oder zurückgelassen werden soll. Die folgende Tabelle listet Bezeichnungen aus verschiedenen Sprachen nach diesen Kriterien auf:
soll gegessen werden | soll nicht gegessen werden | |
---|---|---|
positiv | Schwedisch: trivsbit (Wachstumsbissen); auch: hälsebit (Gesundheitsbissen), maktbit (Kraftbissen), jägarebit (Jägerbissen)[62] | Deutsch: Anstandsrest, Anstandsstück, Anstandshappen, Anstandsbrocken, Reputationsbissen (seit dem 18. Jahrhundert, veraltet)[63]
Englisch: manners bit,[64] manners piece, manners,[65] to leave something for Mrs. Manners,[66] (wörtlich: etwas für Frau Anstand übriglassen) Italienisch: boccone della creanza,[67] boccone del complimento[68] (Anstands- oder Komplimentsstück) Hebräisch: derecherez[69] (Anstand, 19. Jh.[70]) Japanisch (Region Kansai): 遠慮の塊 enryo-no-katamari[71] (wörtlich: Stück der Zurückhaltung, von 遠慮 enryo: ‚Zurückhaltung‘, ‚Beherrschung‘, ‚Bescheidenheit‘, ‚Rücksicht‘, ‚Verzicht‘ und 塊 katamari: ‚Klumpen‘, ‚Stück‘, ‚Batzen‘)[72] |
negativ | Schwedisch: Erinnerungsstück (drohender Erinnerungsverlust)
verschiedene Sprachen: Redewendungen über drohende Armut in anderen Ländern, wenn das Kind die Mahlzeit nicht aufisst[73] |
Englisch: to leave no manners in the dish[74]; old maid;[75] bachelor’s bit[76] (Vorstellung, dass Ledigkeit oder Unfruchtbarkeit folgt)[77]
Scham- oder Schandstück: Französisch: morceau honteux Niederländisch: schaambrok[78] Italienisch: boccone della vergogna[79] |
Forschung
Unterschiedliche Einstellungen zum letzten Stück
Die Autorin Margaret Visser fasst die unterschiedlichen Einstellungen zum letzten Stück einer Mahlzeit in ihrem Buch The Rituals of Dinner (1991) zusammen:
„Entweder muss es gegessen werden – es ist beleidigend und irritierend, wie es da liegt: man muss jemanden dazu ermuntern, es zu nehmen, und versichern, dass das letzte Stück Wohlstand bringt; oder man sollte es liegenlassen – es sich zu schnappen oder seinen Teller zu sauber auszuwischen, wäre gierig, und denjenigen, der es tut, wird später im Leben Unglück ereilen. Entweder ist das letzte Stück ein ‚Wachstums-‘ oder ‚Kraftstück‘, das zukünftige Gesundheit und Stärke verspricht; oder es ist das Anstandsstück, das es zu verweigern gilt – wer es nimmt, wird eine ‚alte Jungfer‘ sein und so einsam bleiben wie das letzte Stück auf dem Teller.“[83]
Individueller und kollektiver Anstandsrest
Der amerikanische Soziologe C. K. Yang beobachtet in seinem Werk Religion in Chinese Society (1961) einen Unterschied zwischen Geschirr, von dem alle nehmen, und individuellen Tellern. Während es in China häufig geboten sei, in der allgemeinen Schüssel einen Rest zu lassen, da sonst Armut drohe, müsse der eigene Teller leergegessen werden, da eine Verschwendung von Essen mit Strafen für die Seele in der Hölle bestraft werde. Yang erklärt den Brauch damit, dass über den Rest in der Gemeinschaftsportion interpersonale Solidarität in einer von Knappheit geprägten Gesellschaft gestiftet werde.[84] Die amerikanische Folkloristin Amy Shuman berichtet von Fällen, in denen die letzte Portion einer gemeinsamen Mahlzeit weiter aufgeteilt wird, um mehrere Gäste daran teilhaben zu lassen.[85]
Vergleiche mit Erntebräuchen
Der schwedische Ethnologe Carl von Sydow beobachtet in seinem Aufsatz Die Begriffe des Ersten und Letzten in der Volksüberlieferung mit besonderer Berücksichtigung der Erntegebräuche (1939) Bräuche, die sich auf das letzte Stück einer Mahlzeit oder bei der Ernte beziehen. In Bräuchen, die zum Essen des letzten Stück Brots ermutigen, gilt es als „orendageladen“: „Der letzte Bissen einer Brotschnitte oder irgendeines Gerichtes wird oft als Kraftbissen bezeichnet; und wenn man ihn nicht aufisst, so bekommt man auch keinen Anteil an der Kraft des Brotes“.[86][87] In Bräuchen, die vor dem Essen des letzten Stücks warnen, komme ein horror vacui (Angst vor der Leere) zum Ausdruck:
So heisst es oft, man dürfe nicht die Schüssel leeressen, denn da könnte es geschehen, dass man ledig bleibt oder zuletzt von allen Anwesenden heiratet. In diesen Vorstellungen ist jedoch auch ein anderer Gesichtspunkt enthalten, der als horror vacui bezeichnet werden kann. Man betrachtet es als unglücksbringend, eine Schüssel, eine Kiste, einen Acker, einen Obstbaum, einen Geldbeutel usw. völlig zu leeren. Irgendetwas muss übrig bleiben, sonst hat man kein Glück mehr damit.[88]
Sydow sieht eine Ähnlichkeit zum von Wilhelm Mannhardt beschriebenen Feldkult der letzten Garbe, die zurückgelassen wird, kritisiert aber dessen Interpretation von Bräuchen als Kulte, die als solche nicht belegt seien. Vielmehr handele es sich um „humorvolle Fiktionen“.[89]
Der Altphilologe Franz Dornseiff sieht eine Ähnlichkeit des Anstandsrests mit der letzten Garbe im Deuteronomium: „Wenn du dein Feld aberntest und eine Garbe auf dem Feld vergisst, sollst du nicht umkehren, um sie zu holen. Sie soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören, damit der Herr, dein Gott, dich bei jeder Arbeit deiner Hände segnet.“ (Dtn 24, 19). Der „‚Anstandsbrocken‘ (das Letzte auf der Schüssel), die letzte Zigarette in der Schachtel“ seien geschützte Tabus. Die superstitiösen Gründe seien jedoch zurückgetreten.[90]
Anstandsrest und Kraftbissen als pädagogische Fiktionen
Ähnlich wie Sydow bezeichnet der schwedische Ethnologe Nils-Arvid Bringéus die Bräuche als „pädagogische Fiktionen“. Bringéus verweist darauf, dass der deutsche Anstandsrest und der schwedische „Kraftbissen“ dasselbe Phänomen bezeichnen, jedoch entgegengesetzte Vorstellungen darüber ausdrücken, ob das letzte Stück gegessen werden soll. Da Tischsitten einem historischen Wandel unterliegen, könne der horror vacui für die moderne Gesellschaft keine Erklärung mehr liefern. Eine bessere Erklärung sei die wissenschaftliche Orientierung der Gesellschaft, in der es als vernünftig gelte, besser ein Stück zu wenig als ein Stück zu viel zu essen.[91]
Literatur
- Carl Wilhelm von Sydow [1939]: „Die Begriffe des Ersten und Letzten in der Volksüberlieferung mit besonderer Berücksichtigung der Erntebräuche“. In: ders.: Selected Papers on Folklore. Published on the Occasion of his 70th Birthday, Kopenhagen 1948, S. 146–165.
- Nils-Arvid Bringéus [1976]: „The Thrive-Bit. A Study of Cultural Adaptation“, in: Alexander Fenton (Hrsg.): Food in Perspective. Proceedings of the Third International Conference on Ethnological Food Research, Cardiff, Wales, 1977, Edinburgh 1981, S. 31–55.
- Schwedisches Original: „Trivsbiten. En studie i kulturell adaptation“. In: Fataburen, Stockholm 1976, S. 185–202, PDF.
- Amy Shuman: The Rhetoric of Portions. In: Western Folklore. 40, Nr. 1, 1981 ISSN 0043-373X, S. 72–80, doi:10.2307/1499851.
- Margaret Visser: The rituals of dinner. The origins, evolution, eccentricities, and meaning of table manners, New York, Penguin 1992, ISBN 9780140170795
- Thomas Schürmann: Tisch- und Grußsitten im Zivilisationsprozeß. (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland; 82). Waxmann, Münster u. a. 1994, ISBN 3-89325-233-9 (Volltext als PDF), S. 134–145.
Einzelnachweise
- ↑ Franz Dornseiff: Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen. Walter de Gruyter, 2012-05-18, ISBN 978-3-11-171211-6, S. 541 (https://books.google.de/books?id=GT0jAAAAQBAJ&pg=PA541&dq=anstandsbrocken&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwiY-6T80NXyAhVYSvEDHeo7B5wQ6AEwBnoECAcQAg#v=onepage&q=anstandsbrocken&f=false).
- ↑ Elisabeth Bonneau: Großer Ess- und Tischknigge. GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH, 2010-09, ISBN 978-3-8338-2100-4 (https://books.google.de/books?id=mIZAzduXpR4C&pg=PA20&dq=%22zwanzig+nach+vier%22+gabel&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwj2jZOuhsLyAhUSQ_EDHejdC9UQ6AEwAnoECCQQAg#v=onepage&q&f=false).
- ↑ Werner Wolski: PONS Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache. PONS, 2015, ISBN 978-3-12-517429-0, S. 146 (https://books.google.de/books?id=1ov3CQAAQBAJ&pg=PA146&dq=anstandshappen&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwjQq9Hh_svyAhURSPEDHcltASgQ6AEwBXoECGIQAg#v=onepage&q=anstandshappen&f=false).
- ↑ Klaus Jork: Gesundheitsberatung: Einführung und Leitfaden für Ärzte und Studierende der Medizin. Springer-Verlag, 2013-03-07, ISBN 978-3-642-72880-8, S. 132 (https://books.google.de/books?id=Wp_NBgAAQBAJ&pg=PA120&dq=Beratung+als+Hilfe+w%C3%A4hrend+der+Verhaltens%C3%A4nderung&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwisg5zsmL3yAhW_SPEDHSsBCzcQ6AEwAHoECF8QAg#v=onepage&q&f=false).
- ↑ Martin Middeke, Edita Pospisil, Klaus Völker: Bluthochdruck senken ohne Medikamente: wie Sie Ihre Risikofaktoren einfach ausschalten ; gewusst wie: gezielt bewegen, bewusst ernähren und Stress abbauen ; mit leckeren Rezepten gesünder leben. Georg Thieme Verlag, 2005, ISBN 978-3-8304-3272-2, S. 79 (https://books.google.de/books?hl=de&lr=&id=kWlvA1Vup08C&oi=fnd&pg=PA5&dq=anstandsrest+adipositas&ots=7VXhsPpvLL&sig=XfUx3_vo8X14Fwu7e86QJHiYBEk#v=onepage&q=anstandsrest&f=false).
- ↑ Lässt man Essen auf dem Teller zurück?. In: Tages-Anzeiger. ISSN 1422-9994 (https://www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/laesst-man-essen-auf-dem-teller-zurueck/story/13720291).
- ↑ Rita Rizk-Antonious: Ihr Navi durch andere Kulturen: Wege aus dem Labyrinth interkultureller Fallstricke. Springer-Verlag, 2019-10-21, ISBN 978-3-658-27198-5, S. 58 (https://books.google.de/books?id=bkC4DwAAQBAJ&pg=PA58&dq=anstandsrests&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwjOuZa467ryAhWlR_EDHb0bCioQ6AEwC3oECB0QAg#v=onepage&q=anstandsrests&f=false).
- ↑ Anna Kathrin Bleuler: Essen - Trinken - Liebe: Kultursemiotische Untersuchung zur Poetik des Alimentären in Wolframs 'Parzival'. Narr Francke Attempto Verlag, 2016-01-18, ISBN 978-3-7720-5541-6, S. 80 f. (https://books.google.de/books?id=vP93DwAAQBAJ&pg=PA80&dq=%22Ob+du+mich+furter+frogst+alsus%22&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwjqioyc28vyAhWiR_EDHQiTC6QQ6AEwAHoECAcQAg#v=onepage&q=%22Ob%20du%20mich%20furter%20frogst%20alsus%22&f=false).
- ↑ „Queris an expediat discorum munera toto / Euacuare tenus: desideriogne volentis / Non obstare gule? reor et respondeo: non sic: / Cum sit honestatis victoria / parcere parti / Que mox ad mensam migret translata minorum. / Ac inclinati grates excelsior ipsa / Demonstrat capitis, dulcis dape / dulcis honore.“ (695–707)
- ↑ Silke Umbach, Sebastian Brant: Sebastian Brants Tischzucht. Otto Harrassowitz Verlag, 1995, ISBN 978-3-447-03750-1, S. 69 (https://books.google.de/books?id=gqhMJ_lPriUC&pg=PA69&dq=%22Ob+du+mich+furter+frogst+alsus%22&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwjqioyc28vyAhWiR_EDHQiTC6QQ6AEwAXoECAUQAg#v=onepage&q=%22Ob%20du%20mich%20furter%20frogst%20alsus%22&f=false).
- ↑ Beatrix Bastl: Tugend, Liebe, Ehre: die adelige Frau in der frühen Neuzeit. Böhlau, 2000, ISBN 978-3-205-99233-2, S. 165 (https://books.google.de/books?id=y4-2AAAAIAAJ&q=jesus+sirach+%22h%C3%B6r+als+erster+auf%22&dq=jesus+sirach+%22h%C3%B6r+als+erster+auf%22&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwjphcKgyMvyAhU3RfEDHbwTDAQQ6AEwAXoECAQQAg).
- ↑ Katja Tesch: Weisheitsunterricht bei Ben Sira: Lehrkonzepte im Sirachbuch und ihre Relevanz für heutiges Lernen im Religionsunterricht. V&R unipress GmbH, 2013, ISBN 978-3-8471-0108-6, S. 123 (https://books.google.de/books?id=gvwyTsFtPX0C&pg=PA121&dq=%22h%C3%B6re+als+erster+auf%22&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwj2gcfAoOzyAhUQSvEDHfrIBisQ6AEwAnoECAkQAg#v=onepage&q&f=false).
- ↑ Regles de la bienseance, ou la civilite, qui se pratique parmi les honnettes gens ... Nouvelle Edition considerablement corrigee. König, 1766, S. 191 (https://books.google.de/books?id=blJlAAAAcAAJ&pg=PA191&dq=%22h%C3%B6re+am+ersten+auf%22+bienseance&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwjR3KHzn-zyAhVQR_EDHWpMALcQ6AEwAHoECAIQAg#v=onepage&q=%22h%C3%B6re%20am%20ersten%20auf%22%20bienseance&f=false).
- ↑ Ulrike Zischka, Hans Ottomeyer: Die anständige Lust: von Esskultur und Tafelsitten. Edition Spangenberg bei Droemer Knaur, 1994, ISBN 978-3-426-26807-0, S. 127 (https://books.google.de/books?id=z9QpAQAAIAAJ&q=%22h%C3%B6re+als+erster+auf%22&dq=%22h%C3%B6re+als+erster+auf%22&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwj2gcfAoOzyAhUQSvEDHfrIBisQ6AEwBHoECAQQAg).
- ↑ Vera Lüpkes, Heiner Borggrefe, Anke Hufschmidt: Adel im Weserraum um 1600: Katalog : Ausstellung im Weserrenaissance-Museum Schloss Brake, 15. September bis 8. Dezember 1996. Deutscher Kunstverlag, 1996, ISBN 978-3-422-06190-3, S. 86 (https://books.google.de/books?id=FJEjAQAAIAAJ&q=anstandsrests&dq=anstandsrests&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwjXnL307LryAhWpSfEDHdfOAK04ZBDoATBRegQICxAC).
- ↑ Antoine Oudin: Curiositez Francoises pour supplement aux dictionnaires ou recueil de ... proprietez, avec ... des proverbes et quolibets (etc.). Antoine de Sommaville, 1640, S. 273 (https://books.google.de/books?id=ZEhOAAAAcAAJ&pg=PA355&dq=%22morceau+honteux%22&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwi9u42BgcryAhVdQfEDHTUtDRQQ6AEwAHoECA4QAg#v=onepage&q=%22honteux%22&f=false).
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- ↑ „Either it must be eaten—it is offensive and irritating, lying there: someone must be encouraged to take it by being assured that the last piece brings prosperity; or it should be left—it is greedy to grab it, or to wipe one’s plate too clean, and the one who does so will suffer misfortune later in life. Either the last piece is a ‘thrive bit’ or a ‘force piece’, promising future health and strength; or it is the ‘etiquette piece’ which is there to be refused—the one who takes it will be an ‘old maid’, remaining as single as that last piece on the plate.“ Visser 1991.
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- ↑ Bringéus 1981, S. 49.
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