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Arolsen Archives
Arolsen Archives | ||
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Das Hauptgebäude des ehemaligen ITS in Bad Arolsen | ||
www.its-arolsen.org |
Die Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution sind ein Zentrum für Dokumentation, Information und Forschung über die nationalsozialistische Verfolgung, NS-Zwangsarbeit sowie den Holocaust mit Sitz in der nordhessischen Stadt Bad Arolsen. Bis zum 20. Mai 2019 war die Organisation unter dem Namen Internationaler Suchdienst (englisch International Tracing Service; ITS) bekannt. Die Hauptaufgaben des ITS waren die Klärung des Schicksals von Verfolgten des NS-Regimes und die Suche nach Familienangehörigen, Erteilung von Auskünften an Überlebende und Familienangehörige von NS-Opfern, Forschung, Pädagogik und Erinnerung sowie die Aufbewahrung, Konservierung und Erschließung von Dokumenten.
Im Juni 2013 wurde das Archiv des Internationalen Suchdienstes von der UNESCO in das Weltdokumentenerbe aufgenommen.[1][2]
Arbeit des Internationalen Suchdienstes
Organisation
Der ITS wird aus dem Haushalt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) finanziert. Die Aufsicht über ihn obliegt dem Internationalen Ausschuss, der mit Vertretern der elf beteiligten Länder (Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Griechenland, Israel, Italien, Luxemburg, Niederlande, Polen, USA) besetzt ist und zweimal jährlich zusammentritt.[3] Der Vorsitz des Internationalen Ausschusses wechselt jährlich zwischen den Mitgliedstaaten. Seit Januar 2016 ist Floriane Azoulay Direktorin des ITS. Die Direktorin / der Direktor wird seit 2012 direkt vom Internationalen Ausschuss ernannt. Knapp 240 Mitarbeiter waren zum 1. September 2018 beim ITS beschäftigt.
Aufgaben
Die Hauptaufgabe des ITS war bei seiner Gründung die Suche nach nichtdeutschen Personen im Gebiet des damaligen Deutschen Reiches sowie den deutsch besetzten Gebieten in der Zeit von 1933 bis 1945, die während des Zweiten Weltkrieges verschleppt worden waren oder aus anderen Gründen vermisst wurden. Der ITS gibt über folgende Opfergruppen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Auskunft:
- Menschen aller Nationalitäten, die zwischen 1933 und 1945 deportiert wurden und in Konzentrationslagern, Ghettos, Arbeitslagern und Gestapo-Gefängnissen inhaftiert waren
- Menschen, die in das damalige Reichsgebiet verschleppt wurden und Zwangsarbeit leisten mussten
- verschleppte Personen (Displaced Persons DP), die nach der Befreiung unter der Obhut internationaler Flüchtlingsorganisationen standen
- Kinder, die nach der Befreiung unter 18 Jahre alt waren und zu den Verfolgtengruppen gehörten
- Sowjetische Kriegsgefangene und italienische Militärinternierte sowie andere Kriegsgefangene, die in Konzentrationslager deportiert wurden oder Zwangsarbeit leisten mussten
Informationen über das Schicksal der Personen stammen unter anderen aus Dokumenten der Gestapo, Arbeitsbüchern, Krankenberichten, Registrierlisten in den Lagern, Durchgangslisten zu anderen Lagern, Sterbelisten, Emigrationslisten, Listen von Hilfsorganisationen.[4][5]
Anfragen – Auskünfte
Auskünfte zum Schicksal ehemals NS-Verfolgter werden an Überlebende, an ihre Angehörigen oder mit dem Einverständnis der Betroffenen an Drittpersonen erteilt.[6]
Ergibt sich aus den Nachforschungen die Feststellung des Todes einer Person, kann dies auf Antrag vom Sonderstandesamt Arolsen beurkundet werden. Die Dokumente im Archiv des ITS waren und sind bis heute im Rahmen von Entschädigungen sowie für den Nachweis von Rentenansprüchen wichtig. NS-Verfolgte mussten anhand von Bescheinigungen über Zwangsarbeit, Verfolgung, Haftzeiten sowie Verletzungen und Krankheit ihren Anspruch nachweisen. Das Ausstellen dieser Bescheinigungen war zum Beispiel in den späten 1950er und 1960er Jahren eine Hauptaufgabe des ITS. Zur verstärkten Nutzung des Internets für die Erteilung von Auskünften und die Akteneinsicht wurde 2016 die Website des ITS neu gestaltet.
Im Jahr 2015 erreichten den ITS mehr als 15.000 Anfragen. Sie kamen aus 74 Ländern. Besonders hoch ist das Interesse in Deutschland, in der Russischen Föderation, Polen, in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und Israel. In etwa 50 Prozent der Fälle kann der ITS dank seiner Dokumentation eine Auskunft erteilen und Dokumentenkopien zur Verfügung stellen. Vermehrt gehen Anfragen der zweiten und dritten Generation ein, die Informationen über das Schicksal ihrer Familienangehörigen suchen.
Über den bis heute aktiven Suchdienst des ITS werden pro Jahr in rund 30 Fällen Familien zusammengeführt, bei denen Angehörige sich durch Verschleppung, Zwangsarbeit oder Emigration während der NS-Zeit nie kennenlernen konnten (beispielsweise Halbgeschwister). Der ITS arbeitet dabei eng mit dem Netz der nationalen Suchdienste des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes zusammen. Zu den herausragenden Einzelschicksalen zählte dabei 2015 beispielsweise die Zusammenführung von Mutter und Tochter, die 1944 getrennt worden waren.[7] Während der Phase der Entschädigung von osteuropäischen Zwangsarbeitern über den Fonds der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zwischen 2000 und 2007 erreichten den ITS etwa 950.000 Anfragen. In der Folge baute sich ein großer Stau an Anfragen auf, der dem Ruf der Einrichtung zwischenzeitlich erheblichen Schaden zufügte. Insbesondere Anfragen, die nicht direkt mit dem Fonds zu tun hatten, blieben liegen.
Das Archiv ist auch Forschern zugänglich.[8]
Archiv
Bestände
Der Bestand des ITS ist mit rund 30 Millionen Dokumenten eine der weltweit größten Sammlungen von Unterlagen über zivile Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft.[9] Die Mitarbeiter des Internationalen Suchdienstes haben zur Ergänzung des Dokumentenbestandes viele Jahrzehnte mit Archiven im In- und Ausland zusammengearbeitet, um deren Bestand im Hinblick auf den eigenen Informationsbedarf zu sichten und gegebenenfalls Dokumente zu kopieren oder zu erwerben.[10]
In der Zentralen Namenkartei befinden sich Hinweise zu etwa 17,5 Millionen Menschen. Der Gesamtbestand des Archivs beträgt rund 26 laufende Papierkilometer (das heißt hochkant Blatt an Blatt aufgereihtes Papier) und umfasst rund 30 Millionen Dokumente.[11] Sie geben Aufschluss über das Ausmaß der Verfolgung durch das NS-Gewaltregime, die skrupellose Ausbeutung durch Zwangsarbeit und die Folgen des Zweiten Weltkrieges für Millionen von Flüchtlingen. Im Wesentlichen teilen sich die Bestände in die drei großen Bereiche Inhaftierung, Zwangsarbeit und Displaced Persons auf.[12] Unter den Dokumenten befinden sich erhalten gebliebene Akten mehrerer Konzentrationslager, Gefängnisse, Ghettos sowie Arbeitsbücher, Krankenakten, Versicherungsunterlagen, Meldekarten von Behörden, Krankenkassen und Arbeitgebern etc. und auch Akten von Lebensborn, Organisation Todt, Gestapo und SS.[13][14]
Aber auch Einzeldokumente von herausragender historischer Bedeutung wie beispielsweise die Listen der jüdischen Zwangsarbeiter, die der Industrielle Oskar Schindler vor dem Tod rettete.[15] Auch Dokumente von Anne Frank, Simon Wiesenthal, Konrad Adenauer u. a. finden sich in den Beständen.[16]
Effekten aus Lagern
Bei Effekten handelt es sich um persönliche Gegenstände, die Häftlingen bei ihrer Einlieferung ins Konzentrationslager abgenommen wurden. Der ITS bewahrt in seinem Archiv Effekten von rund 3.200 ehemals Inhaftierten, von denen circa 2.700 namentlich bekannt sind. Die Gegenstände haben in der Regel keinen materiellen, aber einen hohen ideellen Wert für die Familienangehörigen. Nicht selten sind sie ein letztes Erinnerungsstück. Unter den Effekten befinden sich Brieftaschen, Ausweispapiere, Fotos, Briefe, Urkunden sowie vereinzelt Modeschmuck, Zigarettenetuis, Eheringe, Uhren oder Füllfederhalter der ehemaligen KZ-Häftlinge. Sie stammen hauptsächlich aus den Konzentrationslagern Neuengamme (2.400) und Dachau (330). Daneben befinden sich Gegenstände einiger weniger Häftlinge der Gestapo Hamburg, aus den Konzentrationslagern Natzweiler und Bergen-Belsen sowie den Durchgangslagern Amersfoort und Compiègne darunter.
Der ITS verfolgt das Ziel, die Effekten an die Besitzer oder die Familien der NS-Verfolgten zurückzugeben. Jedes Jahr gelingt das in einigen Fällen. Die Zahl ist gestiegen, seitdem die Effekten 2015 mit Fotos in dem Online-Archiv des ITS veröffentlicht wurden und nun allen Interessierten weltweit die Suche möglich ist. Der ITS informiert auf seiner Website ausführlich über den Bestand der Effekten.[17][18][19][20]
Digitalisierung des Archivmaterials
Um die historisch wertvollen Dokumente für die nachfolgenden Generationen zu erhalten, ist die Digitalisierung, elektronische Indizierung und Speicherung des Archivmaterials ein weiterer wichtiger Teil der Arbeit des ITS. Diese begann nach der 1999 abgeschlossenen Digitalisierung der Zentralen Namenkartei. Nahezu alle Originaldokumente sind elektronisch eingelesen und recherchierbar. Die Digitalisierung der rund drei Millionen Korrespondenzfälle des ITS mit Opfern, ihren Angehörigen und Behörden ist in Arbeit.[21] Laut einem Beschluss des Internationalen Ausschusses können aber nur Mitgliedstaaten eine vollständige digitale Kopie der beim ITS vorhandenen Unterlagen erhalten.[22] Darüber hinaus wird der Erhaltungszustand der archivierten Dokumente durch Restaurierung und Konservierung so weit wie möglich bewahrt, um die betreffenden Unterlagen vor einem Informationsverlust zu schützen. Diese Maßnahmen umfassen vor allem die Entsäuerung zur Verhinderung von Papierzerfall, Delaminierungen, die Reparatur von mechanischen Beschädigungen sowie eine entsprechend geschützte Lagerung.
Findbücher
Um die Dokumente im Archiv des ITS für die Forschung zugänglich zu machen, hat der ITS im Dezember 2008 die Erschließung der Dokumente begonnen. Bislang bildete die Zentrale Namenkartei den Schlüssel zu den Unterlagen. Historiker fragen jedoch auch nach Orten, Ereignissen, Nationalitäten und Zusammenhängen. Grundsätzlich ist es das Ziel, onlinefähige Findbücher nach allgemein anerkannten fachlichen Archivstandards zu erarbeiten. Inzwischen hat der ITS mehrere Findbücher im Internet veröffentlicht.[23] Die Erschließung soll den Weg zu den Beständen und den Archivalien des ITS ebnen. Angesichts des Umfangs an Dokumenten wird dieser Prozess einige Jahre in Anspruch nehmen.
Das Online-Archiv des ITS
Zu den Aufgaben des ITS zählt es, die Dokumente des Archivs einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. 2015 hat die Einrichtung damit begonnen, nach und nach ausgewählte Bestände in einem Online-Archiv zu publizieren. Die Kriterien für die Veröffentlichung über das Portal sind vor allem der Grad der wissenschaftlichen Aufarbeitung und archivischen Erschließung. Die Dokumente sollen sowohl für die Forschung als auch für Betroffene, Angehörige und Nachfahren sowie Familienforscher, aber auch zum Beispiel im Rahmen von Schulprojekten interessant sein. Als erste drei Bestände wurden 2015 die Fotos der im Archiv aufbewahrten Effekten, Teilbestände von Akten des Kindersuchdienstes sowie Dokumente über die Todesmärsche online gestellt, für die eine georeferenzierte Darstellung auf einer Karte als Ansicht zur Verfügung steht. Auf der Karte sind alle Orte eingezeichnet, zu denen Dokumente vorliegen.[24]
Aktion „Every name counts – Jeder Name zählt“
Die Arolsen Archives starteten mit #everynamecounts Anfang 2020 zunächst als pädagogisches Projekt an Schulen. Bis Januar 2021 arbeiteten nach Auskunft des Archivs mehr als 11.000 Freiwillige aus aller Welt daran mit. Damit wolle man zum einen das „Gedenken aus der ritualisierten Erinnerungskultur herausbringen“, zum anderen würden die Daten auf diese Weise online verfügbar und recherchierbar sowohl für Forscher, aber auch für die Nachkommen der ehemaligen KZ-Häftlinge. Die Arolsen Archives riefen weltweit und in fünf Sprachen dazu auf, sich an dem Projekt „Jeder Name zählt“ zu beteiligen.
Dabei übertragen Privatleute aus der ganzen Welt von zuhause aus in ihren Computern mit einem besonderen Programm die Namen der Opfer aus digitalisierten Dokumenten in spezielle Online-Suchregister. Das Ziel: Künftig sollen Lebens- und Leidenswege von über 17,5 Millionen von den Nazis verfolgten Menschen online auffindbar sein. Im Jahr 2025 soll das Projekt abgeschlossen sein.[25][26]
Abgrenzung zu weiteren Archiven
Für das Schicksal von Kriegsgefangenen existiert in Genf die Zentrale Suchstelle (Central Tracing Agency) des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz als Nachfolgeeinrichtung der früher bestehenden Internationalen Zentralstelle für Kriegsgefangene. Suchanfragen werden bearbeitet.[27]
Archive und Nachforschungen zu Vertriebenen und deutschen Soldaten werden von anderen Suchdiensten betrieben. Nachforschungen nach vermissten deutschen Staatsangehörigen, sofern sie nicht als Opfer des Nationalsozialismus gelten, liegen in der Zuständigkeit des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes (DRK)[28] und Institutionen wie der Deutschen Dienststelle (WASt)[29]. Für Kriegstote der deutschen Wehrmacht gibt es den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge.[30]
Entstehung und Geschichte
Gründung und Vorläufer der Arolsen Archives
Als die Alliierten im Jahr 1943 den Ausgang des Zweiten Weltkrieges näher rücken sahen, wurden genauere Erhebungen über die Situation der Inhaftierten, Zwangsarbeiter und Flüchtlinge in Mitteleuropa angestellt. Dieser Aufgabe stellte sich das Hauptquartier der Alliierten Streitkräfte (Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force, SHAEF) und übernahm am 15. Februar 1944 die Arbeiten eines Zentralen Suchbüros, dessen Standort infolge des Kriegsverlaufs von London nach Versailles und anschließend nach Frankfurt am Main verlegt wurde. Nach dem Ende des Krieges ging die Leitung an die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) und im Juni 1947 an die International Refugee Organization (IRO) als deren Nachfolgeorganisation über. Bereits im Januar 1946 war der Sitz in die hessische Kleinstadt Arolsen, heute Bad Arolsen, verlegt worden, da diese in der geografischen Mitte der vier Besatzungszonen in Deutschland lag und über eine durch den Krieg kaum beschädigte Infrastruktur verfügte. Von Januar 1948 an wirkte der Suchdienst unter dem noch heute gültigen Namen „International Tracing Service“ (ITS).[31]
Auch in Arolsen richteten die Alliierten 1946 ein bis 1951 bestehendes DP-Camp ein. Sein Zweck war die Unterbringung von Displaced Persons, die ab 1946 für die UNRRA und das Central Tracing Bureau (CTB) arbeiteten, dem Vorläufer des ITS und der heutigen Arolsen Archives.[32]:S. 27 Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse arbeiteten die DPs in nahezu allen Bereichen des CTB/ITS, so vor allem in der Dokumenten- und Suchabteilung. Sie übernahmen Schreib- und Übersetzungsaufgaben, waren aber auch im Küchen- und Fahrdienste eingesetzt.[32]:S. 28
Von der alliierten zu deutschen Trägerschaft
Im April 1951 übernahm zunächst die Alliierte Hohe Kommission für Deutschland (Allied High Commission for Germany, HICOG) die Leitung des ITS. Aufgrund einer offiziellen Anfrage des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer an Paul Ruegger, zu der Zeit Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), war von 1955 an das IKRK für die Leitung zuständig. Der ITS steht unter der Aufsicht eines Internationalen Ausschusses, dem Vertreter von elf Ländern angehören. Zur rechtlichen Regelung dieser Zuständigkeiten und des Mandates des Suchdienstes war am 6. Juni 1955 ein entsprechender Vertrag zwischen den Regierungen der beteiligten Länder sowie eine Vereinbarung mit dem IKRK abgeschlossen worden. Für die Gültigkeit dieser als „Bonner Verträge“ bezeichneten Abkommen war nach einer zunächst bestehenden Befristung auf fünf Jahre und einer nochmaligen Verlängerung um weitere fünf Jahre schließlich am 5. Mai 1965 eine unbestimmte Dauer vereinbart worden. Im September 1990 verpflichtete sich die Bundesrepublik Deutschland, die Arbeit des ITS weiterhin zu gewährleisten. Die rechtliche Grundlage bilden seit Januar 2013 die Berliner Abkommen. Sie haben die Bonner Verträge abgelöst. Das IKRK hat sich Ende 2012 aus dem Management des ITS zurückgezogen, weil die neuen Aufgaben im Bereich Archiv und Forschung nicht zu den typischen Einsatzgebieten der humanitären Einrichtung zählen. Institutioneller Partner ist jetzt das Bundesarchiv.
Öffnung für die historische Forschung
Der Tätigkeitsschwerpunkt des ITS hat sich im Laufe seiner Geschichte von der Suche nach vermissten Personen verlagert zur Dokumentation in Form der Sammlung und Auswertung von Unterlagen sowie der Erteilung von Auskünften. Da das im Laufe dieser Arbeit entstandene Archiv auch für die historische Forschung von großem Interesse ist, wurde am 16. Mai 2006 ein Protokoll zur Änderung der Bonner Verträge angenommen, das einen entsprechenden Zugriff auf die Unterlagen des Suchdienstes ermöglicht. Dieses Protokoll musste durch die elf Mitgliedstaaten des Internationalen Ausschusses ratifiziert werden. Basierend auf dem Protokoll wurden auf der Jahresversammlung des Internationalen Ausschusses im Mai 2007 konkrete Zugangsregelungen festgelegt. Mit der Öffnung des Archivs für historische Forschungen werden den Mitgliedstaaten auf Anfrage Kopien des digitalisierten Bestandes zur Verfügung gestellt. Jedes Land legt die Empfängerinstitution selbst fest. Inzwischen haben sieben Staaten davon Gebrauch gemacht. Für die Vereinigten Staaten hat das United States Holocaust Memorial Museum in Washington eine solche Kopie erhalten, für Israel die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, für Polen das Nationale Institut des Gedenkens in Warschau, für Luxemburg das Centre de Documentation et de Recherche sur la Résistance, für Belgien das Generalstaatsarchiv in Brüssel, für Frankreich das Nationalarchiv in Pierrefitte-sur Seine und für Großbritannien die Wiener Library.
Im November 2007 erfolgte die Freigabe der Akten für die historische Forschung. Entsprechende Forderungen nach einer Öffnung des Archivs sowie einer Verbesserung des Zugangs durch Kopien der Datenbestände gab es seit vielen Jahren insbesondere von Opferinitiativen, von Verbänden von Holocaust-Überlebenden, von Politikern aus den USA und Israel sowie von Geschichtswissenschaftlern wie Paul A. Shapiro, dem leitenden Historiker des United States Holocaust Memorial Museum. Die durch die Verhandlungen des Änderungsprotokolls und durch den Ratifizierungsprozess entstandenen Verzögerungen sind von diesen Personen und Institutionen wiederholt kritisiert worden. Von Seiten des ITS wurde neben den sich aus den bestehenden Verträgen ergebenden Einschränkungen auch auf die Gesetzeslage in Deutschland zum Schutz von persönlichen Daten verwiesen. Aufgrund der internationalen Zuständigkeiten für den ITS war zwischen den verschiedenen Interessengruppen umstritten, in welchem Umfang die Archivbestände des ITS dem deutschen Datenschutzrecht tatsächlich unterliegen.
Rechtsgrundlagen
Die rechtliche Grundlage für die Arbeit des ITS bildet das in Berlin unterzeichnete Übereinkommen über den Internationalen Suchdienst vom 9. Dezember 2011. Das Übereinkommen hat die Bonner Verträge von 1955 und das Änderungsprotokoll von 2006 abgelöst, die bis zum 31. Dezember 2012 wirksam waren. Bis Ende 2012 bildeten die Bonner Verträge die Rechtsgrundlagen des Internationalen Suchdienstes, die im Juni 1955 abgeschlossen worden waren. Diese umfassten das Abkommen über die Einrichtung eines Internationalen Ausschusses durch die Regierungen Belgiens, Frankreichs, der Bundesrepublik Deutschland, Griechenlands, Israels, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande, dem Vereinigten Königreich und der Vereinigten Staaten, sowie die Vereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Internationalen Ausschuss für den Internationalen Suchdienst und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. Polen trat dem Internationalen Ausschuss im März 2000 ebenfalls bei, der damit aus elf Ländern besteht. Weitere relevante Abkommen und Vereinbarungen waren die Verlängerungs- und Änderungsprotokolle vom 23. August 1960 und vom 5. Mai 1965, das Übereinkommen vom 15. Juli 1993 über den Rechtsstatus des Internationalen Suchdienstes in Arolsen, die Geschäftsordnung des Suchdienstes in der Fassung vom Mai 2000 sowie das Protokoll zur Änderung der Bonner Verträge vom 16. Mai 2006, das die Öffnung des Archivs möglich machte.
Bis Ende 2012 unterhielt Frankreich beim ITS eine Verbindungsmission (FVM), die der Archivdirektion des Auswärtigen Amtes in Paris unterstand. Hauptaufgabe der FVM war die Hilfe für französische Staatsangehörige bei Anfragen an den ITS. Diese wurden von der FVM gesammelt sowie registriert und neben dem ITS auch an andere relevante Stellen wie dem IKRK in Genf übergeben. Der ITS arbeitete darüber hinaus mit der französischen Verbindungsmission auch bei Anfragen ausländischer Staatsangehöriger zusammen, sofern diese sich auf einen Aufenthalt der Betroffenen während des Zweiten Weltkrieges auf französischem Staatsgebiet beziehen.
Würdigungen der Institution ITS
- Am 16. Oktober 2013 wurde der ITS von der UNESCO in das Register des Weltdokumentenerbes (Memory of the World) aufgenommen.
Quellen
- Liste des Weltdokumentenerbes UNESCO
- Website des ITS; online unter ITS Bad Arolsen
- Website des Bundesarchivs Bundesarchiv.de
- Website des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz; online unter ICRC.org
- Jahresberichte des ITS; online als PDF-Dateien unter Jahresberichte des ITS
- Rechtsgrundlagen des Internationalen Suchdienstes; online als PDF-Dateien unter Berliner Übereinkommen
- Frequently Asked Questions zum Archiv des Internationalen Suchdienstes auf der Website des United States Holocaust Memorial Museums; online unter [1]
Literatur
- Martin Weinmann (Hrsg.): Das nationalsozialistische Lagersystem. CCP.[33] Weitere Beiträge von Anne Kaiser und Ursula Krause-Schmitt. Zweitausendeins, Frankfurt 1990. (3. Auflage. 1998, ISBN 3-86150-261-5).[34]
- Caroline Moorehead: Dunant's Dream: War, Switzerland and the History of the Red Cross. HarperCollins, London 1999, ISBN 0-00-638883-3, S. 518–522.
- Charles-Claude Biedermann: Über 10,5 Millionen. 60 Jahre Geschichte und Nutzen der beim Internationalen Suchdienst verwahrten personenbezogenen Dokumentation über die ehemaligen zivilen Verfolgten des NS-Regimes. ITS, Bad Arolsen 2003.
- Frank-Uwe Betz: Das andere Mahnmal. In: Die Zeit. Ausgabe 21 vom 19. Mai 2005. (online)
- Jan Erik Schulte: Nationalsozialismus und europäische Migrationsgeschichte. Das Archiv des Internationalen Suchdienstes in Arolsen. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), S. 223–232.
- Anne Kunze: Registraturen der Hölle. In: Die Zeit. Ausgabe 25 vom 14. Juni 2012 (online)
- Seit 2012 erscheinen unter dem Titel „Freilegungen“ im Wallstein Verlag die Jahrbücher des ITS mit Aufsätzen zahlreicher Autoren über das Forschungspotenzial sowie die Arbeit des ITS.[2]
- Mit der Reihe „Fundstücke“ weist der ITS auf wenig bekannte, aber historisch bedeutsame Dokumente im Archiv hin. [3]
- Susanne Urban: „Mein einziges Dokument ist die Nummer auf der Hand …“. Aussagen Überlebender der NS-Verfolgung im International Tracing Service. Metropol, Berlin 2018. ISBN 978-3-86331-429-3.
- Henning Borggräfe, Christian Höschler und Isabel Panek (Hrsg.): Ein Denkmal aus Papier: Die Geschichte der Arolsen Archives, Ausstellungskatalog, Bad Arolsen, 2019.
- Isabel Panek: Zwischen Wartezeit und Neuanfang: Displaced Persons in Arolsen. In: Christian Höschler Christian und Isabel Panek (Hrsg.): Zweierlei Suche: Fundstücke zu Displaced Persons in Arolsen nach 1945, Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution, Bad Arolsen 2019. (Online)
Weblinks
- Wortlaut des Übereinkommens über den Internationalen Suchdienst (PDF; 4 MB)
- Homepage der Arolsen Archives
- The ITS and the ICRC
- ITS Inventory Search, United States Holocaust Memorial Museum
- Wolfgang Benz: Kein »größtes Holocaust-Archiv der Welt« – Der Internationale Suchdienst Arolsen und die historische Forschung – Dokument der Zeitschrift Tribüne (PDF; 40 kB)
- Berliner Abkommen über den Internationalen Suchdienst vom 9. Dezember 2011
- Bestände des ITS im Archivportal-D
- Online-Archiv des ITS
- Audio: Jan Tussing: Wie Arolsen Archives Nazi-Opfer vor dem Vergessen bewahren will. hessenschau.de, 27. Januar 2021 (abgerufen am 31. Januar 2021)
Einzelnachweise
- ↑ Pressemeldung des ITS www.its-arolsen.org, (abgerufen am 23. November 2016)
- ↑ Archives of the International Tracing Service www.unesco.org, (abgerufen am 19. Juni 2013)
- ↑ (fr) Laurent Guillet: Il s'appelait Joseph. Editions Laurent Guillet, Limerzel 2011. ISBN 978-2-918588-03-0. S. 325. (Lager-Stationen eines französischen Kriegsgefangenen bis zu seinem Tod, Vorgehen bei der Recherche).
- ↑ (fr) Laurent Guillet: Il s'appelait Joseph. Editions Laurent Guillet, Limerzel 2011. ISBN 978-2-918588-03-0. S. 323–341. (Lager-Stationen eines französischen Kriegsgefangenen bis zu seinem Tod, Vorgehen bei der Recherche).
- ↑ Sammlung des ITS
- ↑ Formular für Anfragen von Überlebenden und Familienangehörigen
- ↑ – Familienzusammenführung Mutter und Tochter
- ↑ Formular für Forschungsantrag
- ↑ Das Archiv des ITS – Bestände Übersicht nach Themen
- ↑ Charles-Claude Biedermann: Über 10,5 Millionen – 60 Jahre Geschichte und Nutzen der beim Internationalen Suchdienst verwahrten personenbezogenen Dokumentation über die ehemaligen zivilen Verfolgten des NS-Regimes. ITS, Bad Arolsen 2003, S. 72.
- ↑ Die Zentrale Namenkartei its-arolsen.org, (abgerufen am 23. November 2016)
- ↑ Bestandsüberblick its-arolsen.org, (abgerufen am 23. November 2016)
- ↑ Charles-Claude Biedermann: Über 10,5 Millionen – 60 Jahre Geschichte und Nutzen der beim Internationalen Suchdienst verwahrten personenbezogenen Dokumentation über die ehemaligen zivilen Verfolgten des NS-Regimes. ITS, Bad Arolsen 2003, „Dokumentenbestand des Internationalen Suchdienstes“ S. 27–37 & „Sachdokumente“, S. 61–64.
- ↑ ITS Jahresbericht 2008; S. 16 pdf online (abgerufen am 23. November 2016)
- ↑ Opfer des Nationalsozialismus 17,5 Millionen Schicksale, ++online. FAZ, 6. August 2007, archiviert vom Original am 7. März 2016 .
- ↑ ITS Jahresbericht 2009; S. 11 pdf online (abgerufen am 23. November 2016)
- ↑ Link zum Online-Archiv des ITS mit allen Effekten.
- ↑ Maurice Bonkat: Ich bin so dankbar. Internationaler Suchdienst übergibt Füllfederhalter. In: Stimme&Weg. 4/2012, S. 8–9.
- ↑ (fr) Laurent Guillet: Il s'appelait Joseph. Editions Laurent Guillet, Limerzel 2011. ISBN 978-2-918588-03-0. S. 327. (Lager-Stationen eines französischen Kriegsgefangenen bis zu seinem Tod, Vorgehen bei der Recherche).
- ↑ Effekten. 2017-01-24 (https://www.its-arolsen.org/archiv/effekten/).
- ↑ Digitalisierung des Archivs its-arolsen.org, (abgerufen am 23. November 2016)
- ↑ Die Weitergabe digitaler Daten (abgerufen am 23. November 2016)
- ↑ Findbücher: Verzeichnis von Themengebieten.
- ↑ Christian Groh und René Bienert: Ergebnisse auf Knopfdruck? Das Digitale Archiv des ITS – Erfahrungen und Überlegungen. | Medaon. Abgerufen am 30. Januar 2017.
- ↑ hessenschau.de: Erinnerung an NS-Opfer: Jeder Name zählt! (Memento vom 5. Februar 2021 im Internet Archive) 27. Januar 2021 (abgerufen am 31. Januar 2021)
- ↑ Arolsen Archives: Baut mit uns ein digitales Denkmal. #everynamecounts. (abgerufen am 31. Januar 2021)
- ↑ (en) Contacting the ICRC archives: Agency archives/Prisoners of war (Kriegsgefangene)
- ↑ Suchanfragen beim Deutschen Roten Kreuz stellen. München: Verschollene, Vermisste Zweiter Weltkrieg. Hamburg: Aussiedler, Spätaussiedler.
- ↑ Deutsche Dienststelle (WASt)
- ↑ Volksbund Gräbersuche online
- ↑ Für eine ausführlichere Darstellung der Geschichte der Arolsen Archives siehe: Henning Borggräfe, Christian Höschler und Isabel Panek (Hrsg.): Ein Denkmal aus Papier.
- ↑ 32,0 32,1 Isabel Panek: Zwischen Wartezeit und Neuanfang
- ↑ Catalogue of Camps and Prisons in Germany and German-Occupied Territories, Sept. 1st, 1939 – May 6th 1945. Arolsen, July 1949. 1st Issue. Prepared by ITS, Record branch, Documents Intelligence Section (CCP)
- ↑ über die Geschichte des Dokumentenbands, zuerst (bis 1990) nur behördenintern bekannt, da inhaltlich zu brisant, informiert, wenn auch in einem schwer lesbaren Umbruch diese Online-Quelle (Memento vom 29. Juli 2014 im Internet Archive) (PDF; 466 kB). Die Druck-Ausgaben 1989f. sind auch dem Bundesarchiv (Deutschland) unter „Überblick Haftstättenverzeichnisse“ bekannt, das hier weitere Stätten listet, nach Ländern sortiert
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