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Grammatikalisierung

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Grammatikalisierung bezeichnet einen Prozess des Sprachwandels, bei dem eine sprachliche Einheit ihre lexikalische Bedeutung allmählich verliert und zunehmend als morphosyntaktischer Marker verwendet wird. Ein typisches Beispiel ist der Übergang von Verben zu Hilfsverben, wie z. B. beim engl. Verb to go, wenn es gebraucht wird, um ein kurz bevorstehendes Ereignis auszudrücken: We are going to leave. vs. We are going to London.

Grammatikalisierung als sprachliche Universalie

Die Grammatikalisierung von Bewegungsverben zum Ausdruck der Zukunft findet sich in vielen Sprachen der Erde, ohne dass diese miteinander verwandt wären oder jemals in Kontakt zueinander gestanden hätten. Deshalb handelt es sich womöglich um eine universale Erscheinung, die möglicherweise mit der Beschaffenheit der menschlichen Kognition zusammenhängt. Die Untersuchung universaler Entwicklungstendenzen bei der Grammatikalisierung und die Aufdeckung von typischen sogenannten Grammatikalisierungspfaden (also z. B. Bewegungsverb → Futurum), die also sprachliche Universalien sein könnten, führte zu Versuchen, allgemeine Theorien der Grammatikalisierung zu postulieren. Die Grammatikalisierungstheorie – also die systematische Beschäftigung mit dem Universaliencharakter der Grammatikalisierung – ist ein wichtiges Teilgebiet der Sprachtypologie.

Mechanismen der Grammatikalisierung

Auf dem Weg zur Grammatikalisierung wirken auf eine sprachliche Einheit verschiedene Mechanismen, deren Folgen nicht wieder rückgängig gemacht werden können. Man sagt, Grammatikalisierung ist unidirektional. Diese vier Mechanismen werden auch als die „vier Hauptphasen der Grammatikalisierung“ bezeichnet (Heine/Kuteva 2002, S. 2).

Desemantisierung

Grammatikalisierung beginnt mit dem Verlust lexikalischen Inhalts der grammatikalisierten Einheit (Desemantisierung): das englische Hilfsverb to go im going-to-future hat die Bedeutung 'gehen' abgelegt. Dies ist erklärbar mit dem Konzept, dass sich Bedeutungen aus verschiedenen Semen (Bedeutungsanteile) zusammensetzen. Enthält das Verb "to go" in der Bedeutung "gehen" ein Sem für (Weiter-)Bewegung und ein Sem für den Bezug auf die Räumlichkeit (unter anderen), so ist letzteres unnötig oder sogar störend für den Ausdruck der grammatischen Kategorie Tempus und wird für die Futur-Bedeutung aufgegeben. Das Sem für (Weiter-)Bewegung erlaubt bei Wegfall des Räumlichkeits-Sems den Gebrauch als Baustein der Futur-Bildung.

Extension

Durch den Verlust einer lexikalischen Eigenbedeutung fallen auch Gebrauchsbeschränkungen der grammatikalisierten Einheit weg, so dass diese in breiteren Kontexten Verwendung finden kann (Extension), oft auch zusammen mit dem Gegenteil der ursprünglichen Bedeutung.

Komm her (zu mir) und mach das > Komm und mach das > Komm, mach das > Komm, geh
frz. Il ne va pas 'Er geht keinen Schritt' > 'Er geht nicht'. Heute ist diese zweigliedrige Negationsbildung ne ... pas mit allen Verben kombinierbar.

Dekategorialisierung

In ihrer neuen Funktion brauchen die grammatikalisierenden Einheiten manche ursprünglichen Eigenschaften nicht mehr und bauen diese ab.

  • Die Einheiten verlieren ihre Fähigkeit zur Flexion, zur Derivation, oder Modifikatoren zu sich zu nehmen.
  • Der Status als Freie Form und syntaktische Bewegungsfreiheit können verloren gehen. Die Einheit wird zunehmend abhängig von anderen Formen, eine Entwicklung zum Klitikon oder Affix wird möglich.
  • Es kann nicht mehr anaphorisch auf die Einheit Bezug genommen werden und
  • Die Einheit verliert frühere Mitglieder in ihrem „Herkunfts-Paradigma“ oder wechselt von einer offenen Klasse (Nomina) zu einer geschlossenen (grammatische Funktionswörter).

Nicht immer gehen alle diese Eigenschaften verloren, manchmal ist es durchaus sinnvoll, sie zu erhalten. Ein neu entstandenes englisches oder deutsches Auxiliar kann etwa nach wie vor flektiert werden. Oder der Prozess der Dekategorialisierung läuft noch und manche Eigenschaften sind noch erhalten.

Erosion

Der Verlust an lexikalischem Inhalt und der häufigere Gebrauch führen oft zum Verlust an lautlicher Masse. Dieser Verlust wird als Erosion bezeichnet. Er kann sogar bis zum völligen Schwund der Einheit führen.

Die Grammatikalisierungsskala

Eine Einheit, die grammatikalisiert wird, macht auf ihrem Weg verschiedene Stadien im Bereich der Grammatik einer Sprache durch. Je weiter die Einheit auf der Skala fortgeschritten ist, desto stärker ist sie grammatikalisiert.

Syntaktisierung

Am Anfang wird eine häufig auftretende syntaktische Konstruktion umgedeutet (Reanalyse). Die Desemantisierung setzt ein und durch die Extension ändert sich die Möglichkeit der Satzumstellung und/oder der Ergänzung.

He’s going to sleep 'Er geht schlafen' oder 'Er wird schlafen'
He’s slowly going to sleep 'Er geht langsam schlafen'
He’s going to sleep deeply soon 'Er wird bald tief schlafen'

Extension: He’s going to come

Morphologisierung

Die Morphologisierung kann in zwei Teilprozesse aufgespalten werden: die Klitisierung und die Fusion. Während der Klitisierung wird die lautlich reduzierte Einheit aufgrund der Frequenzzunahme zum Klitikon. Anfangs besteht zwischen der klitisierten und der getrennten Form kein Bedeutungsunterschied.

Was machst du? = Was machste?
Ich steige auf das Dach = Ich steige aufs Dach

Mit der Zeit können sich jedoch unterschiedliche Bedeutungen entwickeln.

Ich gehe zu der Schule vs. Ich gehe zur Schule

Durch den Prozess der Fusion wird eine Abtrennung der grammatikalisierten Einheit (des Klitikons) unmöglich, an deren Ende ist sie ein Affix. Beispielsweise nimmt man an, dass das Suffix -te zum Ausdruck der Vergangenheit im Deutschen aus einer Verbindung eines Verbs mit dem Hilfsverb tun entstanden ist (salben-tat, salbe-tat, salb-te). Das Suffix -te kann nicht mehr abgetrennt werden.

Demorphemisierung

Einheiten, die den Status eines Affixes erreicht haben, können lautliche Assimilationen wie zum Beispiel Umlaut hervorrufen. Die Information der grammatikalisierten Einheit wird hierbei in die Wurzel einer anderen Einheit integriert. Schwindet nun das Suffix durch Erosion, wird die Information nicht mehr durch ein einzelnes Morphem ausgedrückt, es hat eine Demorphemisierung stattgefunden (z. B. Mutter – Mütter).

Schwund

Führt die Erosion so weit, dass die grammatikalisierte Einheit nicht mehr vorhanden ist, spricht man vom Schwund. In diesem Fall ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eine neue Einheit zum Ausdruck der Information herbeigrammatikalisiert wird, und die Grammatikalisierung beginnt von Neuem.

Grenzfälle

Da Sprache ständig im Wandel begriffen ist und Grammatikalisierung Schritt für Schritt stattfindet, gibt es viele Fälle, in denen schwer entschieden werden kann, ob ein Element nun schon „grammatisch“ oder noch „lexikalisch“ ist, da die Reanalyse im vollen Gange ist. Dies ist beim sogenannten Rezipientenpassiv im Deutschen der Fall.

Er bekommt das Auto von mir geliehen
= Ich leihe ihm das Auto oder
= Er bekommt das Auto von mir im geliehenen Zustand (leihweise)

Dass solche „in der Schwebe“ befindlichen Fälle formal nicht entscheidbar sind, stellt die Korrektheit der theoretischen Voraussetzungen des Begriffs der Grammatikalisierung infrage. Lexikalisch = produktiv-offen und grammatisch = abgeschlossen-konventionalisiert sind polare Gegensätze. Mit ihnen allein kann man nur bereits abgeschlossenen Sprachwandel erfassen.

Entscheidbar wird der obige Fall erst durch Rückgriff auf das metasprachliche Bewusstsein der Sprecher einer Sprache, die damit einschätzen können, ob eine solche Konstruktion als noch metaphorisch-lebendig oder bereits als formal-erstarrt „empfunden“ wird.

Entwicklungsbeispiel: Das deutsche Perfekt von morgen

Durch Extrapolation laufender Sprachentwicklungen, die typische Etappen einer Grammatikalisierung zeigen, kann man künftige morphologische Formen vorhersagen. Die Zukunft mag diese Formen hervorbringen oder nicht, weil unerwartete Entwicklungen stattfinden können; Prognosen sind hier immer unsicher.

Beispiel einer Grammatikalisierung

Beispielhaft sei hier eine – wie gesagt nur mögliche – Weiterentwicklung des heutigen deutschen Perfekts angegeben, in dem die typischen Grammatikalisierungschritte stattfinden:

Ausgangspunkt: Desemantisierte Hilfsverben sein und haben

Das Perfekt der deutschen Gegenwartssprache wird gebildet mit den desemantisierten – also in ihrer lexikalischen Bedeutung als Hilfsverben eingeschränkten – grammatischen Formatoren sein und haben

„ich bin gewesen
„ich habe gefunden

Das deutsche Perfekt hat viele Funktionen und tritt so auch frequent auf, auch in Nebensätzen:

„…, weil ich gewesen bin“
„…, weil ich gefunden habe“

1. Phase: Klitisierung

Wegen der ständig gebrauchten Verbindung Lexem + Formator in solcher Reihenfolge wird der Formator Hilfsverb (wir nehmen hier haben) aus sprachökonomischen Gründen phonologisch geschwächt und klitisiert, dabei wird die Endung -en des Partizips getilgt („verschluckt“):

„weil ich gefund(n)-hab(e)

2. Phase: Entwicklung zum Suffix

Die Verbindung Lexem-Enklitikon wird immer stärker, der initiale Laut h des Hilfsverbs wird getilgt („Entaspiratisierung“) und der Formator verliert dadurch seinen Status als freies Lexem:

„weil ich gefund-(h)ab

Aus einem Enklitikon wird somit ein Suffix, ein Flexiv für das grammatische Morphem 1. Person Singular Indikativ Perfekt Aktiv. Es findet also eine Resynthetisierung statt.

dt. finden neu finden
1. Pers. Sing. ich habe gefunden gefind-(h)ab
2. Pers. Sing. du hast gefunden gefind-(h)ast
3. Pers. Sing. er hat gefunden gefind-(h)at
1. Pers. Pl. wir haben gefunden gefind-(h)amen < haben
2. Pers. Pl. ihr habt gefunden gefind-(h)abt
3. Pers. Pl. sie haben gefunden gefind-(h)a(be)n < haben

Wir setzen wie ersichtlich hier und im Folgenden voraus, dass die 1. und 3. Person Plural, die im heutigen Deutschen dieselbe Hilfsverbform benutzen („wir haben“, „sie haben“) dennoch einen verschiedenen Formator entwickeln („-amen“, „-an“).

3. Phase: Extension

Nun erfolgt eine semantische Extension (oder Analogie). Verben, die früher das Perfekt nur mit sein bilden konnten, nehmen ebenfalls die entwickelte Endung an:

„ich gewesab“ = ich bin gewesen

Die im invertierten Nebensatz entstandenen Formen setzen sich auch im Hauptsatz durch. Nehmen wir weiter an, dass sich paradigmatischer Ausgleich durchsetzt (hier durch Abbau des Ablauts und Regularisierung). Weil die neuen Endungen je nach Person verschieden und die Formen also unterscheidbar sind, werden die Personalpronomina als Marker von Person und Numerus unnötig, es entwickle sich aus sprachökonomischen Gründen eine Pro-Drop-Sprache. Man erhält das folgende Paradigma:

dt. finden neu finden
1. Pers. Sing. ich habe gefunden gefindab
2. Pers. Sing. du hast gefunden gefindast
3. Pers. Sing. er hat gefunden gefindat
1. Pers. Pl. wir haben gefunden gefindamen
2. Pers. Pl. ihr habt gefunden gefindabt
3. Pers. Pl. sie haben gefunden gefindan
dt. sein neu sein
1. Pers. Sing. ich bin gewesen gewesab
2. Pers. Sing. du bist gewesen gewesast
3. Pers. Sing. er ist gewesen gewesat
1. Pers. Pl. wir sind gewesen gewesamen
2. Pers. Pl. ihr seid gewesen gewesabt
3. Pers. Pl. sie sind gewesen gewesab

Andere Entwicklungswege des Beispiels

Das gegebene Beispiel gibt eine von vielen Möglichkeiten der Entwicklung. Es kann sich etwa der Ablaut erhalten. Oder es bleiben aus dem Hilfsverb haben wie aus dem Hilfsverb haben erhalten, sie entwickeln sich auseinander zu Allomorphen, usw.

Weitere Entwicklung des Beispiels

Eine analytische Form verdrängt die älteren, es setzt ein Schwund ein. Über sie kann nichts gesagt werden, weil sie sich – wenn überhaupt – erst zeigen wird, sobald der beschriebene Grammatikalisierungsverlauf vollendet ist und dann erst außer Gebrauch kommt.

Literatur

  • Gabriele Diewald: Grammatikalisierung. Eine Einführung in Sein und Werden grammatischer Formen. Niemeyer, Tübingen 1997, ISBN 3-484-25136-0 (Germanistische Arbeitshefte 36).
  • Heiko Girnth: Untersuchungen zur Theorie der Grammatikalisierung am Beispiel des Westmitteldeutschen. Niemeyer, Tübingen 2000, ISBN 3-484-31223-8 (Reihe germanistische Linguistik 223), (Zugleich: Mainz, Univ., Habil.-Schr., 1999)
  • Haspelmath Martin: Why is Grammaticalization Irreversible? In: Linguistics. 37, 6, 1999, ISSN 0024-3949, S. 1043–1068, online (PDF; 161 KB).
  • Bernd Heine, Reh Mechthild: Grammaticalization and Reanalysis in African Languages. Buske, Hamburg 1984, ISBN 3-87118-630-9.
  • Bernd Heine: Grammaticalization. In: Brian D. Joseph, Richard D. Janda (Hrsg.) The Handbook of Historical Linguistics. Blackwell, Malden MA u. a. 2003, ISBN 0-631-19571-8, S. 575–601 (Blackwell handbooks in linguistics).
  • Bernd Heine, Tania Kuteva: World Lexicon of Grammaticalization. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2002, ISBN 0-521-80339-X.
  • Bernd Heine, Tania Kuteva: The Genesis of Grammar. A Reconstruction. Oxford University Press, Oxford 2007, ISBN 978-0-19-922777-8 (Studies in the evolution of language 9 = Oxford linguistics).
  • Bernd Heine, Ulrike Claudi, Friederike Hünnemeyer: Grammaticalization. A Conceptual Framework. University of Chicago Press, Chicago IL u. a. 1991, ISBN 0-226-32515-6
  • Paul J. Hopper, Elizabeth Closs Traugott: Grammaticalization. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 1993, ISBN 0-521-36655-0 (Cambridge textbooks in linguistics).
  • Christian Lehmann: Thoughts on Grammaticalization. Revised and expanded version. LINCOM Europa, München (recte: Unterschleissheim) u. a. 1995, ISBN 3-929075-50-4 (LINCOM studies in theoretical linguistics 1).
  • Alexandra N. Lenz: Zur Grammatikalisierung von „geben“ im Deutschen und Letzebuergeschen. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik. 35, 1/2, 2007, ISSN 0301-3294, S. 52–82.
  • Alexandra N. Lenz: „Wenn einer etwas gegeben bekommt.“ Ergebnisse eines Sprachproduktionsexperiments zum Rezipientenpassiv. In: Franz Patocka, Guido Seiler (Hrsg.): Dialektale Morphologie, dialektale Syntax. Beiträge zum 2. Kongress der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen, Wien, 20.–23. September 2006. Edition Präsens, Wien 2008, ISBN 978-3-7069-0403-2, S. 155–178.
  • Antoine Meillet: L'évolution des formes grammaticales. in: Scientia (Rivista di Scienza) 12, No. 26, 6, 1912, ISSN 0036-8687, S. 384–400 (Wiederabdruck in: A. Meillet: Linguistique historique et linguistique générale. Band 1. Champion, Paris 1948, S. 130–148 (Collection linguistique 8)).
  • Robert Mroczynski: Grammatikalisierung und Pragmatikalisierung. Zur Herausbildung der Diskursmarker „wobei“, „weil“ und „ja“ im gesprochenen Deutsch. Stauffenburg Verlag, Tübingen 2012.
  • Renata Szczepaniak: Grammatikalisierung im Deutschen. Eine Einführung. 2. Auflage, Narr-Verlag, Tübingen 2011, ISBN 978-3-8233-6666-9.

Weblinks

Wiktionary: Grammatikalisierung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
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