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Hikikomori
Als Hikikomori (jap. ひきこもり, 引き籠もり oder 引き篭り, „sich einschließen; gesellschaftlicher Rückzug“) werden in Japan Menschen bezeichnet, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren. Der Begriff bezieht sich sowohl auf das soziologische Phänomen als auch auf die Betroffenen selbst, bei denen die Merkmale sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können.
Obwohl akuter gesellschaftlicher Rückzug in Japan Jungen und Mädchen gleichermaßen zu betreffen scheint, sind es überwiegend männliche Personen, die mit ihrem Verhalten Besorgnis oder Aufmerksamkeit erregen. In Familien mit mehreren Kindern ist es am häufigsten der älteste Sohn.
Definition und Größenordnung
Das japanische Gesundheitsministerium definiert als Hikikomori eine Person, die sich weigert, das Haus ihrer Eltern zu verlassen, und sich für mindestens sechs Monate aus der Familie und der Gesellschaft zurückzieht. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen Hikikomori für Jahre oder sogar Jahrzehnte in dieser selbst gewählten Isolation bleiben.
Beschrieben wurde das Phänomen erstmals 1998 durch den japanischen Psychologen Tamaki Saitō, der auch den Begriff prägte.[1][2] Er behauptete, es gäbe in Japan (ca. 127 Millionen Einwohner) mehr als eine Million Hikikomori. Das Gesundheitsministerium gibt in einer vorsichtigeren Schätzung nur 50.000 Hikikomori an, ein Drittel davon älter als 30 Jahre. Eine Internetumfrage des Fernsehsenders NHK führt für 2013 zu einer Schätzung von 1,6 Mio. Betroffenen.[3]
Ursachen
Ein Hikikomori beginnt üblicherweise als Schulverweigerer (登校拒否, tōkōkyohi). Junge japanische Erwachsene fühlen sich von den hohen Erwartungen, die die Gesellschaft an sie hat, häufig überfordert. Versagensangst und das Fehlen eines ausgeprägten Honne und Tatemae (grob übersetzt die Fähigkeit, zwischen „öffentlichem Gesicht“ und „wahrem Ich“ zu unterscheiden und mit den täglichen Paradoxien des Erwachsenenlebens umzugehen) drängen sie in die Isolation. Die Gemeinsamkeit der Hikikomori, am Übergang von Jugend und Kindheit in die Welt der Erwachsenen zu scheitern, wird von vielen Psychologen mit dem Fehlen von Transformations- und Initiationsritualen im modernen Japan begründet.
Einflussfaktoren
Die Entwicklung zum Hikikomori wird im Wesentlichen durch drei Faktoren beeinflusst:
- Finanzielle Situation: Die wohlhabende Mittelschicht in Japan hat die finanziellen Möglichkeiten, auch ein erwachsenes Kind noch angemessen zu versorgen. Bei finanziell schlechter gestellten Familien treten die Kinder dagegen früher in das Arbeitsleben ein.
- Familiäre Verhältnisse: Eltern erkennen oft die beginnende Isolation ihres Kindes nicht oder reagieren nicht angemessen darauf. Auch ein Verwöhnen des Kindes oder gar eine beiderseitige Abhängigkeit, wie sie vor allem in der Mutter-Sohn-Beziehung auftritt (in Japan als Amae bezeichnet), beeinträchtigt eine Selbstständigkeit der Jugendlichen.
- Situation auf dem Arbeitsmarkt: Die langfristige wirtschaftliche Stagnation hat den japanischen Arbeitsmarkt grundlegend verändert. Konnten sich frühere Arbeiter- und Angestelltengenerationen noch auf eine lebenslange Anstellung in ihrer Firma verlassen, so sind heutige Berufseinsteiger bei ihrer Jobsuche oft erfolglos. Die Auflösung und Neuausrichtung des japanischen Arbeitsmarktes zwingt zu einer Umorientierung der traditionellen Lebensziele.
Druck in der Schule
Das moderne japanische Schulsystem verlangt von seinen Schülern viel Arbeit und ist sehr stark auf Auswendiglernen ausgerichtet. Schon in den 1960er-Jahren begann man, in jeder Stufe des Schulsystems (sogar in der Vorschule) Aufnahmeprüfungen einzuführen. Für die Aufnahmeprüfung einer Universität nehmen sich manche Prüflinge zur Vorbereitung sogar ein ganzes Jahr Zeit. Erst 1996 wurden vom Bildungsministerium Gegenmaßnahmen eingeleitet, um den Schülern mehr kreativen Freiraum zu geben und die Schulwoche von sechs auf fünf Tage und den Tagesplan um zwei Fächer zu kürzen. Die neuen Lehrpläne orientieren sich mehr an westlichen Schulsystemen. Diese Änderungen kamen jedoch sehr spät: Ehrgeizige Eltern schicken ihre Kinder seither vermehrt auf Privatschulen, um dem „laxen“ System der öffentlichen Schulen zu entkommen.
Auch von Mitschülern wird Druck auf einzelne Schüler ausgeübt. Gründe für dieses Ijime (besondere Form des Mobbings in Japan) können Aussehen, schulische und sportliche Leistungen sowie Ethnie, soziale Herkunft oder sogar längere Aufenthalte im Ausland sein.
Symptome
Die Symptome des Hikikomori beginnen schleichend und führen bei Vollausprägung zum vollständigen Rückzug. Dabei sind die wichtigsten Schritte Verlust der Lebensfreude, Verlust von Freunden, zunehmende Unsicherheit, Scheu und abnehmende Kommunikationsbereitschaft.
Hikikomori ziehen sich meist in einen einzigen Raum zurück und kapseln sich von der Umwelt ab. Sie verbringen den Tag mit Schlafen und sind vermehrt nachtaktiv. Einige schaffen es, ihr Zimmer nachtsüber zu verlassen, andere verbringen auch die ganze Nacht vor dem Computer oder Fernseher.
Verhalten der Eltern
Einen Hikikomori in der Familie zu haben, ist in Japan mit einem starken Stigma behaftet, und die Angst vor einer öffentlichen Demütigung kann übersteigerte Ausmaße annehmen. Die meisten Eltern warten einfach ab, ob sich ihr Kind wieder von alleine der Gesellschaft annähert. Falls sie überhaupt aus eigenem Antrieb Schritte einleiten, können zuvor lange Zeitspannen vergehen. Auch die traditionell enge Mutter-Kind-Beziehung trägt zu einer Verschleppung der Behandlung bei.
Behandlung
Es gibt unterschiedliche Ansichten zur Behandlung von Hikikomori: Japanisch orientierte Methoden beinhalten eher zu warten, während westlich orientierte Methoden Hikikomori aktiv in die Gesellschaft zurückbringen wollen – teils mit ungewöhnlichen Verfahren, die eine mehrjährige Trennung von Kindern und Eltern bedeuten können.
Immer mehr therapeutische Einrichtungen in Japan spezialisieren sich auf Hikikomori. Es gibt zwei Hauptrichtungen:
- Der psychiatrische Weg sieht meist einen längeren stationären Aufenthalt vor, um die Verhaltens- oder mentale Störung zu behandeln. Dabei werden auch Medikamente eingesetzt.
- Der sozialpädagogische Weg besteht aus einer Loslösung aus dem gewohnten Umfeld und der Integration in Wohngemeinschaften mit anderen Hikikomori, bei denen die länger Anwesenden den Neulingen helfen sollen, sich wieder der Gesellschaft anzunähern und eigenständig zu leben.
Internationale Vergleiche
International wird eine ähnliche Symptomatik im ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation als Sozialphobie (F40.1) oder als ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung (F60.6) beschrieben.
Eine ähnliche Form des gesellschaftlichen Rückzugs stellen die so genannten NEETs dar (Not in Employment, Education or Training). Mit dieser in Großbritannien entstandenen, mittlerweile aber auch in ganz Asien verwendeten Abkürzung werden Personen bezeichnet, die weder arbeiten, studieren noch sich weiterbilden wollen und sich von ihren Eltern aushalten lassen.
Literatur
- Milena Michiko Flašar: Ich nannte ihn Krawatte. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-8031-3241-3 (Roman über die zufällige Begegnung eines Arbeitslosen mit einem Hikikomori)
- Lisette Gebhardt: Nach Einbruch der Dunkelheit – Zeitgenössische japanische Literatur im Zeichen des Prekären. EB Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-86893-031-3
- Waka Emma Krech: Das Phänomen der "parasitären Singles" (parasaito shinguru) in der modernen japanischen Gesellschaft. Erklärungsansätze und Folgerungen. Diplomarbeit. Hochschule Bremen. Fachbereich Wirtschaft. Bremen 2005. 116 S., Ms.
- Kevin Kuhn: Hikikomori. Berlin Verlag, Berlin 2012, ISBN 978-3-8270-1116-9
- Tamaki Saitō: Shakaiteki hikikomori (Soziale Rückzügler). PHP Shinsho, Tokyo 1998
- Michael Zielenziger: Shutting Out the Sun. How Japan Created Its Own Lost Generation. Doubleday Publishing 2006, ISBN 0-385-51303-8
Weblinks
- Japans verschwundene Jugend, Deutschen Welle, 16. Juli 2004, zuletzt abgerufen am 12. April 2016
- Marco Kauffmann: Gesichtsverlust ist ausgeschlossen, taz, 19. Mai 2005, zuletzt abgerufen am 18. August 2009
- Anne Kunze : Einsiedler im Kinderzimmer über das Phänomen in Deutschland, Der Spiegel, 29. August 2006, zuletzt abgerufen am 18. August 2009
- Florian Coulmas: Die Unfähigkeit allein zu bestehen - Hikikomori - der pathologische Rückzug junger Menschen aus der alternden Gesellschaft, Neue Zürcher Zeitung, 29. Juni 2007
- Malte Jaspersen: Ich wollte mich in ein Nichts auflösen. Hikikomori in Japan Deutschlandradio Kultur, 1. Oktober 2011
Einzelnachweise
- ↑ Tamaki Saitō: Shakaiteki hikikomori--Owaranai Shishunki (社会的ひきこもり――終わらない思春期), Social withdrawal-Adolescence without End (1998)
- ↑ Maggie Jones: Shutting Themselves In. New York Times, 15. Januar 2006, abgerufen am 24. Januar 2014 (english).
- ↑ H. Konishi: What is Hikikomori? Unveröffentlichtes Manuskript. Temple University Japan, o. J., S. 5, Zit. n. Heiko Höttermann, Klaus Hinze: Handys aus!?! Erzieherischer Jugendmedienschutz in Japan. In: Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) (Hg.): tv diskurs – Verantwortung in audiovisuellen Medien, 17. Jahrgang, Nr. 65, 3/2013, ISSN 1433-9439, S. 4–7, hier S. 5 (PDF-Datei; 1,0 MB).
Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Hikikomori aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar. |