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Historiae (Tacitus)
Die Historiae („Historien“, abgekürzt als Tac. hist.) sind das erste der beiden großen Geschichtswerke des Tacitus. Sie behandeln die Zeitgeschichte der jüngeren römischen Kaiserzeit des 1. Jahrhunderts und umfassen mit den Jahren 69–96 n. Chr. die Regierungszeiten der Kaiser Galba bis Domitian. Tacitus veröffentlichte das Werk, von dem lediglich die ersten fünf Bücher überliefert sind, im Jahr 110 n. Chr. In den Jahren ab 112 entstanden dann die Annales.
Inhaltlich behandelt Tacitus detailreich Ereignisse wie die politischen Umbrüche des Vierkaiserjahrs, den Bataveraufstand und die militärischen Operationen zur Niederschlagung des Jüdischen Aufstands mit der Einnahme und Vernichtung von Jerusalem im Jahr 70 n. Chr. unter Titus.
Überlieferung
Das Werk ist fragmentarisch in einer Handschrift aus dem 11. Jahrhundert überliefert. Sie ist eine Abschrift einer frühmittelalterlichen, verschollenen Vorlage, die mutmaßlich aus Deutschland stammte. Diese beneventanische Handschrift wurde in der Benediktinerabtei Monte Cassino um 1370 von Giovanni Boccaccio entdeckt und befindet sich seit dem 15. Jahrhundert im Besitz der Biblioteca Medicea Laurenziana mit der Sigle Codex Mediceus II = Codex Laurentianus Pult. 68, 2. Von dieser Handschrift wurden durch humanistische Kopisten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts über 30 Abschriften (recentiores) erstellt. Von diesen wiederum stammen fünf bis zum Ende des 16. Jahrhunderts herausgegebene Ausgaben ab. Die „Editio princeps“ der Historiae wurde um 1472 in Venedig von Wendelinus de Spira herausgegeben.[1] Im Laurentianus 68, 2 sind ebenfalls die Bücher 11–16 der Annales des Tacitus überliefert, womit sich beide Werke das Stemma teilen.
Die humanistischen Abschriften bilden auf Basis des Laurentianus 68,2 (Handschriftensigle M II oder M 2) drei Gruppen, die nach der Stelle des Textabbruchs in Buch 5 geordnet werden.
- I enden wie M II bei 5, 26, 3 Flauianus in Pannonia
- II enden bei 5, 23, 2 potiorem
- III enden bei 5, 13, 1 euenerant
Die Handschriften der Gruppe I haben die größte philologische und textuelle Relevanz. Manuskripte aus dieser Gruppe mit guten Lesarten gelten als Konjekturen der Skriptoren. Dies besonders seit der Wiederentdeckung des Codex Leidensis BPL 16 B (L) in den 1950er Jahren durch Clarence Whittlesey Mendell. Erwiesen ist heute, dass L um 1478 in Ferrara durch den Frühhumanisten Rudolf Agricola geschrieben wurde und im 17. Jahrhundert in den Besitz des Leidener Philologen Theodorus Rijcke gelangte und für seine Edition intensiv verwendete. Danach geriet der Codex aus dem fachlichen Blickfeld. Mendell (und ihm zunächst folgend Erich Koestermann) stellte L als eine vom Laurentianus unabhängige eigenständige Texttradition dar, mit der Annahme einer frühmittelalterlichen oder noch älteren Zwischenhandschrift, von der M II und L stammen würden. Durch einen ausgreifenden Jahrzehnte umspannenden textkritischen Diskurs in der Fachwissenschaft und letztlich der Kollation aller Handschriften durch Rudolf Hanslik und seine Mitarbeiter (unter anderen Franz Römer) wurde der Laurentianus als Urschrift bestätigt. Der Leidensis wird heute als ein stark interpolierter Abkömmling zur Gruppe II verstanden, für dessen Erstellung Agricola als Hauptquelle die „Editio princeps“ verwendete.
Titel, Aufbau
Der heutige Titel Historiae ist indirekt belegt durch Tertullian[2] und in der privaten Korrespondenz von Plinius[3] mit dem Freund Tacitus. Im Laurentianus wird das Werk mit dem ersten Buch als „liber decimus septimus ab excessu divi Augusti“ betitelt, als 17. Buch nach dem 16. der „Annales“ in stofflicher Folge nach dem Ende Neros 68 n. Chr. und mit dem 1. Januar 69 n. Chr. unter Galba.
Vollständig erhalten sind die ersten vier Bücher und der Anfang des fünften: Nach dem ersten Viertel bricht der Text ab. Generell wird in der Forschung aufgrund spätantiker Angaben von einem ursprünglichen Umfang von 12 bis 14 Büchern ausgegangen. Hieronymus[4] benutzte eine Ausgabe, in der die Annales ebenfalls vor den Historiae stehen: „Cornelius ... Tacitus qui post Augustum usque ad mortem Domitiani vitas Caesarum XXX voluminibus exaravit.“ Dieser Umstand führt dazu, dass in Teilen der Forschung für den Umfang 14 Bücher angenommen wird.
Tacitus gestaltet die Bücher formal mit einer relativ gleichmäßigen Verteilung des Textvolumens.
- Buch 1, 90 Kapitel
- Buch 2, 101 Kapitel
- Buch 3, 84 Kapitel
- Buch 4, 86 Kapitel
- Buch 5, 26 Kapitel
Als Sinneinheit lassen sich die Bücher 1–3 fassen, mit den Unruhen nach Neros Tod und den dramatischen Ende im Buch 3 zum Ende des Vierkaiserjahrs und der finalen Schilderung des brennenden Kapitols. Buch 4 und 5 können als Sinneinheit der Wiederherstellung der staatlichen Ordnung gefasst werden, mit den wechselnden Schilderungen von militärischen Operationen und Aufständen. Tacitus bedient sich hierbei einer großen stilistischen Freiheit in der szenischen Gestaltung mit dem Gewicht auf die inhaltliche Darstellung, der die Formalien einer verpflichtenden annalistischen Aufzeichnung sekundär beigefügt sind.
Literatur
- Ausgaben, Kommentare, Übertragungen
- Joseph Borst: P. Cornelius Tacitus. Historien / Historiae. Lateinisch - Deutsch. (= Sammlung Tusculum). 7. Auflage, Artemis & Winkler Verlag, Mannheim 2010, ISBN 978-3-538-03546-1.
- Heinz Heubner: P. Cornelius Tacitus. Die Historien. Kommentar. 5 Bände, Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1963-1982. (Band 1, 1963; Band 2, Band 3, 1972; Band 4, 1976; Band 5, 1982 unter Mitarbeit durch Wolfgang Fauth)
- Kenneth Wellesley: P. Cornelii Taciti libri qui supersunt 2: Historiarum libri. B. G.Teubner Verlagsgesellschaft, Leipzig 1989, ISBN 3-322-00671-9.
- Forschungsliteratur
- Michael von Albrecht: Geschichte der Römischen Literatur. Von Andronicus bis Boethius. 3. verbesserte und erweiterte Auflage, Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2012, ISBN 978-3-11-026525-5.
- Francis R. D. Goodyear: Readings of the Leiden manuscript of Tacitus. In: The Classical Quarterly 15, 1965, S. 299–322.
- Erich Koestermann: Codex Leidensis BPL 16B, ein vom Mediceus II unabhängiger Textzeuge des Tacitus. In: Philologus 104, 1960, S. 92–115.
- Ronald Haithwaite Martin: The Leyden Manuscript of Tacitus. In: The Classical Quarterly 14, 1964, S. 109–119.
- Clarence Whittlesey Mendell, Samuel A. Ives: Ryck's Manuscript of Tacitus. In: The American Journal Philology 72, 1951, S. 337–345.
- Clarence Whittlesey Mendell: Leidensis BPL. 16. B. Tacitus, XI-XXI. In: The American Journal of Philology 75, 1954, S. 250–270.
- Franz Römer: Kritischer Problem- und Forschungsbericht zur Überlieferung der taciteischen Schriften. In: Wolfgang Haase u. a. (Hrsg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Reihe II: Prinzipat, Band 33,3. Walter de Gruyter, Berlin/New York 1991, ISBN 3-11-012541-2, S. 2299–2339, hier 2302ff.
- Stephan Schmal: Tacitus. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2005, ISBN 3-487-12884-5.
- Kenneth Wellesley: Tacitus, ,Histories`. A Textual Survey 1939-1989. In: Wolfgang Haase u. a. (Hrsg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Reihe II: Prinzipat, Band 33,3. Walter de Gruyter, Berlin/New York 1991, ISBN 3-11-012541-2, S. 1651–1685.
- Reinhard Wolters: Tacitus. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 2. Auflage. Band 30, Walter de Gruyter, Berlin/New York 2005, ISBN 3-11-018385-4, S. 263–266.
Weblinks
- Biblioteca Medicea Laurenziana – Digital Repository: Codex Laurentianus Pul. 68,2 (abgerufen am 29. April 2017)
- Bibliotheek Universiteit Leiden: Codex Leidensis BLP 16 B (Digitalisat abgerufen am 3. Mai 2017)
- Historiae. Cornelius Tacitus. Charles Dennis Fisher (Hrsg.). Clarendon Press, Oxford 1911. (via Perseus Digital Library, abgerufen am 29. April 2017)
- (Übertragung ins Englische) C. H. Moore: Tacitus. Histories. (= Loeb Classical Library). Harvard University Press, 1925–1937. (via LacusCurtis, abgerufen am 29. April 2017)
- The Tertullian Project: „Tacitus and his Manuscripts“ (abgerufen am 30. April 2017)
Anmerkungen
Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Historiae (Tacitus) aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar. |