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Kümmernis

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St. Wilgefortis, Buchmalerei aus einem flämischen Stundenbuch, 1415
Kümmernislegende mit Spielmannsmotiv, Holzschnitt von Hans Burgkmair, ca. 1507
Heilige Kümmernis im Diözesan­museum Graz-Seckau, 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts

Wilgefortis (abgeleitet von lat. „virgo fortis“, starke Jungfrau?), auch: Ontkommer (niederländisch)[1], dann in der frühen Neuzeit auch ikonographisch verändert und als Kümmernis[2] bezeichnet, war eine fiktive Volksheilige, deren Legende im Spätmittelalter entstand. Sie wird als Gekreuzigte im langen Gewand, bärtig und gekrönt dargestellt. Sie wurde weder heiliggesprochen noch sonstwie von der Kirche offiziell als Heilige anerkannt.[3] Als Wilgefortis wurde sie 1583/86 ins Martyrologium Romanum aufgenommen, inzwischen aber wieder gelöscht. Ihr Gedenktag ist der 20. Juli.[4]

Wilgefortis und Ontkommer

Die Verehrung der Heiligen reicht ins 14. Jahrhundert zurück.[5] Aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammen die in den damaligen Niederlanden zu lokalisierenden ältesten Textüberlieferungen von in der Volkssprache verfassten Abschriften.[6] Sie erzählen von der zum Christentum bekehrten Tochter eines heidnischen Königs, die sich gegen eine vom Vater erzwungene Heirat wehrte. Ihre inständigen Gebete, verunstaltet zu werden, um dieser Heirat mit einem Heiden zu entgehen, wurden erhört: Ihr wuchs ein Bart. Der erboste Vater ließ die Jungfrau daraufhin „nach Art ihres gekreuzigten Gottes“ durch Kreuzigung hinrichten. Die frühesten Darstellungen aus den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts zeigen sie als junge Frau, bärtig und gekrönt, mit deutlich weiblichen Gesichtszügen und Körperformen, in langem Rock und mit Stricken ans Kreuz gebunden. Hauptsächlich unter dem Namen Ontkommer wurde der Kult ab 1400 – bezeugt durch diese rheinischen und niederländischen Bilderhandschriften[7] – an den Niederrhein, nach Köln, den Mittelrhein und bis an die Ostseeküste[8] vermittelt. In den protestantisch gewordenen Gegenden des Nordens verschwand die Verehrung der Wilgefortis/Ontkommer, blieb aber in katholischen Regionen Belgiens und Nordfrankreichs bis ins 20. Jahrhundert lebendig.

Kümmernis

Vom Mittelrhein gelangte der Ontkommerkult nach Süddeutschland und in den Alpenraum. Hier nahm die Figur ab etwa 1470 [9] den hochdeutschen Namen Kümmernis an. Zu ihrer Darstellung wurden nicht die spärlich vorhandenen Wilgefortis/Ontkommer-Vorbilder aus flämisch-rheinischer Provenienz benützt, sondern die Schemata der in der Region bereits verbreiteten Volto-Santo-Wandbilder. Diese gehen zurück auf das Vorbild eines Kruzifixes in Lucca, das Christus am Kreuz zeigt, bärtig, gekrönt und gekleidet in das gegürtete Colobium, die spätantike Tunika, wie es der Darstellungstradition des Kruzifixes von frühchristlicher Zeit bis zur ottonischen Kunst entspricht. Da das Gnadenbild eines der populärsten mittelalterlichen Pilgerziele war, verbreitete sich der Lucceser Bildtyp nachhaltig in den nordeuropäischen Raum. Die Übernahme dieser Vorlagen in die Gestaltung der Kümmernis erfolgte jedoch erst nach dem Import des Kultes in die Landschaften des Südens, sie begründete ihn also nicht, sondern war ein rein ikonographischer Vorgang. [10]

Die Textüberlieferung wurde angereichert durch weitere Wunderberichte und Legenden, von denen vor allem die ebenfalls aus Lucca übernommene Spielmannslegende[11] von Bedeutung ist: Vor dem Bilde geigte einst ein in Not geratener Spielmann, den die Heilige mit ihrem herabgeworfenen kostbaren Schuh entlohnte. Der daraufhin des Diebstahls angeklagte Geiger bewies seine Unschuld, indem er erneut vor dem Bilde bittend, von der Heiligen auch den zweiten Schuh zugeworfen bekam. Der Holzschnitt von Hans Burkmair (Abb.) aus dem Jahr 1507 enthält all diese Elemente und ist begleitet von dem ersten deutschsprachigen Text der Kümmernis-Legende.[12] Bei den undatierten und unbezeichneten Bildern dieses Typs aus den Jahrzehnten nach 1470 ist wegen der ikonographischen Übereinstimmungen nicht immer sicher, ob sie für die Verehrung des gekreuzigten Christus oder als Darstellung der Kümmernis zu gelten haben. Die jeweilige Funktion kann nicht aus der Ikonographie heraus abgeleitet werden. Hierfür müssen archivalische, sozial- und frömmigkeitsgeschichtliche Zeugnisse der jeweiligen Kirche und des Ortes herangezogen werden. [13] Auch Mißverständnisse der Entstehungszeit und sogar bewußte Umdeutungen späterer Epochen sind nicht auszuschließen. In Süddeutschland und den Alpenländern hat sich die Verehrung der Heiligen bis über die Barockzeit hinaus fortgesetzt. Erst seit der Aufklärung verschwand hier der Kult weitgehend aus dem offiziell vorgegebenen kirchlichen Rahmen. Noch in jüngster Zeit hat jedoch die Wallfahrtskirche St. Wilgefortis in Neufahrn bei Freising ihr Patrozinium wieder in den Vordergrund gestellt.

Die Legende regte u. a. Justinus Kerner 1816 zu seiner Ballade Der Geiger zu Gmünd an, aber auch in Grimms Märchen fand sie als Die heilige Frau Kummernis Niederschlag.

Einzelnachweise

  1. auch St. Uncumber (engl.), Ontcommer, Unkommer, Unkumer, also „die von Kummer befreit“, entkümmert.
  2. Auch „kumini“, „kumeria“, „kummernus“, vgl. Schweizer-Vüllers, S. 62
  3. Schweizer-Vüllers, S. 78
  4. http://www.heiligenlexikon.de/BiographienW/Wilgefortis.html
  5. Schweizer, S. 82.
  6. Referiert in den Acta Sanctorum, Julii tomus V., Antwerpen 1727, Seite 69 f. – siehe auch Schweizer-Vüllers, S. 40 ff.
  7. Schweizer-Vüllers, S.67-77
  8. Andreas Röpcke: Zweimal St. Hulpe. Untersuchungen zu einer niederdeutschen Kultfigur des Spätmittelalters. In: Mecklenburgische Jahrbücher 128, 2013, S. 17–24.
  9. Schweizer-Vüllers, S. 72
  10. So die ausführlich begründete Argumentation von Schweizer-Vüllers (1997), gegenüber der bis dahin durchweg übernommenen Darstellung bei Schnürer-Ritz von 1934, die eine gemeinsame Abkunft auch der früheren Ontcommer-Darstellungen von Darstellungen des bekleideten Christus, insbesondere des Volto-Santo-Typs postulierte.
  11. Donat de Chapeaurouge: Die Geigerlegende des Volto Santo, in: Musik und Geschichte: Festschrift Leo Schrade zum 60. Geburtstag. Köln 1963, S. 126-133. - In den frühen niederländischen Darstellungen ist das Geiger-Motiv, wie es in der oberen Abbildung aus Gent zu sehen ist, noch eine Ausnahme, die allerdings mit der Kernthese von Schweizer-Vüllers, Volto Santo und Ontkommer hätten keine Berührung miteinander gehabt, nicht in Einklang zu bringen ist.
  12. Schweizer-Vüllers, S. 17-19
  13. Die voraufgehenden Passagen arbeiten Hinweise aus der Diskussionsseite dieses Artikels vom Dezember 2011 ein.

Literatur

  • Gustav Schnürer und Joseph M. Ritz: Sankt Kümmernis und Volto Santo. (Forschungen zur Volkskunde 13/15). Düsseldorf 1934 (grundlegend, materialreich, aber in wichtigen Kernaussagen nicht mehr aktuell).
  • Josef Lechner: Das Kloster St. Walburg und die Frühgeschichte der St. Kümmernisverehrung in Süddeutschland. In: Zum 900jährigen Jubiläum der Abtei St. Walburg in Eichstätt. Historische Beiträge von Karl Ried u. A. Paderborn 1935, S. 40–60.
  • Jan Gessler: De Vlaamsche Baardheilige Wilgefortis of Ontkommer. Antwerpen 1937.
  • Karl von Spieß: Die Heilige Kümmernis. In: Marksteine der Volkskunst, 2. Teil (Jahrbuch für historische Volkskunde VIII., IX. Band) Berlin 1942, S. 191–249.
  • Leopold Kretzenbacher: St. Kümmernis in Innerösterreich. Bilder, Legenden und Lieder. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark. XLIV. Jg./1953. Graz 1953, S. 128–159.
  • Friedrich Gorissen: Das Kreuz von Lucca und die H. Wilgefortis/Ontkommer am Unteren Rhein. Ein Beitrag zur Hagiographie und Ikonographie. In: Numaga, Jg. XV (1968), Nijmegen 1968, S. 122–148.
  • Lexikon der Christlichen Ikonographie, Bd. 7, („Ikonographie der Heiligen“), Freiburg 1974, Sp. 353–355 (Artikel Wilgefortis, mit Werkliste, Quellen- und Literaturnachweisen).
  • Peter Spranger: Der Geiger von Gmünd: Justinus Kerner und die Geschichte einer Legende. Schwäbisch Gmünd ²1991, ISBN 3-926043-08-3 (Rezension).
  • Peter Spranger: Kümmernis. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 8 (1996), Sp. 604–607.
  • Regine Schweizer-Vüllers: Die Heilige am Kreuz: Studien zum weiblichen Gottesbild im späten Mittelalter und in der Barockzeit. Bern u. a.: Lang 1997, ISBN 3-906757-98-6. (Dazu Rezension von Lutz Röhrich in: Fabula 39, 1998, S. 158-160 und die kritischen Anmerkungen von Reinhard Bodner, siehe Lit. unten.)
  • Jürgen Zänker: Cruzifixae. Frauen am Kreuz. Berlin 1998.
  • Konrad Kunze: Wilgefortis. In: Verfasserlexikon, 2. Auflage, Bd. 10 (1999), Sp. 1081–1083.
  • Ilse E. Friesen: The Female Crucifix: Images of St. Wilgefortis since the Middle Ages. Waterloo, Ontario, Canada, Wilfrid Laurier University Press 2001.
  • Sigrid Glockzin-Bever – Martin Kraatz (Hrsg.): Am Kreuz – eine Frau: Anfänge – Abhängigkeiten – Aktualisierungen. Münster 2003 ISBN 3-8258-6589-4.
  • David A. King: The Cult of St. Wilgefortis in Flanders, Holland, England and France. In: Am Kreuz – …, S. 55–97.
  • Reinhard Bodner: Kümmernisforschung. Zum historisierenden und aktualisierenden Interesse an einer „erfundenen“ Heiligen. In: Augsburger volkskundliche Nachrichten, 10. Jg., Heft 2, Nr. 20, Dezember 2004 (Universität Augsburg – Fach Volkskunde), S. 40–61.
  • Arndt Müller: Das Volto-Santo-Wandbild in der Karmeliterkirche zu Weißenburg i. Bay. In: villa nostra – Weißenburger Blätter. Geschichte, Heimatkunde, Kultur. Heft 1, Januar 2012. Weißenburg i. Bay. 2011. (Volltext; PDF; 8,6 MB).
  • Katharina Boll: Die Legende von der Frau am Kreuz. Theologische Überlegungen zur oberdeutschen Texttradition. In: kunst und saelde. Festschrift für Trude Ehlert. Königshausen & Neumann, Würzburg 2011, ISBN 978-3-8260-4605-6, S. 161–177 (Volltext).

Siehe auch

Weblinks

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