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Massaker von Marzabotto
Marzabotto ist der Name einer Apenninen-Gemeinde in der Nähe der italienischen Stadt Bologna in der Emilia-Romagna. Hier fand das schlimmste Kriegsverbrechen deutscher Soldaten während des Zweiten Weltkrieges in Italien statt. Zwischen dem 29. September und dem 1. Oktober 1944 zerstörten Einheiten der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ und der deutschen Wehrmacht die gesamte Region und töteten über 770 Zivilisten, laut einigen Quellen bis zu 1836 Personen, vor allem alte Männer, Frauen und Kinder. Die Liste der über 770 Opfer enthält die Namen und Geburtsdaten von 213 Kindern unter 13 Jahren. Erwachsene Männer im wehrfähigen Alter fehlen fast völlig auf der Liste. Bei dieser Strafaktion, die angeblich gegen Partisanen der „Stella Rossa“-Gruppe gerichtet war, fanden Kriegsverbrechen statt, die lange noch das zwischenstaatliche Verhältnis der BR Deutschland und Italiens begleiteten. Nach Darstellung der SS-Leute handelte es sich bei den Opfern des Massakers um „Banditen und Bandenhelfer“.
Heute gibt es in Marzabotto einen Park zum Gedächtnis der Geschichte mit Gedenkstätten, den Parco Storico di Monte Sole (Geschichtspark Monte Sole). Ein Rundgang hat eine Länge von etwa vier Kilometern. In der Friedensschule „Fondazione Scuola di Pace di Monte Sole“ treffen sich periodisch nicht nur Jugendliche aus Italien und Deutschland, sondern auch aus Israel und Palästina. Dort soll die Jugend zeigen können, dass Verständigung auch nach grausamsten Verbrechen möglich ist.
Aussagen Überlebender
Nur wenigen Menschen gelang es, dem Massaker zu entkommen, so Lidia Pirini aus Cerpiano:
„Es war der 29. September um neun Uhr morgens. Als ich vom Herannahen der Deutschen erfuhr, flüchtete ich nach Casaglia. Ich habe meine Familie verlassen und war nicht bei ihnen, als sie ermordet wurde. Es waren meine Mutter und meine 12-jährige Schwester, acht Cousins und vier Tanten, die alle am 29. und 30. September in Cerpiano ermordet wurden. Am 29. haben sie sie verletzt. Am 30. kamen die Nationalsozialisten zurück, um sie umzubringen. In Casaglia hörten wir die Schüsse der Deutschen immer näher kommen. Wir konnten den Rauch der in Brand gesetzten Häuser sehen. Niemand wusste wohin und was machen. Letztendlich haben wir uns in die Kirche geflüchtet. Als die Nationalsozialisten dorthin kamen, hatte ich Angst, ihnen ins Gesicht zu sehen. Sie schlossen das Kirchentor und alle im Inneren schrien vor Entsetzen. Wenig später kamen sie zurück und führten uns zum Friedhof. Wir mussten uns vor der Kapelle aufstellen; sie platzierten sich in der Hocke, um gut zielen zu können. Sie schossen mit Maschinenpistolen und Gewehren. Ich wurde von einem Maschinengewehr am rechten Oberschenkel getroffen und fiel ohnmächtig zu Boden.“
Elena Ruggier gelang es, sich zusammen mit ihrer Tante, einem Cousin und einem Bekannten in der Sakristei zu verstecken, von wo aus sie das weitere Geschehen beobachten konnten:
„Der Priester konnte deutsch und redete mit zweien von ihnen. Sie lachten ständig und zeigten auf ihre Gewehre und weil der Priester beharrlich blieb, erschossen sie ihn vor dem Altar. Ich hatte eine Hand auf den Mund meines Cousins Giorgio gepresst, aus Angst, er würde schreien. Sie ermordeten auch eine Frau, die gelähmt war und sich nicht rühren konnte.“
Adelmo Benini musste vom Berg aus zusehen, was unten in Casaglia geschah:
„Voller Panik stellten wir fest, dass die Nazis keineswegs Frauen und Kinder verschonten. Das sah man, als sie sie mit Stößen und Fußtritten zum Friedhof jagten. Wir sahen, wie sie das Tor zum Friedhof aufschossen und sie alle auf den Stufen zur Kapelle zusammenpferchten, die Großen hinten, die Kleinen vorne; als ich merkte, wie sie mit den Maschinengewehren zielten, warf ich mich den Bergrücken hinunter und schrie die Namen der meinigen, (…). Ich konnte sehen, wie sie mit Maschinenpistolen und Gewehren mitten in die Unschuldigen schossen. Sie warfen Handgranaten und die Soldaten töteten Einzelne, die noch am Leben waren und klagten.“
Nicht weit von der Kirche von Casaglia entfernt befand sich der Andachtsraum von Cerpiano. Hier hatte die SS 49 Personen eingesperrt, darunter 19 Kinder. Kurz nach ihrer Ankunft warf die SS Handgranaten in den Andachtsraum. 30 Menschen waren sofort tot. Der achtjährige Fernando Piretti war am Leben geblieben. Weil er glaubte, die Nationalsozialisten seien abgezogen, zog er die sechsjährige Paola Rossi unter dem toten Körper ihrer Mutter hervor, der sie vor dem Tod bewahrt hatte. Doch die Nationalsozialisten kamen am nächsten Morgen zurück, um die Überlebenden durch gezielte Schüsse zu töten. Die dritte Überlebende, die Lehrerin Antonietta Benni, schaffte es gerade noch rechtzeitig, die beiden Kinder unter einer Decke zu verstecken. Sie berichtet:
„Wir hatten gehofft, dass sie uns nichts antun würden. Stattdessen öffnete sich nach kurzem die Tür und einige Nazis tauchten mit furchteinflößenden Gesichtern auf. In ihren Händen trugen sie Handgranaten und sie sahen uns an, als würden sie ihre Beute aussuchen (…). Dann flogen Handgranaten durch die Tür und die Fenster: Wir schrien, weinten, flehten, die Mütter hielten ihre Kinder fest, schützten die Gesichter und suchten verzweifelt Schutz. Ich fiel ohnmächtig zu Boden.“
Kriegsverbrecher
Zwei Kommandeure der für die Morde verantwortlichen SS-Division wurden verurteilt. Der Leiter der Strafaktion, SS-Sturmbannführer Walter Reder, wurde 1951 in Bologna zu lebenslanger Haft verurteilt, im Januar 1985 begnadigt und starb 1991 in Wien. SS-Gruppenführer Max Simon war in Padua zum Tode verurteilt und wurde bereits 1954 begnadigt. Im Januar 2007 wurden zehn SS-Mitglieder nach dem Fund des „Schranks der Schande“ – Paul Albers (88), Josef Baumann (82), Hubert Bichler (87), Max Roithmeier (85), Max Schneider (81), Heinz Fritz Traeger (84), Georg Wache (86), Helmut Wulf (84), Adolf Schneider (87) und Kurt Spieler (81) von einem Militärgericht in La Spezia in Abwesenheit zu lebenslangen Haftstrafen sowie Entschädigungszahlen in Höhe von 100 Millionen Euro verurteilt, sieben weitere Angeklagte wurden freigesprochen.[1]
In Deutschland wurde bisher in keinem der Fälle Anklage erhoben. Die Initiative zur Anklageerhebung im Fall von Sant’Anna wirft der Staatsanwaltschaft „ermittelnden Täterschutz“ vor.[2]
Rede des deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau
Das Gedenken des Bundespräsidenten Johannes Rau an die Opfer von Marzabotto bei einem Besuch 2002[3] ist in Italien mit dem Kniefall Willy Brandts 1970 in Warschau verglichen worden. Der Bürgermeister von Marzabotto sprach von einer „großen Geste der Versöhnung, Freundschaft und des Friedens“.
Bericht einer Historiker-Kommission (2012)
Am 28. März 2009 setzten die damaligen Außenminister Italiens und Deutschlands eine Kommission aus Historikern beider Länder ein. Diese legte 2012 einen 182-seitigen Abschlussbericht vor.[4] Im Anhang werden 5000 Fälle dokumentiert, in denen es zu Übergriffen (z. B. Plünderungen, Vergewaltigungen und Morde) von deutschen Truppen kam.[5]
Siehe auch
- Massaker von Sant’Anna di Stazzema
- Mario Musolesi, genannt il Lupo, Anführer von „Stella Rossa“
Literatur
- Carlo Gentile: Marzabotto. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Darmstadt 2003, S. 136–146.
- Carlo Gentile: Politische Soldaten. Die 16. SS-Panzer-Grenadier-Division „Reichsführer-SS“ in Italien 1944. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken. 81, 2001, S. 529–561.
- Carlo Gentile: Vernichtungskrieg im Westen. In: Süddeutsche Zeitung. 7. Januar 2003, S. 14
- Carlo Gentile: Walter Reder – ein politischer Soldat im „Bandenkampf“. In: Klaus-Michael Mallmann, Gerhard Paul (Hrsg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart. Band 2.) Darmstadt 2004, S. 188–195.
- Renato Giorgi: Marzabotto parla. 15. Auflage. Marsilio, Venedig 1999. (dt. Marzabotto spricht. Berlin-Ost 1958.)
- Lutz Klinkhammer: Stragi naziste in Italia. Donzelli, Roma 1997, S.118–141.
- Jack Olsen: Silence sur le Monte Sole. 1968.
- Gerhard Schreiber: Deutsche Kriegsverbrechen in Italien – Täter, Opfer, Strafverfolgung. München 1996, ISBN 3-406-39268-7.
- Joachim Staron: Fosse Ardeatine und Marzabotto: Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Paderborn 2002, ISBN 3-506-77522-7.
- Dante Zanini: Marzabotto e dintorni 1944. Bologna 1996.
Weblinks
- Fondazione Scuola di Pace di Monte Sole
- Verein Gedenkdienst
- Zeugenberichte der deutschen Verbrechen
- Marzabotto – Versöhnung am Ort des Verbrechens
- Späte Prozesswelle gegen ehemalige deutsche Soldaten in Italien
- Humboldt-Universität zu Berlin: Tagungsbericht „Von Italien nach Auschwitz“
- Bericht des Augenzeugen Francesco Pirini In: La resistenza – Beiträge zu Faschismus, deutscher Besatzung und dem Widerstand in Italien. Teil 2. Schriftenreihe des Vereins zur Förderung alternativer Medien e. V. Band 1. Erlangen 2003, ISSN 1612-5223, S. 27, (PDF-Datei; 3 MB)
Quellen
- ↑ Elisabeth Zimmermann: Späte Sühne für SS-Massaker in Marzabotto, World Socialist, 24. Januar 2007
- ↑ Marzabotto: Zehn ehemalige SS-Soldaten zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt, resistenza.de
- ↑ Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau in Marzabotto am 17. April 2002
- ↑ Bericht (pdf; 659 kB)
- ↑ tagesschau.de: Kommission legt Bericht zu NS-Verbrechen in Italien vor
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