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Prager deutsche Literatur
Prager deutsche Literatur (tschechisch Pražská německá literatura) ist die Bezeichnung für deutschsprachige Literatur, die in Prag entstand. Ihren Höhepunkt erreichte sie zwischen 1894 und 1939 mit Autoren wie Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Franz Werfel, Gustav Meyrink und Egon Erwin Kisch.
Hintergrund
In Prag war Deutsch seit 1620 die offizielle Amtssprache. Zu dieser Zeit war die Mehrheit der Bevölkerung Tschechen. In den folgenden Jahrhunderten wurde es die allgemeine Umgangssprache in öffentlichen Behörden, der Universität und anderen Einrichtungen. 1846 gab es offiziell 66.046 deutschsprachige und 36.687 tschechischsprachige christliche Prager.[1] Dazu kamen etwa 6.400 jüdische Einwohner. Diese sprachen meist ein weitgehend dialektfreies Schriftdeutsch, das sogenannte Prager Deutsch.
Ab 1861 wurde Tschechisch die dominierende Sprache in der Stadt. 1880 gab es etwa 216.000 Tschechen und 39.000 Deutsche, 1910 406.000 Tschechen und 33.000 Deutsche. In dieser Zeit gab es bereits eine starke Trennung zwischen den Sprachgruppen (Böhmischer Sprachenkonflikt). Auch nach der tschechoslowakischen Staatsgründung 1918 blieb eine deutschsprachige Minderheit in der Stadt. 1939 endeten die Möglichkeiten einer freien Kunst nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht. Nach 1945 gab es fast keine deutsche Kultur mehr in Prag.
Deutsche Literatur in Prag
Die deutschsprachige belletristische Literatur in Prag hatte bis zum späten 19. Jahrhundert nur eine regionale Bedeutung, besonders herausragende Autoren gab es in dieser Zeit nicht.[2][3]
In den 1870er und 1880er Jahren wuchs eine Generation deutschsprachiger Schüler in der Stadt auf, von denen einige bald eine große literarische Bedeutung bekamen. Sie besuchten teilweise gemeinsame Klassen in Volksschulen und Gymnasien, und einige entwickelten bereits in diesen Jahren enge persönliche Beziehungen.
Als Beginn der besonderen Prager deutschen Literatur gilt der Band Leben und Lieder von Rainer Maria Rilke von 1894, mit dem dessen Karriere als Dichter von Weltgeltung begann. Um 1900 gab es einen ersten Dichterkreis Jung Prag um Gustav Meyrink, der sich aber nach wenigen Jahren wieder auflöste.[4] Seit dieser Zeit entwickelte sich Max Brod zum Mittelpunkt einer jungen Schriftstellerszene. Er knüpfte eine enge Freundschaft zu Franz Kafka, entdeckte das Talent von Franz Werfel und förderte viele junge Autoren und Künstler.
Ab 1908 wurde deren wichtigster Treffpunkt das Café Arco. In diesem traf sich täglich ein fester Kreis, dazu kamen auch bildende Künstler, einige tschechische Literaten, sowie Gäste von außerhalb wie Heinrich Mann und Kurt Tucholsky. Weitere Begegnungsorte waren die Lese- und Redehalle der deutschen Studenten, die Cafés Central, Continental und Montmartre, der literarisch-philosophische Salon von Bertha Fanta, den auch Albert Einstein zeitweise besuchte, sowie einige jüdische Vereine wie Bar Kochba. Es gab auch verschiedene Literaturmagazine.
Einige wichtige Autoren verließen bald die Stadt, wie Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, Gustav Meyrink und Egon Erwin Kisch. Der Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 und der zunehmende Druck auf die deutschsprachige Minderheit nach der tschechoslowakischen Staatsgründung 1918 führte zu einem Weggang weiterer Autoren. Dennoch galt Prag bis Anfang der 1920er Jahre als eines der bedeutendsten Zentren deutschsprachiger Literatur überhaupt.
„In den Berliner und Wiener Literaturcafés ist bekanntlich jeder zweite Gast ein Literat aus Prag. (…) Wenn ein Berliner die Bekanntschaft eines Pragers macht, einerlei, ob es sich um einen Flanellreisenden oder um einen Attaché handelt, fragt er für alle Fälle: ‚Woran schreiben Sie jetzt?‘ (…) [Und] zu einer Zeit, wo noch das Café ‚Arco‘ in Blüte stand, konnte der selige Oberkellner Počta glauben, er halte mit seinen Krediten tatsächlich die ganze deutsche Literatur aus.[5]“
Die deutsche Eroberung 1939 brachte einen weiteren tiefen Einschnitt in die deutsche Literatur der Stadt. Nach 1945 gab es keine deutschsprachigen Literaten mehr in Prag.
Autoren
Allgemeines
Zu den bekanntesten Autoren in Prag gehörten Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Franz Werfel, Max Brod, Egon Erwin Kisch und Gustav Meyrink. Das Phänomen, dass es in der tschechischen Stadt Prag innerhalb einer so kurzen Zeit eine größere Anzahl bedeutender deutschsprachiger Autoren gab, ist in dieser Ausprägung erstaunlich. Die meisten waren jüdischer Herkunft (eine Ausnahme war Rilke), viele von ihnen beherrschten auch die tschechische Sprache, einige recht gut (Kafka). Sie verbanden eine gute Kenntnis der klassischen und modernen deutschen Literatur mit einer hochwertigen jahrhundertealten jüdischen kulturellen Tradition und den anregenden Einflüssen der tschechischen Umgebung. Sie verstanden sich als zwischen den Kulturen stehend und hatten ein ausgesprochen liberales und tolerantes Weltbild.
Einzelne Autoren
Aufgeführt sind Schriftsteller und einige wenige Schriftstellerinnen, die in Prag belletristische Texte wie Gedichte, Erzählungen, Romane und weiteres verfassten. Dazu gehören auch einige weitgehend unbekannte, von denen es teilweise nur kurze Textveröffentlichungen gab.[6][7] Diese Aufzählung ist weitgehend vollständig.
- Bruno Adler (1889–1968)
- Friedrich Adler (1857–1938)
- Paul Adler (1878–1946)
- Konstantin Ahne (1901–2000)
- Rudolf Altschul (1901–1963)
- Robert Austerlitz (1861–1930)
- Johannes Astl
- Karl Bayer (1834–1888)
- Oskar Baum (1883– )
- Samuel Hugo Bergmann (1883–1975)
- Josef Adolf Bondy (1876–1946)
- Karl Brand (1895–1917)
- Max Brod (1884–1968)
- Hans Demetz (1871–1950)
- Karl Egon Ebert (1801–1882)
- Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916)
- Hans Effenberger (1884–1950)
- Norbert Eisler
- Pavel Eisner (1889–1958)
- Emil Faktor (1876–1942)
- Ernst Feigl (1887–1957)
- Grete Fischer (1893–1977)
- Herbert von Fuchs
- Rudolf Fuchs (1890–1942)
- Louis Fürnberg (1909–1957)
- Walter Fürth (1891–1942)
- Hans Gerke (1895–1968)
- Antonie di Giorgi (1836–1913)
- Hermann Grab (1903–1949)
- Alfred Guth (1881–1969)
- Willy Haas (1891–1973)
- Gusti Hackel
- Victor Hadwiger (1878–1911)
- Willi Handl (1872–1920)
- Auguste Hauschner (1850–1924)
- Karl Herloßsohn (1804–1849)
- Franz Herold (1854–1943)
- Josef Paul Hodin (1905–1995)
- Camill Hoffmann (1878–1944)
- Leo Heller (1876–1941)
- Franz Janowitz (1892–1917)
- Hans Janowitz (1890–1954)
- Erich von Kahler (1885–1970)
- Franz Kafka (1883–1924)
- Siegfried Kapper (1821–1879)
- Gustav Kauder
- Egon Erwin Kisch (1885–1948)
- Paul Kisch (1883–1944)
- Alfred Klaar (1848–1927)
- Otto Klaeren (1901–1985)
- Hans Klaus (1901–1985)
- Paul Kornfeld (1889–1942)
- Oskar Kosta (1888–1973)
- Oskar Kraus (1872–1942)
- David Kuh (1818–1879)
- Paul Kuh
- Georg Mordechai Langer (1894–1943)
- Paul Leppin (1878–1945)
- Hans Liebstöckl (1872–1934)
- Fritz Mauthner (1849–1923)
- Georg Mannheimer (1887–1947)
- Grete Meisel-Hess (1879–1922)
- Alfred Meissner (1822–1885)
- Gustav Meyrink (1868–1932)
- Hans Natonek (1892–1963)
- Friedrich Werner van Oestéren (1874–1958)
- Laska von Oestéren (1871–1947)
- Friedrich S. Ost
- Paul Paquita
- Leo Perutz (1882–1957)
- Otto Pick (1887–1940)
- Heinz Plotzer
- Oskar Pollak (1883–1915)
- Ernst Popper (1890–1950)
- Paul Porges
- Peter Riedl (1852–1925)
- Rainer Maria Rilke (1875–1926)
- Otto Roeld (Rosenfeld)
- Ferdinand von Saar (1883–1906)
- Hugo Salus (1866–1929)
- Wolf Salus
- Emil Saudek (1876–1941)
- Hedda Sauer (1875–1953)
- Walter Seidl (1905–1937)
- Walter Serner (1889–1942)
- Richard Schubert
- Ossip Schubin (1854–1934)
- Walther Schulhof
- Rudolf Slawitschek (1880–1945)
- Ernst Sommer (1888–1955)
- Hugo Sonnenschein (1889–1953)
- Armin Spitaler (1898–1963)
- Franz Baermann Steiner (1909–1952)
- Karl Hans Strobl (1877–1946)
- Heinrich Teweles (1856–1927)
- Friedrich Torberg (1908–1979)
- Eugen Trager
- Walter Tschuppik (1889–1955)
- Hermann Ungar (1893–1929)
- Johannes Urzidil (1896–1970)
- Emil Utitz (1883–1956)
- Georg Karl Veranneman
- Melchior Vischer (1895–1975)
- Otto Vrieslander (1880–1950)
- Franz Carl Weiskopf (1900–1955)
- Ernst Weiss (1882–1940)
- Felix Weltsch (1884–1964)
- Franz Werfel (1890–1945)
- Oskar Wiener (1873–1944)
- Paul Wiegler (1878–1949)
- Joseph Willomitzer (1849–1900)
- Ludwig Winder (1889–1946)
- Ottokar Winicky (1872–1941)
- Richard Wurmfeld
Begriffsgeschichte
Die Bezeichnung Prager deutsche Literatur wurde 1965 auf der Germanistenkonferenz Weltfreunde in Liblice geprägt. Sie sollte das Phänomen einer hochwertigen deutschsprachigen Literatur in einer vor allem fremdsprachigen Umgebung beschreiben. Max Brod setzte diesem 1966 den Begriff des Prager Kreises entgegen, der eine engere Eingrenzung von Autoren beinhaltete. Die Prager deutsche Literatur wurde danach in zahlreichen Anthologien und wissenschaftlichen Publikationen und Konferenzen beschrieben.
In den letzten Jahrzehnten entwickelte die germanistische Forschung immer mehr das Konzept einer deutschsprachigen Literatur in den böhmischen Ländern, die die vielfältigen Beziehungen zur Literatur in anderen Teilen Bohmens und Mährens mit berücksichtigt.[8] Die Prager deutsche Literatur bleibt aber bis in die Gegenwart ein Synonym für hochwertige deutschsprachige Literatur.
Literatur
Zeitgenössische Zeitschriften
- Wir. Deutsche Blätter der Künste, 1905–1906 Digitalisat 1905, 1906
- Herderblätter (Herder-Blätter), 1911–1912 Digitalisat
- Arkadia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst, hrsg. von Max Brod, Kurt Wolf Verlag, Leipzig 1913–1918 Digitalisat 1913
Sekundärliteratur
- Peter Becher, Steffen Höhne, Jörg Krappmann, Manfred Weinberg (Hrsg.): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. J.B. Metzler, Stuttgart 2017. ISBN 978-3-476-02579-1.
Einzelnachweise
- ↑ Gary B. Cohen: The Germans in Prague 1861–1914. Princeton University Press, 1985, p. 20; dort auch weitere Angaben zur deutschen Bevölkerung Prags
- ↑ Heinrich Teweles: Prager Dichterbuch, 1894; mit Texten einiger Autoren wie Hugo Salus, Alfred Klaar und ihm selbst, enthielt die in dieser Zeit wichtigsten Prager Schriftsteller
- ↑ Hans Dieter Zimmermann: Franz Werfel und die Prager deutsche Literatur, in Roy Knocke, Werner Teßler (Hrsg.): Franz Werfel und der Genozid an den Armeniern. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2015. S. 23–32, hier S. 24, kurze Bemerkung
- ↑ Barbara Sapała: Der Prager Kreis. In: Acta Neophilologica. III, 2001, S. 365–374, hier S. 371 PDF
- ↑ Manfred Weinberg: Max Brod und die Prager deutsche Literatur. In: Steffen Höhne, Anna-Dorothea Ludewig, Julius H. Schoeps (Hrsg.): Max Brod (1884–1968). Die Erfindung des Prager Kreises. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2016. S. 127–143, hier S. 128, 129 Digitalisat, nach Befragung von 1922: Warum haben sie Prag verlassen? in der Bohemia, zitiert in Studien zur Prager deutschen Literatur. Festschrift für Kurt Krolop zu seinem 70. Geburtstag, 2005, S. 93, 100
- ↑ Hartmut Binder: Prager Profile. Vergessene Autoren im Schatten Kafkas, Berlin 1991, 488 Seiten; gibt Biographien zu einigen unbekannteren Autoren
- ↑ Oskar Wiener: Deutsche Dichter aus Prag, 1919; Anthologie mit bekannten und weniger bekannten Schriftstellern
- ↑ Peter Becher, Steffen Höhne, Jörg Krappmann, Manfred Weinberg (Hrsg.): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder, 2017
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