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Ruth Pappenheimer

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Ruth Pappenheimer (geb. 8. November 1925 in Frankfurt am Main; gest. 20. Oktober 1944 in Idstein) war eine rassisch Verfolgte des Nazi-Regimes. Sie wurde auf dem Idsteiner Kalmenhof ermordet.

Beim Kalmenhof-Prozess, der in den Jahren 1946/1947 am Frankfurter Landgericht gegen (u.a.) den Arzt Hermann Wesse und Pflegekräfte des Kalmenhofes geführt wurde, war der Fall Ruth Pappenheimer von exemplarischer Bedeutung und beeinflusste den Prozessverlauf maßgeblich.

Leben

Ruth Pappenheimer war die Tochter des am 5. März 1892 in Dornheim (Groß-Gerau) geborenen, in der NS-Zeit deportierten und ermordeten Julius Pappenheimer. Julius Pappenheimer [1] ist im Gedenkbuch des Bundesarchivs als von Frankfurt am Main aus (vermutlich im Sommer 1942) Deportierter und zu einem unbekannten Zeitpunkt Ermordeter aufgeführt. Dieser war, wie aus der Meldekartei hervorgeht, jüdischer Konfession. [2] Ihre am 20. Oktober 1897 geborene und am 6. März 1933 verstorbene Mutter Martha (geb. Noll-Hussong) war evangelisch. Somit war Ruth Pappenheimer in der Deutung des NS-Regimes Halbjüdin. Zum Zeitpunkt der Volkszählung im Deutschen Reich 1939 war Ruth Pappenheimer in der Krifteler Straße 103 in Frankfurt am Main gemeldet.

Aus der Fürsorgeakte[3] geht hervor, dass Ruth Pappenheimer, die nach dem frühen Tod der Mutter bei ihrer Großmutter, Elsa Noll-Hussong, aufwuchs (diese hatte die Pflegschaft für das Kind übernommen), mehrfach durch Fehlverhalten aufgefallen sein soll. Sie soll in der Schule einen „höchst unanständigen Briefwechsel geführt“ und „viele Kinder verdorben“ haben. Ein in Konsequenz dieser Verfehlung schlecht ausgefallenes Zeugnis soll sie gefälscht haben, um den Vorfall vor ihren Großeltern zu verbergen, da sich das Verhältnis zur Großmutter im Laufe der Adoleszenz massiv verschlechtert hatte. Als sie ihr Pflichtjahr bei einer Frankfurter Familie ableistete, wurde sie beim Diebstahl von „einigen Flaschen Wein“ und einem „Herren-Wollschal“ entdeckt, woraufhin sie fristlos entlassen wurde. Für keine der behaupteten Verfehlungen existieren Aktenbelege, auch wurde von der Arbeitgeberin in der Pflichtjahresstelle keine Anzeige erstattet. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um Unterstellungen handelte, die bewusst in den Raum gestellt wurden, um Ruth Pappenheimer aus "rassischen Erwägungen" der Fürsorgeerziehung anheim geben zu können. Trotz eines wohlwollenden und positiven Zeugnisses ihrer Klassenlehrerin stufte die Behörde sie, nicht zuletzt wegen ihrer „Soldatenbekanntschaften“, als „verwahrlost“ ein, obwohl die Harmlosigkeit dieser Bekanntschaften aus in der Fürsorgeakte vorhandener Briefe eindeutig hervorgeht.

Durch Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 16. April 1941 wurde die (minderjährige) Ruth Pappenheimer zunächst vorläufig, mit Beschluss vom 29. Juli 1941[4] der endgültigen Fürsorgeerziehung überantwortet. Aus den Gerichtsakten[5] geht hervor, dass Ruth Pappenheimer in der Zeit von April 1941 bis 16. Februar 1943 in der Camberger Haus- und Landarbeitsschule untergebracht worden war. Diese NS-Einrichtung war in den Räumlichkeiten der heutigen Freiherr-von-Schütz-Schule von 1937-1945 installiert. Dort wurden weibliche minderjährige Fürsorgezöglinge gemäß der NS-Ideologie für Tätigkeiten in Haus und Landwirtschaft ausgebildet[6] Ab Mitte Februar sei sie dann im NSV-Kinder- und Erholungsheim Schloss Dehrn als Hausmädchen tätig gewesen. Als dieses Mitte Oktober 1944 für „Wehrmachtszwecke“[7] geräumt wurde und die Haus- und Landarbeitsschule Camberg Ruth Pappenheimer[8] sowie zwei andere aus Camberg dorthin abgeordnete Mädchen wegen einer Diphtherie-Epidemie zunächst nicht aufnehmen konnte, sei es auf Anweisung der Fürsorgebehörde in Wiesbaden (Fritz Bernotat) zur vorübergehenden Einweisung Ruth Pappenheimers sowie der beiden anderen Mädchen in den Idsteiner Kalmenhof gekommen. Der Angeklagte Wesse sagte bei seiner gerichtlichen Vernehmung aus, Ruth Pappenheimer sei auf dem Weg von Schloss Dehrn nach Idstein ihrer Betreuerin nach Frankfurt entwichen und kurz darauf von „einem Soldaten in die Anstalt eingeliefert“ worden.[9] Der Kalmenhof diente in der NS-Zeit als „T4-Zwischenanstalt“ für die Tötungsanstalt Hadamar. Am 16. Oktober 1944 war die Abholung der drei Mädchen durch die Leiterin der Camberger Haus- und Landarbeitsschule geplant, wobei nur Anni Geis und Getrud Schmieden abgeholt werden konnten, Ruth Pappenheimer sei an „Lungenentzündung“[10] erkrankt und müsse bleiben. Wenige Tage später wurde sie im Kalmenhof ermordet, während die beiden anderen Mädchen aus der nach Kriegsende aufgelösten Camberger Schule nach Hause entlassen wurden.[11]

Ermordung durch Hermann Wesse

Aus den Gerichtsakten geht hervor, dass sich der Landesrat Fritz Bernotat „besonders dafür eingesetzt“[12] habe, die Tötung der Ruth Pappenheimer zu forcieren. Der zu diesem Zeitpunkt am Idsteiner Kalmenhof erst wenige Monate tätige Hermann Wesse unterstützte das Ansinnen seines Vorgesetzten Bernotat mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und führte die Ermordung, nachdem die diesbezügliche Erlaubnis von Berlin eingetroffen war, auch durch. Aus den Gerichtsakten: „Abends um 6 Uhr habe die Schwester Mu. der Pappenheimer noch eine Morphiumspritze gegeben, da sie auf Anruf noch reagiert hätte. Am 30. Oktober 1944 ist die Pappenheimer gestorben. Im Totenschein hat der Angeklagte Wesse laut Sterbeurkunde Nr. 153/44 des Standesamtes Idstein als Todesursache Bronchopneumie und Herz- und Kreislaufschwäche angegeben. Die Beerdigung erfolgte ebenfalls laut Aussagen der Zeugin Ko. und L. in der geschilderten unwürdigen Weise.“[13]

Der „Fall Pappenheimer“ im Kontext des Kalmenhof-Prozesses

In der Gerichtsverhandlung gegen den Arzt Hermann Wesse wird überdeutlich und mehrfach betont, dass Ruth Pappenheimer, deren Fall (neben drei weiteren) im Kontext des Kalmenhof-Prozesses ziemlich exakt[14] rekonstruiert wurde, „geistig völlig normal“ gewesen sei, aber nach „Angabe und Meinung des Angeklagten Wesse lediglich … den Asozialen bzw. den charakterlich Abartigen“[15] zuzurechnen sei.

Dieser Verweis muss insofern als prozessentscheidend eingeordnet werden, da es im Rahmen von Verhandlungen zu Tötungsdelikten im NS-System immer wieder zu Entschuldungsversuchen von Angeklagten kam, die sich nicht nur auf die rechtspositivistische Ausrichtung im NS-Systems bezogen, sondern, wie dies auch Wesse tat, auf Befehlsnotstand. Im Kontext der Aktion T4 waren jedoch, nimmt man den die systematische Tötung geistig und körperlich Behinderter vermeintlich legitimierenden Führererlass als Grundlage an, „Gesunde“ nicht betroffen. Insofern war die Hervorhebung des Falles Ruth Pappenheimer kein Versuch, eine Opferhierarchie zwischen vermeintlich „Gesunden“ und „Kranken“ zu etablieren und Erstere höher zu bewerten. Vielmehr diente der prozessuale Fokus auf Ruth Pappenheimer dem Ziel, dem Tötungsarzt Hermann Wesse (der gegen das Ersturteil in Berufung ging) die den Tatbestand des Mordes erfüllenden Kriterien an einem dafür besonders prädestinierten Fall sicher nachweisen zu können. In der Urteilsbegründung heißt es entsprechend: „Der Fall Pappenheimer war durch den Erlass vom 01.09.1939 nicht gedeckt, da es sich hierbei nicht um eine Kranke gehandelt hat.“[16]

Problematische Deutung in der Sekundärliteratur

Der prozessentscheidende (s.o.) Sachverhalt der körperlichen und geistigen Gesundheit des Mordopfers Ruth Pappenheimer, von der Vertretung der Anklage aus prozessualen Gründen deutlich hervorgehoben, entwickelt in der vielfältigen Erwähnung des Falles in der Literatur und im Internet ein problematisches Eigenleben, wodurch es zu einer Skandalisierung des Falles „Ruth Pappenheimer“ an sich, aber auch einer erneuten Marginalisierung des Opfers kommt. Die Diskriminierung der NS-Zeit, die Ruth Pappenheimer widerfuhr, wird so (unbewusst) auch in der Rezeption in der Literatur wiederholt. Aus Fürsorge- und Prozessakten wird deutlich, dass Ruth Pappenheimer punktuell mit dem Gesetz, aber auch den (primär für Mädchen und Frauen festgeschriebenen) rigiden Moralvorstellungen der NS-Zeit in Konflikt kam, was ursächlich für die Verbringung in die Fürsorgeverwahrung war. In der Sekundärliteratur zu Ruth Pappenheimer, in der keine kritische Schau der Originalakten vorgenommen, sondern häufig die durch NS-Ideologie gefärbten Stereotype und (fehlerhaften) Zuschreibungen übernommen werden, kommt es zu einer abermaligen Marginalisierung des NS-Opfers Ruth Pappenheimer. In Sicks Untersuchung 1983[17] erfolgen noch eine ausgewogene Darlegung der Prozessumstände sowie die als Gerücht ohne Beleg gekennzeichneten Angaben[18] zu dem angeblichen „Verhältnis“ zwischen dem Landesdirektor Bernotat und der Ermordeten. Hier erfolgt auch der Verweis auf „Zeugenaussagen“, wonach R. P. „außerordentlich schön“ gewesen sei. Dass diese in der Literatur immer wieder hervorgehobenen Aspekte im prozessualen Kontext der Ermordung des Opfers irrelevant waren, der Verweis auf die „körperliche und geistige Gesundheit“ der Ermordeten rein strategische Gründe im Sinne des Erfolges der Anklage hatte, wird in der Literatur nicht kausal erklärt und lenkt, letztlich in skandalisierender Art und Weise, von der Opferbiografie ab. In einer der jüngeren Publikationen[19] entwickelt der Autor gar die These vom „Missbrauch“ an Ruth Pappenheimer durch ein Mitglied des Kalmenhof-Fördervereins,[20] ohne hierfür Belege anzuführen, wodurch der in den Akten dokumentierte Tatbestand des institutionellen, rassistisch motivierten Mordes Gefahr läuft, aus dem Blickwinkel zu geraten.

Durch die implizit (und eindimensional) sexuelle, durch Akten nicht belegbare Deutung des Mordmotives (Verhältnis mit Bernotat? Missbrauch?) werden die tatsächlichen Mordmotive, fußend in der NS- Rassenideologie und der Deutung R. P. als „Asozialer“ Asoziale (Nationalsozialismus) in den Hintergrund gedrängt. Der skandalisierende Blick des Boulevards[21] auf den „Fall Pappenheimer“ lenkt nicht nur von Systematik und Struktur des durch das NS-Regime brachial (und sei es durch Vernichtung) implementierten rigiden Moral- und Gesellschaftskonzeptes ab, sondern verhindert auch eine exemplarische Einordnung des Mordes an Ruth Pappenheimer, deren Schicksal stellvertretend für die Vielen steht, die im Idsteiner Kalmenhof Opfer der systematischen Mordmaschinerie wurden.

Ruth Pappenheimer - Beispiel für das stereotype Deutungsmuster der Schönen Jüdin

Die sich durch die Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts wie ein roter Faden ziehende, marginalisierende Zuschreibung des Sterotyps der Schönen Jüdin ist ein Aspekt des historischen Antijudaismus. Petra Feldmann hat in einem Beitrag [22] das marginalisierende Stereotyp der Schönen Jüdin beschrieben. Im Falle Ruth Pappenheimer trifft diese Analyse sowohl für die Zeit vor, als auch nach 1945 zu.

Gedenken

Am 21. Juni 2013 wurde vor dem Haus Krifteler Straße 103 im Frankfurter Gallusviertel, ihrem letzten frei gewählten Wohnort, ein Stolperstein für Ruth Pappenheimer verlegt.

Quellen

  • HHStaW Prozessakten Kalmenhof-Prozess Abt. 461 Nr. 31526 Anklage und Prozess (1946/1947) gegen den Anstaltsarzt Hermann Wesse
  • Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M., Fürsorgeakte 357
  • Sterbeurkunde Ruth Pappenheimer 153/44 Stadtarchiv Idstein
  • Haus- und Landarbeitsschule Bad Camberg. Aufstellung Personalbestand der Schule (1942) im Stadtarchiv Bad Camberg.(StAC XXI 1/15)
  • Christiaan Rüter u.a.: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen NS-Tötungsverbrechen 1945–1999. Band I (Fall 014) und III (Fall 102)

Darstellungen

  • Kerstin Freudiger: Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, 2002.
  • Martina Hartmann-Menz: Die Víta Ruth Pappenheimer / Dokumentation Stolperstein Ruth Pappenheimer, Die Synagoge in Dornheim, Alemannia Judaica, 2012 ‎
  • Lutz Kaelber: Jewish Children with Disabilities and Nazi "Euthanasia" Crimes in: The Bulletin of the Carolyn and Leonard Miller Center for Holocaust Studies. The University of Vermont. Volume 17. Spring 2013
  • Peter Sandner: Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus. 2003. Darin: Verweis auf die Haus- und Landarbeitsschule Bad Camberg.
  • Christian Schrapper, Dieter Sengling (Hrsg.): Die Idee der Bildbarkeit. 100 Jahre sozialpädagogische Praxis in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof. Juventa Verlag, Weinheim/München 1988.
  • Dorothea Sick: „Euthanasie“ im Nationalsozialismus am Beispiel des Kalmenhofes in Idstein/Ts. 1983.
  • Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik Deutschland, DVA, München 2006. (Kommentar: Leider ohne Quellenangaben, hinsichtlich der tatsächlichen Aktenlage recht unscharfe Darstellung des „Falles Pappenheimer“)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Martina Hartmann-Menz: Julius Pappenheimer, Alemannia Judaica, 2012
  2. Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Nullkartei, Kasten 1.105
  3. Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a.M., Fürsorgeakte (357) Ruth Pappenheimer
  4. Rüter S.239 f.
  5. HHStaW Abt. 461 Nr. 31526 Bl. 5 Schreiben der Heimleiterin an die Staatsanwaltschaft Frankfurt vom 28. Oktober 1946
  6. Bad Camberg: Ein dunkles Kapitel, Frankfurter Neue Presse, 21. September 2013
  7. HHStaW. Abt. 461 Nr. 31526 Bl.5
  8. Diese war bis zu ihrem Tod der Einrichtung in Camberg zugeordnet, wenngleich sie in unterschiedlichen Haushalten und Einrichtungen der Umgebung von dort abgeordnet worden war.
  9. HHStaW Abt. 461/31526/2 Blatt 7
  10. HHStaW. Abt. 461 Nr. 31526 Bl.5
  11. HHStaW. Abt. 461 Nr. 31526 Bl.6
  12. Rüter, S. 243
  13. Rüter, S. 243 f.
  14. Sick, S. 39.
  15. Rüter, S. 239.
  16. Rüter, S. 241.
  17. Sick, S. 39 ff.
  18. FNP, 27. November 1946
  19. Wesnierski, Peter. Schläge im Namen des Herrn (2006)
  20. Wesnierski, a.a.O. S. 136.
  21. siehe Wesnierski
  22. Siehe dazu: Petra Feldmann: Die „Schöne Jüdin“. Jüdische (Geistes-)Schönheit zwischen erotisierter Begierde und antijüdischer Abwehr als exemplarisches Phänomen einer Legitimierung hegemonialer Wahrnehmungsordnungen. In: Nebulosa – Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität. 2012/01
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