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Selbstmordattentat
Ein Selbstmordattentat ist ein (Mord-)anschlag auf Menschen oder Objekte durch einen Täter, der den Verlust des eigenen Lebens als notwendige Bedingung zum Gelingen des Attentats voraussetzt.
Bezeichnungen sind Selbstmordanschlag, Suizidanschlag, Suizidattentat, Selbsttötungsattentat, Selbsttötungsanschlag und übertragen auch Kamikaze.
Geschichte
Das Opfern des eigenen Lebens für ein bestimmtes Ziel findet sich schon in der römischen Geschichtsschreibung. Teils wurde er als Möglichkeit in Kauf genommen; teils waren die Tatumstände so, dass der Tod des Täters höchstwahrscheinlich war. Der Täter beabsichtigt(e), im Zuge seiner Tat Menschen mit in den Tod zu reißen. Der eigene Tod wird seit Beginn als sicher vorausgesetzt. Mögliche Gründe sind ideengeschichtliche Veränderungen. In größerem Maße werden Selbstmordattentate durch waffentechnische Entwicklungen ermöglicht. Sprengwaffen sind seit langem einfach herzustellen bzw. zu handhaben.
Militärstrategisch sind Selbstmordattentate und andere vergleichbare Aktionen wie asymmetrische Kriegführung ausrüstungsmäßig Unterlegener gegenüber waffentechnisch höhergerüsteten (aber andere schwache Seiten aufweisenden) Feinden von Wichtigkeit.
In seiner modernen Form, die sich seit den 1970er Jahren, verstärkt seit 1982 entwickelte, wurden Selbstmordattentate zunehmend zum Merkmal des islamistischen Terrors. Christoph Reuter behauptete in seinem 2003 erschienenen Buch, Selbstmordattentate hätten in der islamischen Welt ihren Ursprung und die Iraner hätten den Boden dafür bereitet.[1] Der Islamwissenschaftler Elhakam Sukhni widersprach dieser These und schrieb in einem 2011 erschienenen Buch:
„Die globale kommunistische Solidarität, sowie der gemeinsame Kampf gegen den US-Imperialismus und der damit verbundene Austausch mit koreanischen und japanischen Kontakten, trugen letztendlich dazu bei, dass die Selbstsprengungstaktiken Einzug in den Nahen Osten fanden. Deren Anwendung wurde erst später von islamischen Guerillagruppen wie der Hizbullah und der Hamas perfektioniert und von der al-Qaida zum Modus Operandi entwickelt.“[2]
Laut Sukhni sei nämlich der erste Selbstmordanschlag im islamischen Raum die Selbstsprengung eines Mitglieds der Japanischen Roten Armee während des Anschlags am internationalen Flughafen von Tel Aviv (heute Flughafen Ben Gurion) am 30. Mai 1972 gewesen. Takeshi Okudaira beabsichtigte aus Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand gemeinsam mit zwei weiteren Japanern (darunter Kōzō Okamoto) israelisches Sicherheitspersonal zu töten und sprengte sich nach einem langen Feuergefecht schließlich mit einer Handgranate selbst in die Luft.[3] Der Anschlag wurde bekannt als Massaker am Flughafen Lod.
Selbstmordattentate sind heute eine militärische Taktik terroristischer Gruppen. Es gibt einige Thesen, warum ihre Zahl zugenommen hat. Einige meinen, im Zuge wirtschaftlicher und informationeller Globalisierung habe ein Widerstreit konkurrierender Ideologien zugenommen. Wirtschaftliche Disparitäten sind heute bekannter als zum Beispiel in den 1970er Jahren.
Motivgrundlagen
Selbstmordattentäter folgen häufig einem vermeintlich höheren Ziel und sehen sich selbst als Widerstands- oder Glaubenskämpfer. Bei Selbstmordattentaten steht fast immer eine Organisation im Hintergrund, da ohne sie die technologische und taktische Logistik eines Attentats nicht zu bewältigen wäre. Terrororganisationen müssen für einen möglichst hohen Erfolg auf früher gewonnene Erfahrung bei Anschlägen zurückgreifen.
Während früher militärische und politische Ziele angegriffen wurden, werden heute viel häufiger Zivilisten zum Ziel der extremen politischen und religiösen Gruppen. Dies wird mit dem taktischen Gewinn für die Terroristen, der aus der wichtigen Rolle der öffentlichen Meinung für die Gestaltung der Politik in den angegriffenen Demokratien resultiert, erklärt.
Damit im Zusammenhang stand die Entwicklung von religiösen Fundamentalismus zu einem Konkurrenzmodell zur „freiheitlichen, demokratischen und säkularen Moderne“. Die waffentechnische Entwicklung erlaubt es heute zudem mehr als früher, mit relativ einfachen und von einer einzigen Person bedienbaren Waffen oder umfunktionierten zivilen Geräten (wie Flugzeugen, Tanklastern) eine vergleichsweise große Gruppe an Menschen tödlich zu treffen. Wobei der Anschlag ohne Aufsehen vorbereitet wird, aber eine große Medienpräsenz bewirkt. Das Ziel informeller Kriegsführung wird immer wichtiger. Dazu trägt im extremen Fall die wachsende Miniaturisierung und Privatisierung von Massenvernichtungswaffen mit immer verletzlicherer komplexer Umwelt bei.[4]
Nachdem Selbstmordattentate gegen Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Kamikaze-Angriffe japanischer Piloten ins Bewusstsein rückten, werden sie seit den 1980er Jahren zunehmend vor allem in Israel, Irak, Afghanistan und Sri Lanka eingesetzt. Weltweit waren zwischen 1980 und 2001 nur drei Prozent aller Terroranschläge Selbstmordattentate, sie sind jedoch in diesem Zeitraum für mehr als die Hälfte der durch Terror verursachten Todesfälle verantwortlich. Die Anschläge auf das World Trade Center bleiben dafür unbeachtet. Selbstmordattentate gelten als eine effektive Methode zur Tötung von Menschen. Die meisten Opfer forderten die Anschläge auf das World Trade Center, es gab Attentate, die nur den Täter verletzten oder töteten.
Akzeptanz in der muslimischen Welt
Umfragen des Meinungsforschungsinstitutes Pew in 21 muslimischen Ländern zeigen, dass die große Mehrheit der muslimischen Bevölkerung Selbstmordattentate ablehnt. Gefragt wurde ob Selbstmordattentate gegen Zivilisten zur Verteidigung des Islam „oft oder manchmal“ gerechtfertigt seien. Die Ansichten hierzu sind von Land zu Land sehr unterschiedlich und reichen von 1 % Befürwortung in Aserbaidschan bis zu 40 % bei Palästinensern. Die größte Akzeptanz haben Selbstmordattentate in Südasien (Pakistan: 13 %, Bangladesch: 26 %, Afghanistan: 39 %) und in Nordafrika bzw. dem mittleren Osten (Irak: 7 %, Marokko: 9 %, Tunesien: 12 %, Jordanien: 15 %, Ägypten: 29 %, Staat Palästina: 40 %).[5]
Klassifizierungen
Art, wodurch der Tod des Attentäters eintritt
- Das „klassische“ Selbstmordattentat, bei dem sich der Täter zeitgleich mit den Opfern tötet. Meist erfolgt dies durch Sprengstoff, der am Körper in einem Sprengstoffgürtel oder in einem Fahrzeug deponiert ist und vom Attentäter gezündet wird. Diese Art des Selbstmordattentates wurde erst 1982 im Umfeld der späteren Hisbollah im Libanon entwickelt und verbreitete sich dann von dort aus in die Welt.
- Eine andere Form ist das Attentat, bei dem der Täter sich nach Durchführung selbst tötet.
- Der vom (vermeintlichen) Haupttäter getragene Sprengsatz wird von einem Mittäter mit einer Fernsteuerung oder Zeitzünder zur Explosion gebracht. Beispielsweise erfolgt diese Art bei den schwarzen Witwen. Das Attentat kann mit oder ohne Wissen des Sprengstoffträgers erfolgen, dem so teilweise eine Opferrolle zukommen kann.
Zweck des Selbstmordattentats
- Es soll eine starke Wirkung in der öffentlichen Meinung erreicht werden.
- Der Attentäter will den Märtyrerstatus im Rahmen der Religion erhalten, um etwa das „Leben im Paradies“ zu erreichen
- Der hohe logistische Aufwand, das Leben des Täters während des Attentats und danach zu schützen, soll umgangen werden.
- Die (mediale) Wirkung des Anschlags soll durch die Ausführung als Selbstmordattentat verstärkt werden.
- Durch die Eigentötung des Attentäters sollen die Hintermänner geschützt werden, da keine aussagefähigen Gefangenen gemacht werden können. Gegenmaßnahmen sind daher meist auf Festnahmen bei misslungenen Selbstmordattentaten beschränkt.
- Der Schaden beim Gegner kann durch die (innere) Anwesenheit des Attentäters wesentlich vergrößert werden.
- Der Gegner soll durch das Demonstrieren von äußerster Entschlossenheit besonders verunsichert werden.
- Dem Gegner soll seine Machtlosigkeit gegen derartige Attentate vor Augen geführt werden.
Frühe Beispiele
Frühe Selbstmordattentate gab es in der Antike bei den christlichen Circumcellionen in Nordafrika und im Mittelalter bei den muslimischen Assassinen im vorderen Orient. Im Alten Testament im Buch der Richter, Kapitel 16 wird ein Selbstmord von Samson beschrieben, bei dem über 3000 Männer und Frauen starben. Manche sehen in diesem Selbstmord, der ursächlich für den Tod vieler war, unter Vernachlässigung der Umstände ein Selbstmordattentat. Im Deutsch-Dänischen Krieg belud sich der Pionier Klinke am 18. April 1864 mit Sprengstoff[6] und schuf so den für die Erstürmung der Düppeler Schanzen notwendigen Durchbruch. Im 20. Jahrhundert haben zunächst während des Zweiten Weltkrieges die Angriffe der japanischen Kamikazeflieger wie auch das deutsche Projekt Selbstopfer von sich reden gemacht. Ein bekannter Vorfall aus dem Zivilleben ist das Schulmassaker von Bath im Jahr 1927.
Am 21. März 1943 versuchte der Wehrmachtsoffizier Rudolf-Christoph Frhr. v. Gersdorff Adolf Hitler durch ein Selbstmordattentat zu töten. Hitler eröffnete anlässlich des Heldengedenktages eine Ausstellung sowjetischer Beutewaffen im Zeughaus Berlin. Von Gersdorff war abkommandiert, als Experte die Ausstellung zu erläutern. Er wollte Hitler und die anwesende Führungsspitze (Göring, Himmler, Keitel und Dönitz) mit zwei Clam-Haftminen, die er in den Manteltaschen trug, in die Luft sprengen. Nachdem von Gersdorff den Zeitzünder bereits aktiviert hatte, lief Hitler durch die Ausstellung, ohne vor Ausstellungsstücken innezuhalten, und verließ das Gebäude unerwartet frühzeitig. Von Gersdorff entschärfte die 10-Minuten-Zeitzünder deshalb auf einer Toilette des Zeughauses.
Die Märtyrerangriffe der Bassidschis während des ersten Golfkrieges zwischen dem Irak und dem Iran werden gemeinhin als Ausgangspunkt der Entwicklung der Selbstmordattentate im Libanon ab 1982 angesehen. Einige Wissenschaftler argumentieren, dass die Anschläge im linksextremistischen Umfeld der 1960er und 1970er Jahre wurzeln.[7] So wird auf die Verstrickungen um einen der Angriffe der Japanischen Roten Armee am 30. Mai 1972 auf dem ehemaligen Flughafen Lod bei Tel Aviv verwiesen.
Täterprofil
Noch in den 1980ern kam Strentz zum Schluss, der typische palästinensische Terrorist sei zwischen 17 und 23 Jahren alt, komme aus einer großen und verarmten Familie und habe eine geringe Bildung.[8] Heute sind solche Ergebnisse überholt. Entgegen der verbreiteten Vorstellung, dass Selbstmordattentäter aus Verzweiflung über ihre armen Verhältnisse in ausgegrenzten Schichten der Bevölkerung handeln, kommen die Attentäter meist aus dem (gehobenen) Mittelstand. Sie haben eine überdurchschnittlich gute Ausbildung, sogar Universitätsabschlüsse und zeigen keine Anzeichen einer Psychopathologie. Die wohl bekanntesten Täter, die der Anschläge des 11. September 2001, waren der Planer Mohammed Atta, der aus einer Mittelstandsfamilie stammt und der wohlhabende Ziad Jarrah, der aus einer reichen Familie stammend christliche Schulen besucht hatte und Alkohol trank. Auch wenn die Selbstmordterroristen meistens junge, unverheiratete Männer waren, muss man doch von einer vielfältigeren Demographie ausgehen, gibt es doch darunter auch verheiratete Männer in den Vierzigern oder junge Frauen.
Die Wahrscheinlichkeit, zum Attentäter zu werden, steigt nicht mit der eigenen Armut, sondern mit der politischen Unfreiheit der Gesellschaft, aus der er kommt. Dies gilt besonders für instabile Gesellschaften mit schwacher Regierung.
Täterinnen
Der zunehmende Einsatz von Frauen wird von Clara Beyler vom israelischen International Institute for Counter-Terrorism (ICT) in Herzliya damit erklärt, dass diese ihre Frustration über ihre untergeordnete Rolle in der Gesellschaft mit einer Demonstration ihrer Stärke und Macht ausleben.[9] Seit Frauen seit 2003 bis 2004 häufiger zu Selbstmordattentäterinnen werden, wurde es schwieriger, Täterprofile zu erstellen. Auf Israel bezogen wird der Einsatz von Frauen als Selbstmordattentäterinnen mit der Tatsache in Zusammenhang gebracht, dass Arafats al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden säkular-nationalistisch sind.
Nach einem Bericht der US-Armee von 2011 waren Selbstmordattentäterinnen für 65 % der erfolgreichen Attentate verantwortlich, obwohl sie lediglich 15 % der Attentäter darstellen. 20 % der Frauen, die einen Selbstmordanschlag ausführten, taten dies mit der Absicht, eine bestimmte Person umzubringen – im Vergleich zu nur 4 % der männlichen Attentäter. Der Bericht besagt weiter, dass Attentäterinnen oft Rache an jenen suchen, die sie für einen persönlichen Verlust verantwortlich machen.[10]
Palästinenser
Bei der medialen Inszenierung ihrer Selbstmordattentäter ließen sich die Palästinenser vom japanischen Vorbild der Abschiedsinszenierung der Kamikaze-Piloten inspirieren. Ein Bindeglied zwischen Fern- und Nahost waren hier aber auch teilweise von Nordkorea unterstützte japanische Selbstmordterroristen, die im Mai 1972 das erste, allerdings noch weitgehend improvisierte, Selbstmordattentat im Nahen Osten verübten, bei dem sich einer der Terroristen sprengte.
Die palästinensischen Fedajin systematisierten ab 1974 diese Waffe. Ihre Terroristen sprengten sich in den darauf folgenden Jahren bei den Anschlägen auf israelischem Territorium immer wieder in die Luft. Die Palästinenser gaben später ihre Erfahrung an die Gegner des iranischen Schah-Regimes, die damals im Libanon Zuflucht fanden, weiter.
Ab 1993 wurden Selbstmordattentate auch unter Palästinensern wieder populär, wobei die ersten Attentate von der Hamas durchgeführt wurden. Bald jedoch folgten auch andere Gruppierungen wie etwa Islamischer Dschihad und der Al-Aqsa-Brigaden der Al-Fatah. Bis heute wurden bei etwa 140 Anschlägen die Attentäter und weitere 500 Menschen getötet und über 3000 Personen verletzt.
Legt man einen Zeitraum von November 2000 bis November 2003 zugrunde, in dem 103 Anschläge stattfanden, so wurden im Durchschnitt bei einem Selbstmordattentat 4,3 Menschen getötet und 29,9 Menschen verletzt. Die Effektivität dieser Anschläge war dabei sehr variabel. In diesem Zeitraum waren nur 15 Attentate für 3500 Opfer verantwortlich, 22 töteten nur den Attentäter. Laut Statistiken der Tzahal wurde in den letzten vier Monaten des Jahres 2000 kein einziger Anschlag verhindert, 2001 waren es 21, 2002 schon 112 und in den ersten elf Monaten des Jahres 2003 waren es 179 verhinderte Anschläge. Eine Kooperation von zwei Attentätern, die gleichzeitig oder zeitversetzt (etwa um ärztliche Helfer zu töten), ein Ziel angriffen, führte nicht zu einer doppelten Anzahl von Opfern, sondern nur der Hälfte mehr. In dem erwähnten Zeitraum betrug das Durchschnittsalter der Attentäter 21,7 Jahre, der jüngste war 16, der Älteste 48 Jahre alt. Die meisten Attentäter waren zwischen 17 und 26 Jahre alt. 7 von 112 Attentätern waren Frauen, 92 waren Männer, und von 4 wurde kein Geschlecht bekannt. Frauen konnten fast doppelt so viele Menschen ermorden wie Männer. 87 von 103 Anschlägen wurden mit Sprengstoffgürteln oder ähnlichen Instrumenten durchgeführt, in 14 Fällen wurde ein Auto genutzt, was sich aber als ineffektiv erwies. Auto-Bomber konnten im Durchschnitt nur 10,2 Opfer treffen. Die Mehrheit der Anschläge (76 von 103) wurde gegen die eindeutig leichter verwundbaren rein zivilen Ziele geführt, 10 Fälle hatten eindeutig Soldaten zum Ziel. Die meisten Opfer pro Anschlag wurden in Cafés oder Restaurants erzielt (im Durchschnitt 68,3), auf der Straße ausgeführte Anschläge resultierten im Durchschnitt in 31,2 Opfern. Wenn der Selbstmordattentäter bei einem Checkpoint gestoppt wurde, kam es im Durchschnitt nur zu 1,2 Opfern.
94 von 103 Anschlägen fallen auf das Konto von Hamas, die der Fatah nahestehenden Al-Aqsa-Brigaden und den Palästinensischen Islamischen Jihad, 2 wurden von der Fatah selbst ausgeführt und 1 jeweils von PFLP und Fatah Tanzim. Die Hamas-Attentäter waren dabei in der durchschnittlichen Anzahl der Opfer erfolgreicher als die anderer Gruppen. Das liegt laut Untersuchungen sowohl an der technologischen und organisatorischen Überlegenheit der Hamas als auch an ihrer Auswahl der individuellen Attentäter. Der relative Erfolg der Hamas liegt, so vermuten Eli Berman und David Latin, in ihrer Positionierung am radikalen Ende des politischen Spektrums begründet. So konnte sie überzeugtere und qualifiziertere Freiwillige gewinnen. Bei allen Gruppen konnte die im Laufe der Zeit gewonnene Erfahrung nicht in einer höheren Anzahl von Opfern pro Anschlag resultieren, wohl weil die israelische Seite in der Opferminimierung noch erfolgreicher war.
Ariel Merari von der Universität Tel Aviv hat, als der führende Wissenschaftler auf dem Gebiet, Selbstmordattentate im Falle Israels empirisch untersucht. Er stützt sich dabei auf Medienberichte, Interviews mit gefangengenommenen erfolglosen Tätern, Interviews mit den Hintermännern und Befragungen der Familien der Mörder.
In seiner 2004 veröffentlichten Studie definiert er Selbstmordattentate als „beabsichtigte Selbsttötung mit dem Zweck, andere zu töten, im Dienste eines politischen oder ideologischen Zieles.“ Es sei dabei von einer hoch riskanten Mission genauso zu unterscheiden wie von missglückten Bombentransporten oder dem Selbstmord mit politischer Aussage. Er untersuchte die verschiedenen populären Begründungsmuster wie religiöser Fanatismus, Armut, Ignoranz, Rache für persönliches Leid, Gehirnwäsche, sowie psychopathologische Ursachen.
In dem untersuchten Zeitraum von April 1993 bis Mai 2004 waren zumeist – in 89 % der Fälle – zivile Ziele betroffen (Kaufhäuser, Busse, Restaurants), in 11 % der Fälle wurden israelische Soldaten angegriffen. Dort, wo der Täter zweifelsfrei ermittelt werden konnte, war es die Hamas (80 Anschläge), der PIJ (44 Fälle), die Fatah (36 Angriffe) und die PFLP (9 Fälle). In 13 Fällen kooperierten mehrere Terrororganisationen. Die Täter sind durchschnittlich 21 Jahre alt, wobei der jüngste Täter 16 Jahre und der älteste 53 Jahre zählte. Mehr als 90 % waren unverheiratet und nicht verlobt. 95 % der palästinensischen Täter waren männlich (im Falle des Libanon wären es 84 %). Die Täter kamen aus allen gesellschaftlichen Klassen, weshalb Merari Armut als Ursache ausschließt. 77 % der Täter hatten ein Gymnasium besucht und 20 % sogar die Universität, teilweise mit einem vollen Abschluss (12 % der palästinensischen Durchschnittsbevölkerung besuchten eine Universität). Der Anteil derer, die aus so genannten Flüchtlingslagern stammen, ist dabei überproportional hoch. Vor Beginn der Intifada kamen 56 % der Attentäter aus Flüchtlingslagern, während der Intifada 40 %. 21 % der palästinensischen Bevölkerung leben in diesen Lagern. Nach Merari ist religiöser Fanatismus weder ein notwendiger noch ein hinreichender Faktor zur Erklärung der Anschläge. Neben der Tatsache, dass einige der Gruppen säkular sind, gaben die Mitglieder von Hamas und Islamischen Dschihad nicht die Religion als Hauptgrund an. Im Gegenteil: viele sehr religiöse Palästinenser lehnen die Taten ab. Auch persönliche Rache schließt Merari als Hauptgrund aus, denn 93 % der (potentiellen) Täter hätten keine Zeit in Gefängnissen verbracht; 87 % seien nicht in Zusammenstößen mit der Tzahal verletzt worden. 93 % hätten keinen Verwandten ersten Grades durch Einsätze der Tzahal verloren und 80 % verloren keinen guten Freund. Selbstmordattentäter seien auch nicht geisteskrank und zeigten auch keine üblichen Risikofaktoren für Selbstmordkandidaten, allenfalls die Hälfte zeige suizidale Symptome. Eine Ausnahme hiervon war der behinderte palästinensische Knabe Jamas, der sich, erst 10 Jahre alt, bei einem israelischen Checkpoint töten sollte. Dass er scheiterte und von der israelischen Armee aus seiner Situation befreit werden musste, zeigt die relative Erfolglosigkeit von psychisch kranken Kandidaten.
Nach all dem schließt Merari, der typische Attentäter sei ein Phänomen sui generis und passe nicht in verbreitete psychologische und soziale Erklärungsmuster für Selbstmorde. Andererseits hätten Selbstmordattentäter meist eine schwach ausgeprägte Personalität mit geringem Selbstwertgefühl und seien oft sozial ausgegrenzt. Ihr Denken sei dabei gleichzeitig starr und konkret. Nach ihrer Motivation befragt, wurde angegeben, die Gründe lägen in nationaler Erniedrigung, darin, ‚Gottes Willen zu tun‘, persönlicher Rache, sowie der Hoffnung auf das Paradies.
Merari kommt zu dem Schluss, die Attentate seien ein Gruppen-, kein Individualphänomen. Gruppen, nicht Individuen, planen sie. In den extremistischen Gruppen erfahren die Attentäter ein Gemeinschaftsgefühl und Führung durch charismatische Führer. Dabei ist neben der Indoktrination durch die Gruppen und dem aufgebauten Gruppengefühl und Gruppenzwang auch die allgemeine öffentliche Atmosphäre von Bedeutung, besonders, wie sie sich in den Medien oder dem Erziehungssystem äußert. Durch sie wird nicht nur die generelle Anzahl der Freiwilligen, sondern auch über Zeitpunkt und Zahl der Attentate bestimmt. Oft seien die Hintergründe jedoch nur missionsspezifisch zu erklären.
Die Attentäter sind zu gleichen Teilen Freiwillige und Individuen, die durch die Gruppe angesprochen wurden. Die Einigung fällt dann normalerweise innerhalb einer Woche, in der Hälfte der Fälle sogar sofort. In einem Drittel der Fälle vergehen weniger als 10 Tage von der Einigung bis zur Ausführung der Tat. In 60 % der Fälle wird die Tat innerhalb des ersten Monats durchgeführt.
Nachdem die Attentäter persönliche Dinge hinter sich gebracht haben (Geschenke und Photos sind üblich) werden die bekannten Bekennervideos produziert – meist einen Tag vor dem Anschlag. Vor der Ausführung sind die Täter zumeist bereits in einem Tunnel, einige zögern allerdings, wobei sich dieser Drang mit der Nähe zu Ziel verstärkt. Auf ihrem Weg dienen Eskorten, Instruktionen oder Mobiltelefone zu ihrer mentalen Begleitung. Notwendig dafür, dass die Tat dann noch abgebrochen wird, ist eine Rechtfertigung oder Ausrede.
Hisbollah
Die schiitische Hisbollah war es, die – von der Islamischen Republik Iran massiv unterstützt – ab 1983 die Autobombe als weiteres Instrument des Selbstmordattentats einführte. Die meisten Selbstmordanschläge in den achtziger Jahren gegen die israelischen Besatzer im Libanon wurden jedoch von Mitgliedern pro-syrischer säkularer Organisationen verübt.
Sie waren auch die ersten, die die als Märtyrer bezeichneten Selbstmordattentäter unmittelbar vor ihrem Einsatz auf Video verewigten und das Band nach dem Anschlag dem Fernsehen zuspielten. Hierbei bauten sie auf der Erfahrung der palästinensischen linksmarxistischen Terrororganisation Volksfront für die Befreiung Palästinas-Generalkommando auf, denen in der Folge des Japanische Rote Armee-Anschlags von 1972 erste systematische Selbstmordattentate zugeschrieben werden und deren Selbstmordterroristen bereits ihre Suizidmissionen in einem Film dokumentiert hatten.[11]
Die Hisbollah hat Selbstmordattentate nur sehr gezielt und sparsam eingesetzt, verstand es aber mit spektakulären Videos weltweit auf sich aufmerksam zu machen. Ihr System zur Versorgung der Angehörigen der Selbstmordattentäter, die einen hohen sozialen Status genießen, hatte ebenfalls Vorläufer im Kampf- und Propagandasystem der palästinensischen Fedayin. Die Selbstmordattentate der Hisbollah führten zwar zum Rückzug der US-Amerikaner und Franzosen aus dem Libanon während des libanesischen Bürgerkriegs, waren jedoch keineswegs die direkte Ursache für den späteren Rückzug Israels aus dem Südlibanon.
Krueger und Maleckova untersuchten 2002 den wirtschaftlichen und den Bildungsstatus von Hisbollahkämpfern, die zwischen 1982 und 1994 im Kampf mit Israel ums Leben kamen. Daraus lassen sich wohl auch Rückschlüsse auf den Status ihrer Selbstmordattentäter ziehen. Es zeigte sich, dass sie etwas weniger Arme unter ihnen fanden, als in der Gesamtbevölkerung (28 % im Vergleich zu 33 %), dass sie aber signifikant häufiger eine sekundäre Schulausbildung genossen als die durchschnittliche Gesamtbevölkerung (33 % gegenüber 23 %).[12]
Tamil Tigers auf Sri Lanka
Die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE, auch Tamil Tigers) auf Sri Lanka verübten ab 1987 Selbstmordattentate, wobei das erste eine recht genaue Kopie des Anschlags auf das US-Hauptquartier in Beirut 1983 war. 1991 töteten die Tamil Tigers den indischen Premierminister Rajiv Gandhi durch ein Selbstmordattentat. Der srilankische Oppositionsführer Gamini Disanyake wurde 1994 durch ein Selbstmordattentat getötet. Chandrika Bandaranaike Kumaratunga überlebte 1999 ein Selbstmordattentat, sie verlor dabei jedoch ein Auge.
Kaschmir
In Kaschmir wurden 1989 die ersten Selbstmordattentate begangen, ohne sich jedoch stark auszubreiten.
Tschetschenien
In Tschetschenien oder von Tschetschenen in Russland wurden Selbstmordattentate etwa seit dem Jahre 2000 begangen.
Ausweitung
Die Terroranschläge am 11. September 2001 in den USA rückten Selbstmordattentate ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Seit dem Jahre 2002 werden Selbstmordattentate in immer weiteren Ländern verübt, darunter auch in Afghanistan, Marokko, der Türkei, Pakistan und Saudi-Arabien.
Irak
Seit dem Einmarsch der USA in den Irak 2003 wird das Land immer mehr zum Ziel von Selbstmordattentaten. Mehrere Selbstmordattentate in einer Woche waren Mitte 2006 die Regel. Im Irak wurden auch zunehmend Frauen als Selbstmordattentäter rekrutiert.
Syrien
Im Verlauf des Bürgerkrieges in Syrien wurden zahlreiche Selbstmordattentate durch islamistische Gruppierungen durchgeführt. Neben militärischen Zielen konzentrierten sie sich auf Einrichtungen und Repräsentanten des Regimes, aber auch auf zivile Ziele.[13]
Eine dieser Gruppierungen, die die Verwendung von Selbstmordattentätern als verbreitete Methode öffentlich eingestand, ist die al-Nusra-Front.[14] Die von den USA als Terrororganisation eingestufte Gruppe beschränkt sich nach eigenen Angaben bei diesen Angriffen auf militärische Ziele.[14] Unter den Anschlägen, zu denen sich die Organisation nachträglich bekannte, gehört unter anderem die Tötung von zwei hochrangigen Offiziellen des Assad Regimes im Juli 2012[15] aber auch der Angriff auf eine Textilfabrik des Regimes im Februar 2013, dem, nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten, 60 zivile Arbeiter zum Opfer fielen.[16]
Für Terroranschläge durch Selbstmordattentäter, die in erster Linie zivile Opfer forderten, übernahm dagegen oft niemand die Verantwortung. So beim Anschlag auf eine Einkaufsmeile in Damaskus im April 2013 mit 15 Toten und 58 Verletzen,[17] oder beim Anschlag auf einen Gottesdienst in einer schiitischen Moschee in Damaskus, bei dem ein Selbstmordattentäter im März 2013 42 Gläubige tötete und 84 weitere verletzte.[18][19]
Gegenmaßnahmen in Israel
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Es ist unmöglich, alle potentiellen Ziele zu schützen. Wenn Selbstmordattentate scheitern, dann an glücklichen Zufällen, spontaner mangelnder Motivation des Attentäters, oder durch Terror-Abwehr durch den Gegner oder die prospektiven Opfer. Neben der (gesetzlich verpflichtenden) Platzierung von Wächtern an den Eingängen zu Restaurants und Supermärkten oder an Busstationen, wird in Israel versucht, durch Straßensperren, Checkpoints und eine Sperranlage das Problem zu beherrschen. Die Sperranlage zum Gazastreifen und zum Westjordanland erwies sich als die bisher effektivste Abwehrmaßnahme.
Auch durch ein hohes Maß an öffentlichem Bewusstsein konnte in mehreren Fällen der Attentäter als solcher identifiziert werden und damit die Zahl der Opfer reduziert werden. Sicherheitspersonal wird in der Identifizierung und der Beeinflussung von Attentätern ausgebildet. Empirische Forschung zeigt, dass Beistehende zwar Angst verspüren, aber gleichzeitig noch vollständig zu rationalen nutzenorientierten und z. T. altruistischen, Handlungen fähig sind, die unter Einbeziehung vorhandener Informationen den Schaden minimieren können. Beistehende sind nicht demoralisiert und auf wilde Flucht beschränkt, es hat sich auch gezeigt, dass nur in ganz speziell gelagerten Fällen, das eigene Wohl auf Kosten anderer gesucht wird, und der Respekt für das Leben und den Besitz anderer aufgegeben wird. In einem Zeitraum von November 2000 bis November 2003 wurden in Israel etwa 40 von 103 Anschlägen durch Handlungen von Beistehenden beeinflusst.
Bei den 16 Anschlägen, die an Checkpoints stattfanden, wurden beispielsweise 9 durch Anwesende ausgelöst, die intervenierten. Solche Interventionen und Gegenmaßnahmen resultieren entweder aus Informationen oder nur Verdächtigungen. Durch Interventionen verliert der Attentäter die Kontrolle über Zeit und Ort des Anschlages und kann so bei der Opfermaximierung gehindert werden. Bei Fällen mit Intervention liegt die durchschnittliche Zahl von Opfern mit 16,9 deutlich unter der von 45,1, wenn keine Intervention stattfindet. Aus Israel wurden zahlreiche Fälle gemeldet, in denen Sicherheitspersonal oder Beistehende den Tod vieler Opfer verhinderten, indem sie den Attentäter stoppten, dabei kamen sie oft selbst ums Leben.
Andere Maßnahmen stützen sich auf technologische Entwicklungen wie etwa Roboter. Die Maßnahmen sind nicht ohne Erfolg. In Israel scheitern heute die allermeisten Attentate bereits im Vorfeld. Im ersten Halbjahr 2004 etwa konnten mehr als 100 Anschläge verhindert werden, nur 6 Versuche waren erfolgreich. Zwischen Oktober 2000 und August 2004 waren von 541 Angriffen nur 135 erfolgreich. Andere Maßnahmen, deren Erfolg oder Misserfolg nicht in dieser Statistik berücksichtigt ist, sind gezielte Tötungen, Armeeoperationen, und die Arbeit der Geheimdienste. Wichtig für deren Erfolg ist eine Kontrolle der Gebiete, sprachliche Fähigkeiten, effektive Zusammenarbeit und eine gute Interaktion zwischen den Schaltzentralen und dem Feld. Ein anderes Feld für Maßnahmen ist die Abschreckung der Gesellschaft im Allgemeinen und der Gruppen im Besonderen. Um den negativen Druck auf den potentiellen Attentäter und seine Familie zu erhöhen, wurden bis vor kurzem in Israel die Häuser von Angehörigen von Selbstmordattentätern zerstört.
Ursachen und Erklärungsversuche
Allgemein geht man davon aus, dass ein Selbstmordattentäter irrational handelt, dass ihn bestimmte religiöse, politische oder soziale Faktoren außerhalb gängiger Rationalität stellen, wo der gesunde Menschenverstand des Selbsterhaltungstriebes seine Wirkungskraft verloren hat. Neben der heute widerlegten Vorstellung, die ausweglose Lage der Täter sei die Ursache für diesen finalen Schritt, gilt vor allem fanatisierte Religiosität als Ursache für Selbstmordattentate.
Religiöser Fanatismus
Besonders der Wahhabismus, welcher als eine sehr fundamentale Strömung im Islam gilt, wurde in dieser Hinsicht als Verursacher genannt, denn in der Tat werden derzeit die weitaus meisten Selbstmordattentate von Wahhabiten begangen.[20]
Das amerikanische Verteidigungsministerium stellte in einer Studie über Selbstmordattentäter fest:
„Seine Handlungen eröffnen ihm ein Szenario, in dem er selbst, seine Familie, sein Glaube und sein Gott nur gewinnen können. Der Bomber sichert sich die Errettung und die Freuden des Paradieses. Er verteidigt seinen Glauben und kann sich, erinnert als tapferer Krieger, in eine lange Reihe von Märtyrern einreihen. Und endlich, durch die Art seines Todes, wird ihm garantiert, dass er Allahs Wohlgefallen besitzt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird das selbstlose Opfer des einzelnen Muslims, das er zur Zerstörung der Feinde des Islam bringt, eine geeignete, realisierbare und willkommene Handlungsoption.“
Der Bericht der Counterintelligence Field Activity (CIFA) zitiert eine Reihe von Quellen aus dem Koran, die sich auf den Dschihad (Heiliger Krieg), Märtyrertum, oder das Paradies beziehen, in dem für den Märtyrer wunderschöne Herrenhäuser und Jungfrauen zu erwarten sind. Man weiß, dass vor Anschlägen von den Terroristen üblicherweise solche Passagen aus dem Koran rezitiert werden.
Dass Selbstmordattentate ihre Wurzel nicht per se in der muslimischen Religion haben, wird unterstützt von der Tatsache, dass es auch in nicht-muslimischen Gesellschaften Suizidattentäter gibt, wie etwa die Tamil Tigers in Sri Lanka, die Kurdische Arbeiterpartei in der Türkei oder die japanischen Kamikaze-Angriffe im Zweiten Weltkrieg.
Nach der Hauptströmung des Islams ist ein Selbstmordattentat ausdrücklich verboten. Hiernach gilt nicht nur die Tötung unbeteiligter Menschen als eine schwere Sünde, sondern auch der Selbstmord an sich. Der Dschihad (Heiliger Krieg) wird nur für den Fall eines feindlichen Angriffs befürwortet.[21] Ein solcher Dschihad ist an feste Regeln gebunden. Insbesondere sind Zivilisten, Kinder und Alte im Kampf zu verschonen. Selbst ein möglicher Einsatz von chemischen Waffen (wie vergifteten Pfeilen) und ballistischen Geschossen (Katapulten) ist geregelt.[21]
Mehr als ein Jahrtausend wurden diese Grundsätze sowohl von Sunniten als auch Schiiten akzeptiert und eingehalten. Zu Beginn der 1980er Jahre haben jedoch militante Islamisten im Kampf gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans diese traditionellen Regelungen durch eine eigenwillige Interpretation des Korans aufgeweicht, um so den Selbstmordattentaten eine religiöse Legitimation zu verleihen.[22]. Unterstützung fand diese Interpretation durch einige religiöse Gelehrte in der islamischen Welt.[23]
Das Selbstmordattentat als Reaktion auf Besetzung
Abweichend von dieser Theorie gibt es Forscher, die die herausragende Rolle der Religion auf muslimische Selbstmordattentäter zu relativieren suchen. Robert A. Pape von der University of Chicago geht davon aus, dass sich hinter der religiösen Rhetorik recht profane Zwecke verbergen. Er sieht Selbstmordattentate weniger als Produkt des islamischen Fundamentalismus, sondern vielmehr als eine Reaktion auf fremde Besatzung. „Obwohl sie von Amerikanern als Ungläubigen spricht, ist al-Qaida weniger mit unserer Konversion befasst, als damit uns aus arabischen und muslimischen Ländern zu entfernen.“
An dieser Theorie wird wiederum kritisiert, dass sie zum einen nicht begründen kann, warum im Irak nicht vornehmlich amerikanische Soldaten, sondern Zivilisten verschiedener islamischer Konfessionen zum Opfer von Terroranschlägen werden, zum anderen, dass es viele Besatzungssituationen gibt, in welchen Selbstmordattentate nicht als Taktik angewandt werden. So gebe es beispielsweise keine Selbstmordterrorismus tibetischer Buddhisten. Auch die japanischen Kamikaze entstanden nicht als Reaktion auf Besatzung. In seiner Studie definierte Pape den Begriff der Besetzung zudem sehr weit: „Auch die Präsenz amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien in den 1990er Jahren fiel in seiner Darstellung in diese Kategorie.“
Individuelle Täterpsychologie und gruppendynamische Prozesse
Einige Ansätze zielen auf die individuelle Täterpsychologie, auf Familiendynamiken, für die eine häufige Opfer-Täter-Dynamik spricht, auf Gruppendruck und organisationelle Dynamiken oder eine Kombination aller vorstehend genannter Faktoren. Die individuelle Motivation ein Selbstmordattentat auszuführen hängt, nach dieser Theorie, von organisationellen Praktiken der Rekrutierung und von ideologischen Anreizen ab. Die Fähigkeit der Organisationen wiederum, Selbstmordattentate auszuführen, hängt von den strukturellen Möglichkeiten ab, zu denen nicht nur ein schwacher Staat, sondern eine größere gesellschaftliche Akzeptanz für suizidalen Terror gehöre. Zu dieser Akzeptanz komme es, wenn kulturelle Normen und historische Narratologien Märtyrertum begünstigen, wenn legitime Autoritäten extreme Gewalt fördern und wenn sich Gemeinschaften in einem politischen Konflikt bedroht fühlen.
In einer Vergleichsstudie zur Einstellung der libanesischen und der palästinensischen Gesellschaft zu Selbstmordattentaten stellte Simon Haddad von der Notre-Dame-Universität fest, dass in beiden Gesellschaften Frauen Selbstmordattentate eher unterstützen als Männer. Im Libanon stellte er eine Beziehung zum geringen Einkommen der befragten Bevölkerung fest, bei den Palästinensern gibt es einen statistischen Zusammenhang mit dem Wohnort in den so genannten Flüchtlingslagern. Wichtigster einzelner prognostischer Indikator für die positive Einstellung zu Selbstmordattentaten ist allerdings die Zustimmung zum politischen Islam (Islamismus). Dies gilt für die Palästinenser noch mehr als für Libanesen. Eine Umfrage des Palestinian Center for Policy and Survey Research (PCPSR) von 2001 stellte fest, dass die Unterstützung von Terroraktionen gegen israelische Zivilisten unter Berufstätigen mit qualifizierter Ausbildung höher war als unter geringqualifizierten Arbeitern (43,3 % im Vergleich zu 34,6 %); des Weiteren war sie weiter verbreitet unter den Palästinensern mit höherer Schulbildung als unter Analphabeten (39,4 bzw. 32,3 %).[12]
Dawud Gholamasad Forschungen zum Thema der Motivation aus der Prozesssoziologie haben einen ganzheitlichen Ansatz als Bezugsrahmen. Er führt Selbstmordattentate auf den Kampf um einen (kollektiven) Selbstwert zurück, der sich nicht aus einer individualistischen Perspektive erklären lässt und auch nicht auf religiöse Motive reduziert werden kann.
Der Journalist Christoph Reuter beschreibt die internationale Ausbreitung, Inszenierung und politische Wirkung von Selbstmordattentaten in der Kriegsführung, angefangen von Anschlägen im Libanon Anfang der 1980er bis hin zu Anschlägen von Al-Qaida, als einen sich auf gesellschaftlicher Ebene vollziehenden Werther-Effekt.[24]
Das Selbstmordattentat als regressives Menschenopfer
In einem weiteren Schritt sieht Takeda im terroristischen Selbstmordattentat ein in modernem Gewand wiedergekehrtes Menschenopfer. Die Rede von „Selbstmordattentat“ in Nachrichten und Alltagssprache kann leicht in die Irre führen, da der Ausdruck das Augenmerk des Sprechers von der menschenverachtenden Praxis ab- und dem schreckenerregenden Subjekt zuwendet. Dadurch werden in erster Linie der Selbstmord und das Attentat, d. h. in beiden Fällen das Töten von Menschen, verurteilt, weniger aber das, was in größerem Zusammenhang vonstattengeht, nämlich das Opfern von Menschen zu terroristischen Zwecken. Um das Phänomen von der praxisbezogenen Seite her angemessen zu erfassen, plädiert Takeda dafür, anstatt von „Selbstmordattentat“ von „Opferattentat“ zu sprechen.[25]
Literatur- und kulturwissenschaftliche Aspekte
Arata Takeda geht gegen das kulturalistische Othering des Phänomens des Selbstmordattentats vor und untersucht eine Reihe von Beispielen aus der abendländischen Literatur, die vergleichbare Phänomene beinhalten, verhandeln, bejahen oder auch verurteilen (Sophokles: Aias, John Milton: Samson Agonistes, Schiller: Die Räuber, Albert Camus: Les Justes). Er setzt damit den orientalisierenden oder gar islamisierenden Tendenzen der öffentlichen Wahrnehmung die These entgegen, dass das Selbstmordattentat ein potentiell universelles Verhaltensmuster sei, das – unabhängig von Kultur oder Religion – unter bestimmten situativen Variablen und systemischen Determinanten auftrete. Dazu zählt Takeda „das als Unrecht empfundene Leid, die totale Asymmetrie der Machtverhältnisse, das krankhaft gesteigerte Verlangen nach Gerechtigkeit, die Identifikation und Solidarität mit allen Unrecht Erleidenden und […] die selbstmörderische Aggression gegen typisierte Feindbilder“.[26]
Medizinische Aspekte
Besonders Selbstmordattentate durch Selbstsprengungen werfen verschiedene neuartige medizinische Probleme auf, da die Verletzungsmuster besonders der mitverletzten Personen sich sehr spezifisch darstellen und die Erstversorgung der Verletzten besonders schwierig ist. Die Verletzungen umstehender Personen sind neben der direkten Einwirkung der Explosion (Verbrennungen, Schnittwunden, Quetschungen, Knochenfrakturen) zusätzlich durch das Eindringen von verschiedenen Geweben (besonders Knochensplitter) des Attentäters charakterisiert. Nicht vollständig entfernte fremde Gewebsteile können zu Abkapslungen, Abstoßungsreaktionen und Entzündungen führen, weshalb sie unmittelbar nach dem Eindringen, aber bei schwieriger Identifizierung als Fremdgewebe auch noch nach mehreren Monaten entfernt werden müssen.[27] Umherfliegende Gewebeteile, Blut und vor allem eindringende Knochensplitter können neben den Verletzungen auch zu zusätzlichen Infektionen mit parenteral übertragbaren Viren wie HIV, Hepatitis-B-Virus (HBV) oder Hepatitis-C-Virus (HCV) führen. Da angeborene, chronische HBV-Infektionen im Nahen Osten häufig sind, sind die durch Selbstmordattentäter auftretenden Infektionen dort bedeutend.[28]
Da die überwiegende Absicht eines Selbstmordattentates die Tötung und Verletzung möglichst vieler Personen darstellt, ist aufgrund der oft hohen Zahl an Verletzten das Erstversorgungsmanagement als Massenanfall von Verletzten und die Triage der verletzten Überlebenden sehr schwierig. Die oft gleichförmigen, jedoch mehrfachen Verletzungen[29] verursachen oft Kapazitätsprobleme in den medizinischen Versorgungseinrichtungen,[30] zumal wenn diese in medizinisch unterversorgten Gebieten vorkommen. Die Identifizierung von Opfern ist bei schweren Verstümmelungen und Verbrennungen nicht einfach. Die Identifizierung und Zuordnung von Leichenteilen basiert meist auf genetischen Untersuchungen, wobei auch genetische Spuren des Täters zur Auffindung von Verwandten und damit zur kriminalistischen Aufklärung genutzt werden.[31]
Literatur
- Christoph Reuter: Mein Leben ist eine Waffe: Selbstmordattentäter, Psychogramm eines Phänomens. Bertelsmann, München 2002, ISBN 3-570-00646-8.
- Joseph Croitoru: Selbstmordattentate ursprünglich nicht islamistisch, 3. März 2004 qantara.de.
- Julia Jusik: Die Bräute Allahs. Selbstmord-Attentäterinnen aus Tschetschenien. NP, St. Pölten / Wien 2005, ISBN 3-85326-373-9.
- Sabine Adler: Ich sollte als Schwarze Witwe sterben. Die Geschichte der Raissa und ihrer toten Schwestern. DVA, München 2005, ISBN 3-421-05871-7.
- Dawud Gholamasad: Selbstbild und Weltsicht islamistischer Selbstmord-Attentäter. Tödliche Implikationen eines theozentrischen Menschenbildes unter selbstwertbedrohenden Bedingungen. Klaus-Schwarz, 2006. ISBN 3-87997-331-8
- Lorenz Graitl: Massen, Mörder, Märtyrer. Zur Sozialpsychologie von Selbstmordattentaten. In: IZ3W, Nr. 293, S. 10–13, 2006 sopos.org
- Arata Takeda: Ästhetik der Selbstzerstörung. Selbstmordattentäter in der abendländischen Literatur. Fink, München 2010. ISBN 978-3-7705-5062-3. (Volltext bei Digi20 der Bayerischen Staatsbibliothek)
- Arata Takeda: Skizze einer ‚anderen‘ Kulturgeschichte des Selbstmordattentats. Ein ungewöhnlicher Spaziergang durch die abendländische Literatur (PDF; 114 kB) International Max Planck Research School on Retaliation, Mediation and Punishment, Guest Lecture Series, 2010.
- Elhakam Sukhni: Die ,Märtyreroperation' im Dschihad: Ursprung und innerislamischer Diskurs. Akademische Verlagsgemeinschaft München 2011, ISBN 3-86924-107-1.
- Lorenz Graitl: Sterben als Spektakel. Zur kommunikativen Dimension des politisch motivierten Suizids. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-531-18461-6.
Weblinks
- The Logic of Suicide Terrorism (englisch)
- Abhandlung über die Psyche von Selbstmordattentätern
- Explosives Martyrium – Telepolis über Selbstmordattentäterinnen
- Der Psychoanalytiker Vamik Volkan über Terrorismus und Selbstmordattentäter
- Zur tödlichen Strategie der Selbstmordattentäter – Focus auf psychische und mediale Hintergründe, Vergleich zum Amoklauf, Sic et Non 2008
- Forscher Arata Takeda: „Zerstörungsphantasien gab es immer schon“ – Gespräch mit Alexander Kluge
- Fast hatte ich Mitleid – Interview mit Ariel Merari (Universität Tel Aviv)
- Das Selbstmordattentat – Interview mit Arata Takeda (Universität Tübingen)
Einzelnachweise
- ↑ Christoph Reuter: Selbstmordattentäter: Warum Menschen zu lebenden Bomben werden. München 2003, S. 18f.
- ↑ Elhakam Sukhni: Die „Märtyreroperation“ im Dschihad: Ursprung und innerislamischer Diskurs. München 2011, S 66.
- ↑ Elhakam Sukhni: Die „Märtyreroperation“ im Dschihad: Ursprung und innerislamischer Diskurs, München 2011, S. 17f.
- ↑ W. Laqueur: The new terrorism: Fanaticism and the arms of mass destruction. New York, 1999. Sowie: W. Enders, T. Sandler: Is transnational terrorism becoming more threatening? Atime series investigation. In: Journal of Conflict Resolution, 44, 2000, S. 307–332. Und: B. Hoffman: Inside terrorism. New York 1998.
- ↑ Pew Research Center (2013) THE WORLD’S MUSLIMS: RELIGION, POLITICS AND SOCIETY. Chapter 2: Religion and Politics, 30 April 2013
- ↑ Klinkeplatz. In: Straßennamenlexikon des Luisenstädtischen Bildungsvereins (beim Kaupert)
- ↑ Thorsten G. Schneiders: Heute sprenge ich mich in die Luft. Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt. Ein wissenschaftlicher Beitrag zur Frage des Warum. Münster 2007, S. 54 ff.
- ↑ R. Strentz: A terrorist psychosocial profile. Past and present. FBILaw Enforcement Bulletin 57, 1988, S. 13–19.
- ↑ Clara Beyler: Messengers of Death - Female Suicide Bombers. International Institute for Counter-Terrorism, 12. Februar 2003, abgerufen am 30. Januar 2013 (englisch).
- ↑ U.S. Army Female Suicide Bombers Report. (PDF; 1,9 MB) Public Intelligence, S. 71, abgerufen am 30. Januar 2013 (englisch).
- ↑ Siehe G. Thorsten Schneiders: Heute sprenge ich mich in die Luft. Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt. Ein wissenschaftlicher Beitrag zur Frage des Warum. Münster 2007, S. 54 ff.
- ↑ 12,0 12,1 A. B. Krueger, J. Maleckova: Education, poverty, political violence, and terrorism: Is there a connection? Working Paper No. w9074, National Bureau of Economic Research, 2002. In: Onlinefassung.
- ↑ US condemns Syria suicide attacks. Foxnews (AP), 10. Mai 2012; abgerufen 15. Juli 2013
- ↑ 14,0 14,1 Ruth Sherlock: Inside Jabhat al Nusra - the most extreme wing of Syria’s struggle. The Telegraph, 5. Dezember 2012; abgerufen 15. Juli 2013
- ↑ Bomb kills Syria defense minister, Assad’s brother-in-law and key aides Alarabia, 18. Juli 2012; abgerufen 15. Juli 2013
- ↑ Syria jihadists claim bus bombing on Hama factory. 24. Februar 2013, abgerufen 15. Juli 2013
- ↑ Reuters: At least 15 killed in Damascus suicide bombing. The Telegraph, 8. April 2013; abgerufen 15. Juli 2013
- ↑ At least 42 killed in suicide bombing at Syria mosque. foxnews, 21. März 2013; abgerufen 15. Juli 2013
- ↑ Syrien: Selbstmord-Anschlag in Moschee fordert zahlreiche Tote. deutsch-tuerkische-nachrichten.de, 21. März 2013; abgerufen 15. Juli 2013
- ↑ Erich Follath: Saudi-Arabien. Die Stiefkinder des Terrors. In: Der Spiegel. Nr. 40, 2001 (online).
- ↑ 21,0 21,1 Bernard Lewis, Buntzie Ellis Churchill: Islam: The Religion and the People. Wharton School Publishing, 2008, S. 145–153
- ↑ Noah Feldman: Islam, Terror and the Second Nuclear Age. The New York Times online, 29. Oktober 2006, abgerufen am 20. September 2012.
- ↑ David Bukay: From Muhammad to Bin Laden: Religious and Ideological Sources of the Homicide Bombers Phenomenon. Transaction Publishers, 2008, ISBN 978-0-7658-0390-0, S. 295f. (Google Books; abgerufen 19. August 2012).
- ↑ Christoph Reuter: Mein Leben ist eine Waffe. Selbstmordattentäter – Psychogramm eines Phänomens. Bertelsmann 2002, S. 23
- ↑ A. Takeda: Das regressive Menschenopfer. Vom eigentlichen Skandalon des gegenwärtigen Terrorismus (PDF; 114 kB). In: vorgänge, 197, 51/1, 2012, S. 116–129, hier S. 116–118.
- ↑ A. Takeda: Ästhetik der Selbstzerstörung. Selbstmordattentäter in der abendländischen Literatur. München 2010, S. 44.
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- ↑ J. Hiss, T. Kahana: Trauma and identification of victims of suicidal terrorism in Israel. Mil Med., 2000, 165(11), S. 889–893 PMID 11143441
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