Der Tor-Funktor ist ein mathematischer Begriff aus dem Teilgebiet der homologischen Algebra. Es handelt sich um einen Bi-Funktor, der bei der Untersuchung des Tensorprodukts auftritt. Er ist neben dem Ext-Funktor eine der wichtigsten Konstruktionen der homologischen Algebra.
Motivation mittels Tensorprodukten
Wir betrachten Kategorien von Moduln über einem Ring
. Ist
![{\displaystyle 0\rightarrow X{\xrightarrow {\alpha }}Y{\xrightarrow {\beta }}Z\rightarrow 0}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/f1503ffc5e141b88d2aac100622a4c79717c94e6)
eine kurze exakte Sequenz von links-
-Moduln und Modul-Morphismen und ist
ein rechts-
-Modul, so führt das Tensorieren obiger Sequenz von links mit
zu einer exakten Sequenz
![{\displaystyle A\otimes _{R}X{\xrightarrow {\mathrm {id} _{A}\otimes \alpha }}A\otimes _{R}Y{\xrightarrow {\mathrm {id} _{A}\otimes \beta }}A\otimes _{R}Z\rightarrow 0}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/5bc70c07d54721d022e8c55f80320484b9dc659b)
von abelschen Gruppen, die sich im Allgemeinen nicht mit dem Nullobjekt nach links zu einer exakten Sequenz fortsetzen lässt, das heißt
ist im Allgemeinen nicht injektiv, oder kurz: Der Tensorfunktor ist rechtsexakt aber im Allgemeinen nicht linksexakt.
Als Beispiel betrachte man die kurze exakte Sequenz
![{\displaystyle 0\rightarrow \mathbb {Z} {\xrightarrow {\alpha }}\mathbb {Z} {\xrightarrow {\beta }}\mathbb {Z} _{2}\rightarrow 0}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/a8ae886181e8cc9c87a03ded3142be29f0de2bda)
von
-Moduln, wobei
und
die natürliche Abbildung von
auf die Restklassengruppe
sei. Tensoriert man diese Sequenz mit
, so ist
nicht injektiv, denn es ist
.
Dabei wurde der Faktor 2 von der torsionsfreien Gruppe
mittels Tensoroperation in die Torsionsgruppe
verschoben und hat dort zu einer 0 geführt. Das ist der typische Grund, warum die Injektivität des Morphismus
beim Übergang zur tensorierten Sequenz verloren geht. Die fehlende Injektivität führt zum Auftreten eines Kerns und gibt Anlass zu folgender Definition.
Definition
Es seien
ein rechts-
-Modul und
ein links-
-Modul.
Weiter sei
![{\displaystyle 0\rightarrow S{\xrightarrow {\mu }}P{\xrightarrow {\nu }}B\rightarrow 0}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/27e65dc6e5c75c85bafbf5e69f8c2e628124251a)
eine kurze exakte Sequenz mit projektivem Modul
.
Dann definiert man die abelsche Gruppe
![{\displaystyle \mathrm {Tor} (A,B):=\mathrm {ker} (A\otimes _{R}S{\xrightarrow {\mathrm {id} _{A}\otimes \mu }}A\otimes _{R}P)}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/faed2c4147424d7bf8bc469235680c2fa9cca83e)
und man kann zeigen, dass diese Definition nicht von der gewählten exakten Sequenz
mit projektivem
abhängt. Das rechtfertigt die Schreibweise
ohne Hinweis auf diese Sequenz. Manchmal fügt man noch den Ring
an und schreibt
.
Ist
ein Morphismus, so entnimmt man dem kommutativen Diagramm
,
dass die Einschränkung von
den Kern von
nach
abbildet und so einen Gruppenhomomorphismus
definiert. Auf diese Weise erhält man einen Funktor
von der Kategorie der rechts-
-Moduln in die Kategorie der abelschen Gruppen.
Weiter kann man die Rollen von
und
vertauschen, das heißt man geht von der exakten Sequenz
von rechts-
-Moduln aus und zeigt, dass man mit
eine zu obiger Definition natürlich isomorphe Gruppe erhält, die daher ebenfalls mit
bzw.
bezeichnet werden kann. Insgesamt erhält man so einen Bi-Funktor
![{\displaystyle \mathrm {Tor} ^{R}(-,-):{\mathfrak {rMod}}_{R}\times {\mathfrak {lMod}}_{R}\rightarrow {\mathfrak {Ab}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/9ae61f898ec1c53ac69753d102d8e2072828d5ed)
von dem Produkt der Kategorie der rechts-Moduln über
mit der Kategorie der links-Moduln über
in die Kategorie der abelschen Gruppen.[1]
Der Tor-Funktor ist additiv, das heißt man hat natürliche Isomorphismen
![{\displaystyle \mathrm {Tor} ^{R}(A\oplus A',B)\cong \mathrm {Tor} ^{R}(A,B)\oplus \mathrm {Tor} ^{R}(A',B)}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/2981e0257669192c9d5f8cdbc451e2c7e6314f9b)
![{\displaystyle \mathrm {Tor} ^{R}(A,B\oplus B')\cong \mathrm {Tor} ^{R}(A,B)\oplus \mathrm {Tor} ^{R}(A,B')}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/3f0e90d4e8386dc6b2b82ac56ecfcbdce173abe9)
für rechts-
-Moduln
und links-
-Moduln
.
Abelsche Gruppen
Wählt man
als Grundring, so bewegt man sich in der Kategorie der abelschen Gruppen, denn diese sind genau die
-Moduln, und man muss wegen der Kommutativität des Grundrings nicht zwischen links- und rechts-Moduln unterscheiden. In dieser Kategorie ergeben sich gewisse Vereinfachungen und man findet einen Zusammenhang zwischen dem Tor-Funktor und der für ihn namensgebenden Torsion von Gruppen.
Alternative Beschreibung von Tor(A,B)
Im Falle abelscher Gruppen
und
kann
wie folgt durch Erzeuger und Relationen präsentiert werden.[2]
Die Menge
der Erzeuger sei die Menge aller Symbole
mit
,
und
, wobei hier die
-Modul-Operation nur aus praktischen Gründen einmal links und einmal rechts geschrieben wurde, eine Unterscheidung ist, wie oben erwähnt, nicht nötig. Die Menge
der Relationen enthalte alle Ausdrücke der Form
![{\displaystyle \langle a_{1}+a_{2},m,b\rangle =\langle a_{1},m,b\rangle +\langle a_{2},m,b\rangle ,\quad \langle a_{1},m,b\rangle ,\langle a_{2},m,b\rangle \in {\mathcal {E}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/5b965f2352b4a0955b3b5c8d145cc0b2ac8eeba7)
![{\displaystyle \langle a,m,b_{1}+b_{2}\rangle =\langle a,m,b_{1}\rangle +\langle a,m,b_{2}\rangle ,\quad \langle a,m,b_{1}\rangle ,\langle a,m,b_{2}\rangle \in {\mathcal {E}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/c1bc905ad91ae1be7c852d392e2db308e02d6397)
![{\displaystyle \langle a,mn,b\rangle =\langle am,n,b\rangle ,\quad \langle am,n,b\rangle \in {\mathcal {E}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/13a89d90ddabadaadaac6241030d7131d2ea877a)
![{\displaystyle \langle a,mn,b\rangle =\langle a,m,nb\rangle ,\quad \langle a,m,nb\rangle \in {\mathcal {E}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/38791099147261a5b69b7477fe0176d805afb6c9)
Dann kann man zeigen, dass die durch
präsentierte Gruppe zu
isomorph ist. Zur Konstruktion einer Abbildung
sei
eine kurze exakte Sequenz mit projektivem
-Modul
und
ein Erzeuger. Wähle
mit
. Dann ist
und wegen der Exaktheit gibt es genau ein
mit
. Man kann zeigen, dass
nicht von der Wahl
abhängt. Da
,
liegt
im Kern von
und damit definitionsgemäß in
. Die vorgestellte Konstruktion definiert daher eine Abbildung
, von der man zeigen kann, dass es sich um einen Gruppenisomorphismus handelt.
Charakterisierung torsionsfreier Gruppen
Für eine abelsche Gruppe
sind folgende Aussagen äquivalent[3]:
ist torsionsfrei, das heißt enthält außer 0 keine Elemente endlicher Ordnung.
für alle abelschen Gruppen
.
- Für alle injektiven Gruppenhomomorphismen
ist auch
injektiv.
- Jede exakte Sequenz abelscher Gruppen geht durch Tensorieren mit
wieder in eine exakte Sequenz über.
Insbesondere ist
, falls eine der Gruppen gleich
oder
ist.
Endlich erzeugte abelsche Gruppen
lässt sich für endlich erzeugte abelsche Gruppen vollständig berechnen. Nach dem Hauptsatz über endlich erzeugte abelsche Gruppen sind solche Gruppen direkte Summen von zyklischen Gruppen, so dass
wegen der Additivität des Tor-Funktors nur noch für zyklische Gruppen zu bestimmen ist. Ist eine der Gruppen gleich
, so ist
und es bleibt nur noch der Fall endlicher zyklischer Gruppen.
Sei
die zyklische Gruppe der Ordnung
. Dann folgt[4]
![{\displaystyle \mathrm {Tor} (\mathbb {Z} _{n},B)\cong \{b\in B;nb=0\}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/9a823493f826f2fee0ed027845e6b881f39d1257)
und daraus, wenn man den größten gemeinsamen Teiler von
und
mit
bezeichnet:
,
was man aber auch direkt aus der Definition mit der Auflösung
herleiten kann.
Damit ist
für endlich erzeugte abelsche Gruppen bestimmt.
Tor als Ableitung des Tensor-Funktors
Ein allgemeinere Definition erhält man durch
![{\displaystyle \mathrm {Tor} _{n}^{R}(A,B):=L_{n}(-\otimes _{R}B)(A)\cong L_{n}(A\otimes _{R}-)(B)}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/2b9d9ab96492aecfd58424278b8afab139aeb3c5)
als
-te Linksableitung des Tensorfunktors. Ist der Grundring
durch den Kontext gegeben, so lässt man ihn in der Bezeichnung fort und schreibt einfach
. Man erhält so eine Folge von Bi-Funktoren
.
Verwendet man projektive Auflösungen zur Berechnung von
, so sieht man, dass
mit dem oben definierten
-Funktor zusammenfällt.
Man erhält aus der allgemeinen Theorie folgende lange exakte Sequenzen, die zeigen, wie der Tor-Funktor die fehlende Linksexaktheit des Tensorfunktors kompensiert.[5]
Ist
eine kurze exakte Sequenz von rechts-
-Moduln und
ein links-
-Modul, so hat man eine lange exakte Sequenz
.
Ist
eine kurze exakte Sequenz von links-
-Moduln und
ein rechts-
-Modul, so hat man eine lange exakte Sequenz
.
Einzelnachweise
- ↑ P. J. Hilton und U. Stammbach: A course in homological algebra. 2. Auflage, Springer-Verlag, Graduate Texts in Mathematics, 1997, ISBN 0-387-94823-6, Kapitel III.8: The Functor Tor
- ↑ Saunders Mac Lane: Homology, Springer Grundlehren der mathematischen Wissenschaften, Band 114 (1967), Kap. V, § 6, "Torsion Products of Groups"
- ↑ Saunders Mac Lane: Homology, Springer Grundlehren der mathematischen Wissenschaften, Band 114 (1967), Kap. V, Theorem 6.2
- ↑ Saunders Mac Lane: Homology, Springer Grundlehren der mathematischen Wissenschaften, Band 114 (1967), Kap. V, § 6, "Torsion Products of Groups"
- ↑ P. J. Hilton und U. Stammbach: A course in homological algebra. 2. Auflage, Springer-Verlag, Graduate Texts in Mathematics, 1997, ISBN 0-387-94823-6, Kapitel IV.11: The Functor