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Völkermord
Ein Völkermord oder Genozid ist seit der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht, der definiert ist durch die Absicht, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören“. Seit dem Beschluss durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen wurde die Bestrafung von Völkermord auch in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen ausdrücklich verankert.
Diese auf Raphael Lemkin zurückgehende rechtliche Definition dient auch in der Wissenschaft als Definition des Begriffs Völkermord, so zum Beispiel in der Vergleichenden Völkermordforschung.
UN-Konvention gegen Völkermord
Am 9. Dezember 1948 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Resolution 260 die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ (Convention pour la prévention et la répression du crime de génocide, Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide), die am 12. Januar 1951 in Kraft trat. Die Bundesrepublik Deutschland ratifizierte die Konvention im Februar 1955, Österreich hinterlegte die Beitrittsurkunde am 19. März 1958 und die Schweiz am 7. September 2000. Nach der Konvention ist Völkermord ein Verbrechen gemäß internationalem Recht, „das von der zivilisierten Welt verurteilt wird“.
Grundlage war die Resolution 180 der UN-Vollversammlung vom 21. November 1947, in der festgestellt wurde, dass „Völkermord ein internationales Verbrechen [ist], das nationale und internationale Verantwortung von Menschen und Staaten erfordert“, um der völkerrechtlichen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu gedenken.
Die Konvention definiert Völkermord in Artikel II als „eine der folgenden Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören:
- a) das Töten von Angehörigen der Gruppe
- b) das Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden bei Angehörigen der Gruppe
- c) die absichtliche Unterwerfung unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen
- d) die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung
- e) die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“
Im deutschen Völkerstrafgesetzbuch[1] wie auch im schweizerischen Strafgesetzbuch[2] ist die Tat entsprechend der Konvention definiert.
Diese Definition kann als mehr oder weniger allgemeingültig bezeichnet werden, denn der Völkermord ist dasjenige völkerstrafrechtliche Verbrechen mit der schärfsten und anerkanntesten Definition: Alle maßgeblichen Normierungen stimmen im Wesentlichen mit der Definition von Artikel II der Völkermordkonvention der UN (s. u.) überein. Andere völkerstrafrechtliche Tatbestände dagegen, insbesondere das Verbrechen des Angriffskrieges (Aggression), sind nicht allgemein anerkannt, weder im Völkerrecht noch von maßgeblichen Staaten.
Die praktische Bedeutung der Konvention war bis zu den Jugoslawienkriegen sehr gering. Bis dahin gab es nur sehr wenige Anklagen wegen Völkermords. Die erste Verurteilung durch ein internationales Gericht auf der Basis der Konvention erfolgte im September 1998 durch das Akayesu-Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda.
Kennzeichnende Merkmale der Straftatbestände
Zu beachten ist, dass nur die Absicht zur Vernichtung der Gruppe erforderlich ist, nicht aber auch die vollständige Ausführung der Absicht. Es muss eine über den Tatvorsatz hinausgehende Absicht vorliegen, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.
Die Handlungen nach Artikel II Buchstaben a) bis e) der Konvention (in Deutschland umgesetzt durch § 6 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 VStGB) hingegen müssen tatsächlich (und willentlich) begangen werden. Dies bedeutet insbesondere, dass es nicht vieler Opfer bedarf, damit die Täter sich des Völkermordes schuldig machen. Bloß ihre Vernichtungsabsicht muss sich auf die ganze Gruppe oder einen maßgeblichen Teil von ihr richten. Die Täter erfüllen den Straftatbestand beispielsweise, wenn sie – in dieser besonderen Absicht – einzelnen Gruppenmitgliedern ernsthafte körperliche oder geistige Schäden zufügen oder den Fortbestand der Gruppe verhindern wollen, etwa durch Zwangskastration. Eine Anklage wegen Völkermord bedarf daher nicht der Ermordung auch nur eines Menschen.
Umgekehrt gilt auch: Handlungen nach Artikel II Buchstaben a) bis e) der Konvention sind kein Völkermord, wenn ihr Ziel nicht darin besteht, eine Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten, egal wie viele Mitglieder getötet oder sonstwie beeinträchtigt werden. Solche Maßnahmen sind ebenfalls kein Völkermord, wenn ihr Ziel darin besteht, eine Gruppe auszurotten, die nicht durch nationale, ethnische, rassische oder religiöse Eigenschaften definiert ist.
Ob in jedem Fall, wo Einzelne sich des Völkermordes schuldig machen, der Rahmen des Geschehens pauschal als „Völkermord“ bezeichnet werden sollte, ist eine andere Frage. Denn es ist für die Strafbarkeit Einzelner nicht erforderlich, dass sie ihre Taten im Rahmen eines breit angelegten oder systematischen Angriffs auf die Opfergruppe begehen (im Gegensatz etwa zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit).
Strafverfolgung
Artikel 6 der Konvention geht grundsätzlich vom Territorialitätsprinzip aus, wonach Völkermord vor den Gerichten in den Ländern verfolgt wird, in denen die Tat begangen worden ist. Darüber ist die Zuständigkeit von Internationalen Gerichtshöfen vorgesehen, soweit die Vertragsstaaten sich dieser Gerichtsbarkeit unterworfen haben.
In Deutschland ist der Straftatbestand des Völkermordes in § 6 VStGB (Völkerstrafgesetzbuch) niedergelegt. Gemäß § 1 VStGB gilt für Völkermord das Weltrechtsprinzip, d.h. Taten können auch dann in Deutschland verfolgt werden, wenn sie weder in Deutschland begangen sind noch ein Deutscher beteiligt ist.
Auch nach Schweizer Strafgesetzbuch gilt das Weltrechtsprinzip. Auch schützt eine diplomatische Immunität nicht vor einer Verurteilung.
Begriffsgeschichte
Der Begriff Völkermord taucht zum ersten Mal bei dem deutschen Lyriker August Graf von Platen (1796–1835) in seinen „Polenliedern“ auf, und zwar in der 1831 entstandenen Ode Der künftige Held. Er wendet sich gegen die Auflösung des polnischen Staates, den Österreich, Preußen und Russland sich untereinander aufgeteilt haben, und wirbt mit anderen westdeutschen Demokraten, die beim „Hambacher Fest“ 1832 die polnische Nationalfahne neben der deutschen aufgezogen haben, für das Wiedererstehen des polnischen Staates. Im Besonderen geißelt er die Unterdrückungspolitik Russlands, indem er nach der Bestrafung der Dschingiskhane ruft, „Die nur des Mords noch pflegen, und nicht der Schlacht,/ Des Völkermords![3]“ Für den liberalen ostpreußischen Abgeordneten Carl Friedrich Wilhelm Jordan ist er in Bezug auf die Polen so geläufig, dass er ihn in der Frankfurter Paulskirche am 24. Juli 1848 bei der Diskussion der Polenfrage verwendet, und zwar steigert er ihn noch:
„Der letzte Act dieser Eroberung, die viel verschrieene Theilung Polens, war nicht, wie man sie genannt hat, ein Völkermord, sondern weiter nichts als die Proclamation eines bereits erfolgten Todes, nichts als die Bestattung einer längst in der Auflösung begriffenen Leiche, die nicht mehr geduldet werden durfte unter den Lebendigen.“
Der Historiker Heinrich von Treitschke äußert sich in „Politik. Vorlesungen, 1897-1898“ zum Untergang der Pruzzen als Urbevölkerung Preußens und sagt:
„Es war ein Völkermord, das lässt sich nicht leugnen; aber nachdem die Vernichtung vollendet war, ist er ein Segen geworden. Was hätten die Preußen [gemeint sind die Pruzzen] in der Geschichte leisten können? Die Überlegenheit über die Preußen war so groß, daß es ein Glück für diese wie für die Wenden war, wenn sie germanisiert wurden.“
Als der polnische Anwalt Raphael Lemkin (1900–1959) den Begriff Genozid – von griech.: γένος, génos, = eigentlich Herkunft, Abstammung, Geschlecht, im weiteren Sinne auch das Volk + lat.: caedere = morden, metzeln als Übersetzung von ludobójstwo von polnisch lud = Volk und zabójstwo = Mord – 1943 für einen Gesetzesentwurf für die polnische Exilregierung zur Bestrafung der deutschen Verbrechen in Polen verwendet, hat dieser bereits eine durch die imperialistische Diskussion des 19. Jahrhunderts geprägte Geschichte. 1944 übertrug er den Ausdruck ins Englische als genocide.
Der Genozid in seiner rechtlichen Definition ist häufig als unzureichend kritisiert worden. Der amerikanische Politikwissenschaftler Rudolph Joseph Rummel entwickelte daher das weitergespannte Konzept des Demozids, das in seiner Definition alle tödlichen Genozide einschließt.[6] Nicht tödliche Handlungen einer Regierung, die auf die Vernichtung einer Kultur abzielen, werden hingegen häufig als Ethnozid bezeichnet.
Anerkannte Völkermorde in der Geschichte
- Aufstand der Herero und Nama – 1904–1908 – Kolonialkrieg zwischen deutschen Truppen und den Völkern der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, der in einen Völkermord durch die deutsche Kolonialmacht mündete.
- Die Ereignisse von 1915 im Zusammenhang mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches, wie der Völkermord an den Armeniern, den Pontosgriechen und den Aramäern, die von weiteren Verfolgungen und Vertreibungen in den Jahren bis 1923 begleitet waren.
- Holocaust – 1939–1945 – Völkermord an den Juden in der Zeit des Nationalsozialismus
- Völkermord in Burundi – 1965 und 1972 – Völkermord durch Tutsi an Hutu, ca. 100.000 bis 300.000 Tote
- Völkermord in Ruanda – 1994 – in annähernd 100 Tagen töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit 800.000, also etwa 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit sowie moderate Hutu, die sich am Völkermord nicht beteiligten oder sich aktiv dagegen einsetzten.
- Massaker von Srebrenica - Juli 1995 - In der Gegend von Srebrenica wurden im Juli 1995 bis zu 8000 Bosniaken – vor allem Männer und Jungen zwischen 12 und 77 Jahren – getötet.
Einen Sonderfall stellen die Ereignisse während der Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha von 1975 bis 1979 dar. Da sich diese gegen die Bevölkerung des eigenen Landes richtete, ist hier auch der Begriff „Autogenozid“ (wörtlich „Selbstvölkermord“) angewandt worden. Beim Vorgehen der Roten Khmer gegenüber abgrenzbaren Gruppen wie z. B. den muslimischen Cham jedoch greift die Definition des Völkermordes.
Literatur
- Dinah L. Shelton (Herausg.): Encyclopedia of genocide and crimes against humanity. 3 Bände, Thomson Gale Macmillan Reference, Detroit USA 2005.
- Richard Albrecht: Die politische Ideologie des objektiven Gegners und die ideologische Politik des Völkermords im 20. Jahrhundert: Prolegomena zu einer politischen Soziologie des Genozid nach Hannah Arendt. In: Sociologia Internationalis, 27 (1989) I, 57–88
- Richard Albrecht: Genozidpolitik im 20. Jahrhundert. Aachen: Shaker [= Allgemeine Rechtswissenschaft], 3 Bände;
- Bd. 1: Völkermord(en). 2006, ii/184 p., ISBN 978-3-8322-5055-3;
- Bd. 2: Armenozid. 2007, ii/114 p., ISBN 978-3-8322-5738-5;
- Bd. 3: Hitlergeheimrede 22. August 1939. 104 p., ISBN 978-3-8322-6695-0
- Boris Barth: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen. Beck, München 2006, (Beck'sche Reihe, Bd. 1672), ISBN 3-406-52865-1.
- Mihran Dabag, Kristin Platt: Genozid und Moderne. Leske+Budrich, Opladen 1998, ISBN 3-8100-1822-8.
- Gunnar Heinsohn: Lexikon der Völkermorde. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1999, ISBN 3-499-22338-4.
- Daniel Jonah Goldhagen: Schlimmer als Krieg – Wie Völkermord entsteht und wie er zu vermeiden ist. Siedler, München 2009, ISBN 978-3-88680-698-0.
- Irving L. Horowitz, Taking Lives: Genocide and State Power. Transaction Books, News Brunswick (N.J.)-London 1980, xvi/199 p.; 5th, revised ed. (Foreword Anselm L. Strauss), 2002, ivx/447 p., ISBN 0-7658-0094-2.
- William A. Schabas: Der Genozid im Völkerrecht. Hamburger Edition, Hamburg 2003 (Originaltitel: Genocide in international law, übersetzt von Holger Fliessbach), ISBN 3-930908-88-3.
- Ben Kiernan: Erde und Blut. Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2009, Gebunden, 911 Seiten, ISBN 3421058768.
- Frank Selbmann: Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht. In: Schriftenreihe zum Völkerstrafrecht. 1, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2003, ISBN 3-936522-33-2 (Dissertation [Zugelassen 2002, Universität Leipzig]).
- Jacques Sémelin: Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und Völkermorde. Hamburger Edition, Hamburg 2007 (Originaltitel: Purifier et détruire, übersetzt von Thomas Laugstien), ISBN 978-3-936096-82-8.
- Yves Ternon: Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert. Hamburger Edition, Hamburg 1996 (Originaltitel: L' état criminel, übersetzt von Cornelia Langendorf), ISBN 3-930908-27-1.
- Wolfgang Benz: Ausgrenzung Vertreibung Völkermord. Genozid im 20. Jahrhundert. dtv, München 2006, ISBN 978-3-423-34370-1.
Weblinks
- Convention pour la prévention et la répression du crime de génocide (adoptée par l'Assemblée générale de l'ONU le 9 décembre 1948)
- L'article 6 du Statut de Rome de la Cour pénale internationale sur la définition du Crime de génocide
- Konvention zur Verhütung und Verfolgung des Völkermord-Verbrechens (Englisch)
- Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum
- Raphael-Lemkin-Institut für Xenophobie- und Genozidforschung
- Online-Enzyklopädie-Projekt vom Centre d'études et de recherches internationales (CERI)/SciencesPo.
- Boris Barth: Genozid und Genozidforschung, in: Docupedia Zeitgeschichte, 3. Mai 2011
Einzelnachweise
- ↑ § 6 VStGB
- ↑ Art. 264 StGB
- ↑ Kurt Böttcher, Karl Heinz Berger, Kurt Krolop, Christa Zimmermann (Herausg.): Geflügelte Worte. 4. durchgesehene Auflage, Leipzig 1985, S. 466.
- ↑ Polen 1772 bis 1945, S. 183. In: Wochenschau Nr. 5, Sept./Okt. 1996, Frankfurt a.M., S. 177–193.
- ↑ Der Deutsche Drang nach Osten. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981, S. 93.
- ↑ R. J. Rummel: Democide versus Genocide: Which is what?
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