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Walter Strauss (Baden AG)
Walter Strauss (geb. 16. Juli 1922 in Heilbronn; gest. 24. März 2019 in Zürich), Schweizer Unternehmer, er war jahrzehntelang engagiert bei der Israelitischen Kultusgemeinde Baden AG und im SIG.
Leben
Aus Anlass seines Rückzugs aus der aktiven Gemeindearbeit 2016 erschien im tachles am 4. Mai 2016 folgender Artikel (unterzeichnet von Yves Kugelmann):
Nach über 70 Jahren Engagement in der Israelitischen Kultusgemeinde Baden und rund 25 Jahren im Centralcomité zieht sich Walter Strauss zurück.
Er redet wenig und sagt viel, besonnen, mit leiser Stimme und den Augen jenes Jungen, der bereits am Tag nach seiner Bar Mizwa seinen deutschen Heimatort verlassen musste und sich nach Berlin aufmachte, um eine Schneiderlehre zu beginnen. Eigentlich wollte Walter Strauss, der in Heilbronn geboren wurde, Medizin studieren, um Arzt zu werden wie sein Vater. Doch ein Studium war damals für Juden bereits nicht mehr möglich. Er arbeitete in einer Kleiderfabrik in Berlin. Nachdem sein Lehrmeister in der «Reichskristallnacht» nach Polen deportiert wurde, flüchtete er über Liechtenstein in die Schweiz. Nach seiner Ausbildung in Genf führte ihn der Weg nach Baden zu seinem Onkel Alfred Wolf. Dieser war in Baden bereits eine tragende Persönlichkeit der jüdischen Gemeinschaft. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts fungierte er jahrzehntelang als Präsident der Badener jüdischen Gemeinde. Als Inhaber der Kleiderfabrik Baden war er stark vernetzt und nutzte dies zugunsten seiner Gemeinde. Gemeinsam mit Saly Mayer setzte er sich in den Jahren des Zweiten Weltkriegs für Flüchtlinge ein. Trotz Bundesrat Eduard von Steigers restriktiver Flüchtlingspolitik konnte Alfred Wolf im Jahre 1941 ein Bleiberecht für seinen deutschen Neffen Walter Strauss erwirken. Von da an sollte Baden zentraler Ort für Walter Strauss’ Wirken und Ausgangspunkt seiner politischen Arbeit werden.
Mann des Ausgleichs
Nach über 70 Jahren Mitgliedschaft und 40 Jahren Arbeit im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Baden sowie rund 25 Jahren im Centralcomité (CC) des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) zieht sich Walter Strauss nun als längst aktiv dienender jüdischer Politiker aus der Klalarbeit zurück. Als CC-Delegierter setzte er sich für einen Ausgleich zwischen den orthodoxen und den traditionellen Gemeinden ein und kämpfte erfolgreich gegen die Beschränkung des Stimmrechts der Kleingemeinden. «Wichtig war mir immer, im Gemeindebund die Anliegen der Kleingemeinden zu vertreten. Mit dieser letzten Initiative ist das nun sichergestellt für die Zukunft.» Strauss agierte als Fürsprecher der Anliegen Israels und vehementer Warner vor antisemitischen Entwicklungen in der Schweiz und Europa. Dabei ging es ihm nicht um politische Programmatik, sondern um Augenmass für die Realität. Zu sehr war er durch die Kriegsjahre sensibilisiert für die schleichenden Entwicklungen der Ausgrenzung von Juden und später Israels, als er diese gerade im CC mit besonnen Einwänden oder pragmatischen Hinweisen nicht rechtzeitig zu thematisieren vermocht hatte. Als Mann des Ausgleichs wirkte er gerade auch zwischen den verschiedenen Strömungen. Einheit der Vielfalt war ihm wichtig, die Zuwendung zu Extremen fremd.
Einsatz für das jüdische Baden
Walter Strauss blickt auf eine erfolgreiche Unternehmerkarriere zurück: Zusammen mit seinem Bruder Ernst hat er die Kleiderfabrik Baden in den sechziger Jahren zu einem der erfolgreichsten Bekleidungshersteller der Schweiz mit Angestellten weltweit gemacht. Im Büro der Kleiderfabrik Baden in Spreitenbach ist er weiterhin jeden Tag anzutreffen.
Innerhalb des Gemeindebundes engagierte er sich früh für starke Kleingemeinden, blieb im Centralcomité ihr Rückgrat, und unterstützte die Israelitische Kultusgemeinde Baden über Jahrzehnte finanziell und administrativ.
Seit 1944 war Josef Wyler Chef-Buchhalter in der Kleiderfabrik Baden. Bis lange nach seiner Pensionierung 1982 amtete dieser als Präsident der Gemeinde Baden.
Walter Strauss heiratete Margit Fern. Sie selbst war nach einer Flüchtlingsodyssee in Frankreich in einem Kloster versteckt gewesen und kam später durch die Hochzeit in die Schweiz. Mit ihr machte er aus der Kultusgemeinde Baden einen Ort gelebten Judentums, offen für Gäste und Zuzüger. Legendär wurden die Schabbatot im Hause Strauss. Aus der ganzen Schweiz und der jüdischen Welt vereinte die Familie mit vier Kindern Gäste. Von renommierten Rabbinern bis zu säkularen Juden: Das Haus über der Kleinstadt Baden wurde bis Anfang der 2000er-Jahre zum sporadischen Heimatort vieler. Strauss widmete sich als Vorstandsmitglied und als Gabbai der Gemeindearbeit und avancierte zur väterlicher jüdischen Persönlichkeit der Gemeinde. Ihm war wichtig den «minhag hamakom» – die gemeinde eigene Tradition – aufrechtzuerhalten, damit die jüdische Gemeinde als solche bestehen bleiben konnte. Mit seiner Frau verantwortete er den Unterricht und stellte so eine jüdische Ausbildung von Kindern und Jugendlichen auch in einer Kleingemeinde sicher: «Es war uns immer wichtig, dass gerade auch in einer kleinen Gemeinde das jüdische Lernen in guter Qualität möglich ist.» Inzwischen konnte die Gemeinde über Jahrzehnte ihren Bestand halten, hat eine eigene Administration sowie einen Rabbiner (Aron Müller; bis 2018) und wirkt auf der Basis der jahrzehntelangen Aufbauarbeit von Strauss zusammen mit anderen Familien.
Ein Verlust
Dass er sich nun sang- und klanglos aus der Aktivzeit verabschiedet, ist zwar angesichts von Walter Strauss’ Werdegang konsequent, zugleich aber ein Verlust für die jüdische Verbands- und Gemeindearbeit. Denn er achtete stets darauf, dass Gremien mit Blick auf ihre Tradition und Wurzeln agieren und nicht in ideologische oder selbstsüchtige Eigendynamik abdriften. Wenn ihm allerdings ein Anliegen wichtig war, weil es der jüdischen Gemeinschaft diente, dann vertrat er dieses mit Nachdruck und setzte es als Pragmatiker um. Mit dem Rückzug von Walter Strauss aus dem Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Baden und somit auch aus dem CC des SIG geht eine Ära zu Ende, und das Schweizer Judentum verliert eine seiner grossen aktiven Persönlichkeiten aus der Flüchtlingsgeneration. Die Tatsache, dass seine verheirateten Kinder und Enkelkinder nicht mehr in der Kleingemeinde, sondern vor allem in Zürich leben, empfindet Strauss nicht als Widerspruch zu seinem Werdegang: «Für mich war die Kleingemeinde nie ein ideologisches Programm, sondern Chance und Verpflichtung zugleich. Solange jüdisches Leben in kleinen Gemeinden möglich ist, möchte ich dies sicherstellen.» Und er schliesst mit unternehmerischer Pragmatik: «Gemeinden müssen von innen leben und können nicht künstlich aufrechterhalten werden. Wir haben dafür gesorgt, dass Zuzüger in Baden eine gesunde jüdische Infrastruktur vorfinden.»