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Wissenschaftsgeschichte
Das Ziel der Wissenschaftsgeschichte (im Sinne einer Wissenschaftsgeschichtsschreibung) ist es, die historische Entstehung und Entwicklung der Wissenschaft insgesamt sowie der einzelnen Disziplinen nachzuzeichnen. Hierzu bedient sie sich u. a. der Methoden der Geschichtsforschung. Die Forscher, die Wissenschaftsgeschichte betreiben, stammen oft selbst aus jener Disziplin, die sie historisch bearbeiten. Wissenschaftsgeschichte kann sich dann als historische Reflexion der jeweiligen Fachdisziplin darstellen.
Begriff und Inhalt
Die englische Übersetzung von Wissenschaftsgeschichte ist nicht history of science, sondern history of research and scholarship (auch academic history, history of academia). Dabei werden sciences und humanities (history of scholarship) getrennt betrachtet.
Außer der eher „internen“ Geschichte wissenschaftlicher Praxis, Theorien und Erkenntnisse können auch umliegende Themengebiete Inhalt der Wissenschaftsgeschichte sein: z. B. Biographien ausgewählter Forscher, wissenschaftlich bedeutsame Expeditionen oder die Entwicklung wissenschaftlicher Zeitschriften, Verlage, Sammlungen oder Organisationen; eine solche eher „externe“ Wissenschaftsgeschichte befasst sich mit den Wechselwirkungen der Forschungstätigkeit mit der gesellschaftlichen Umwelt. Dazu gehört auch die Geschichte wissenschaftlicher Ausbildungsordnungen und Abschlüsse.
Schwerpunkte und Zugänge
Eine erste Stufe der Wissenschaftsgeschichtsschreibung knüpft am Wirken einzelner Gelehrter an, im Sinne einer Darstellung berühmter Männer. Ein frühes Beispiel dafür ist die biographisch angeordnete Darstellung der Geschichte der Astronomie in Wien durch Georg Tannstetter (Viri Mathematici, 1514). Wenn es zur Geschichtsschreibung aus einem Erfolgsbewusstsein heraus kommt, dann steht das Erreichen des gegenwärtigen Standes im Vordergrund; es geht dann darum, wer „der erste“ war, der zu einer noch heute anerkannten Sichtweise vorgestoßen war.[1] Die Leistungen der früheren Forscher werden dann zweigeteilt, indem wiederholt gefragt wird, was sie bereits erkannt hatten und was noch nicht.[2]
Diese einfache Betrachtungsweise dominierte bis nach 1900. Im 20. Jahrhundert kam es zu neuen Ansätzen. In den USA wurde Material aus der Geschichte der Naturwissenschaften für Fragestellungen anderer Fachrichtungen zugrundegelegt: Robert K. Merton entwickelte seit ungefähr 1940 die (externe) Wissenschaftssoziologie. Seine Kategorie der Belohnung – durch Anerkennung seitens der Kollegen – wurde von Franz Stuhlhofer auf die Naturwissenschaftsgeschichtsschreibung angewandt (im Buch „Lohn und Strafe in der Wissenschaft“), indem nun die Belohnung seitens der posthumen Wissenschaftshistoriker erfolgt.[3] Thomas S. Kuhn stützte sich vor allem auf Astronomie- und Physikgeschichte bei seinem Konzept der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (englisch 1962), wodurch er eine neue Sichtweise der Wissenschaftstheorie verbreitete. Die Verbindung dieser drei Disziplinen – Wissenschaftsgeschichte, -soziologie und -theorie – war dann das Anliegen des Universitätsschwerpunktes Wissenschaftsforschung in Bielefeld. Die aus dem angloamerikanischen Bereich übernommene Bezeichnung STS (science, technology & society) soll die Breite des zu untersuchenden Gegenstandsbereichs betonen, stärker als das durch eine Bezeichnung wie Wissenschaftsgeschichte möglich wäre. Außerdem gewann die von Derek de Solla Price praktizierte quantitative Betrachtung der Naturwissenschaftsgeschichte (bekannt wurde sein Buch „Little Science, Big Science“, 1963) an Einfluss; es wurde die Szientometrie entwickelt.
Seit etwa 1990 werden die praktischen Dimensionen der Wissenschaften (practical turn) stärker beachtet, mit ihren Objekten, Repräsentationen und Instrumenten sowie mit den sozialen Dimensionen der wissenschaftlichen Praxis.
Disziplin und Studienfach
Wissenschaftsgeschichte ist eine noch relativ junge wissenschaftliche Disziplin. Die älteste wissenschaftshistorische Fachgesellschaft der Welt ist die 1901 gegründete „Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften“.[4] Ein Pionier war Karl Sudhoff, der das 1906 gegründete Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften aufbaute – es war das weltweit erste medizinhistorische Institut. 1907 begann er die Zeitschrift Archiv für Geschichte der Medizin, die später nach ihm Sudhoffs Archiv genannt und auf die Naturwissenschaftsgeschichte erweitert wurde (und schließlich auf die Wissenschaftsgeschichte).
Das erste Institut für die Geschichte der Naturwissenschaften wurde 1943 in Frankfurt/Main eingerichtet (durch Willy Hartner; es folgten Institute in Hamburg (1960, initiiert von Bernhard Sticker und Hans Schimank, München (1963, initiiert von Kurt Vogel. Weitere Institute bzw. Lehrstühle wurden in Tübingen, Stuttgart, Mainz und Berlin eingerichtet. Die geisteswissenschaftliche Methoden verwendende Erforschung der Geschichte unterscheidet sich deutlich von naturwissenschaftlicher Forschung, weshalb für die Naturwissenschaftsgeschichte (und ähnlich für Mathematik-, Medizin- und Technikgeschichte) solche Initiativen nötig waren – diese Disziplingeschichten waren in besonderem Maße von ihrer Institutionalisierung abhängig. Den Geistes- und Sozialwissenschaften liegt eine Reflexion über die Geschichte des jeweils eigenen Faches näher.
Die Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte gibt seit 1978 die Berichte zur Wissenschaftsgeschichte heraus. Hier wurde gegenüber der früheren Einschränkung auf Naturwissenschaftsgeschichte ein umfassenderes Konzept von Wissenschaftsgeschichte vertreten. Diese Tendenz wurde etwa seit 1990 verstärkt sichtbar. Die Verbreiterung der Naturwissenschaftsgeschichte führt aber nicht von selbst zu vertieften Einsichten. Das Werden der Gesamtheit der Wissenschaften lässt sich von einem einzelnen Historiker kaum erfassen. Zum Erkennen von Querverbindungen und Parallelentwicklungen verschiedener Disziplinen ist die Zusammenarbeit von Disziplinhistorikern erforderlich. Wenn ein Einzelner eine Gesamtschau versucht, gerät eine solche Wissenschaftsgeschichte in die Nähe der Philosophiegeschichte.[5]
Mit der Gründung des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte im Jahr 1994 setzte die Max-Planck-Gesellschaft einen nachhaltigen Impuls für die Forschung auf diesem Gebiet. An bundesdeutschen Hochschulen ist das Fach meist in den Bereichen Philosophie, Geschichte (etwa verbunden mit der Universitätsgeschichte) oder innerhalb der jeweiligen Disziplin (z. B. Medizingeschichte) angesiedelt. An der Universität Hamburg, der Universität Regensburg, der TU Berlin, der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Universität Stuttgart werden eigene Hauptfachstudiengänge angeboten. Als historisches Fach besteht hinsichtlich der Methodik ein enger Bezug zu den Geschichtswissenschaften. Gleichzeitig ist die Verankerung in der jeweiligen Fachdisziplin unabdingbar. Mit der Reform der Studiengänge im Zuge des Bologna-Prozesses schränkte sich das Angebot an rein wissenschaftshistorischen Studiengängen weiter ein. So wird nur mehr an der Universität Stuttgart ein Hauptfach-Bachelor angeboten, Masterstudiengänge im Fach Wissenschaftsgeschichte gibt es nur mehr an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Universität Regensburg, die aus Kapazitätsgründen aber nur mehr ein Bachelor-Ergänzungsfach anbieten können. 2011 wurde nach dreijähriger Vakanz der Lehrstuhl Wissenschaftsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München neu besetzt und ist mit einer eigenen Abteilung in die Geschichtswissenschaften integriert.
An bundesdeutschen Hochschulen gibt es inzwischen eine Reihe von Professuren mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Schwerpunkten sowie verschiedene Graduiertenkollegs. Fachübergreifende Forschungsaktivitäten (Transdisziplinarität) werden für die Ausdifferenzierung des Faches künftig eine stärkere Bedeutung erlangen.
Im englischen Sprachraum war George Sarton ein wichtiger Pionier. 1912 begann er die Zeitschrift Isis. Seit 1955 vergibt die von Sarton und Lawrence Joseph Henderson gegründete History of Science Society (HSS) die George-Sarton-Medaille für besondere Leistungen auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte.
Literatur
- Fritz Wagner (Hg.): Orbis academicus. Problemgeschichten der Wissenschaft in Dokumenten und Darstellungen. Geisteswissenschaftliche, naturwissenschaftliche und philosophische/theologische Abteilung. 49 Werke in 59 Bänden. Verlag Karl Alber, Freiburg / München 1951–87.
Einführung in die Wissenschaftsgeschichte
- John Desmond Bernal, Science in History, London 1954 (Übers. Ludwig Boll: Die Wissenschaft in der Geschichte, Berlin, 1967 bzw. Die Sozialgeschichte der Wissenschaften, Rowohlt, Hamburg 1978, ISBN 3-499-16224-5)
- Helge Kragh: An Introduction to the Historiography of Science, Cambridge University Press, Cambridge 1990.
- Peter Schmitter, Historiographie und Narration. Metahistoriographische Aspekte der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Linguistik, Narr, Tübingen 2003, ISBN 3-8233-6004-3
- Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft in zwei Bänden. Hg. v. Abraham Melzer. 2 Bde. Parkland, Köln 2004. zus. 827 S. ISBN 3-89340-056-7
Geschichte der Wissenschaftsgeschichte
- Dietrich von Engelhardt: Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft: von der Aufklärung bis zum Positivismus, Alber, Freiburg [u. a.] 1979
Aktuelle Tendenzen der Wissenschaftsgeschichte
- Mario Biagioli (Hg.): The Science Studies Reader, Routledge, New York [u. a.] 1999.
- Olaf Breidbach: Bilder des Wissens: zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung, Fink, München 2005.
- Michael Hagner (Hg): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Fischer, Frankfurt/M. 2001. ISBN 3-596-15261-5
- Bernhard vom Brocke: Das Elend der Wissenschaftsgeschichte in Deutschland. Zur Entwicklung der Wissenschaftsgeschichte seit Ranke, insbesondere im 20. Jahrhundert. In: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 13 (1993) S. 3-81.
Practical Turn der Wissenschaftsgeschichte
- Olaf Breidbach et al. (Hrsg.): Experimentelle Wissenschaftsgeschichte, Wilhelm Fink, München 2010. ISBN 978-3-7705-4995-5
- Moritz Epple, Claus Zittel (Hg.): Science as Cultural Practice, Vol. 1, Cultures and Politics of Research from Early Modern Period to the Age of Extremes, Berlin 2010. ISBN 978-3-05-004407-1.
- Andrew Pickering: The Mangle of Practice, Chicago u.a. 1995. ISBN 0-226-66802-9.
- Andrew Pickering (Hg.): Science as practice and culture, Chicago u.a. 1992. ISBN 0-226-66800-2.
Zeitschriften für das Gebiet der gesamten Wissenschaftsgeschichte
- Berichte zur Wissenschaftsgeschichte
- Isis
- Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte
- Studies in the History and Philosophy of Science
Weblinks
- Graphische und tabellarische Übersicht zur Wissenschaftsgeschichte der letzten 1000 Jahre, nach Alexander Hellemans / Bryan Bunch: The Timetables of Science, New York: Simon and Schuster 1988 u. a. Werken (englisch)
- Einführung der Universität Regensburg
- Abteilung Wissenschaftsgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München
- Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik e. V. (DGGMNT)
- European Society for the History of Science
- Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte
- Simo Knuuttila, Sten Ebbesen u. a. (Hrsg.): Knowledge and the sciences in medieval philosophy. Proceedings of the Eighth International Congress of Medieval Philosophy (S.I.E.P.M.), Helsinki 1990.
- Sybilla Nikolow: Auswahlbibliographie (PDF-Datei; 90 kB) zu Klassikern der Wissenschaftshistoriographie, Bielefeld 2006.
- Paul Ziche, Joppe van Driel: Wissenschaft, in: Europäische Geschichte Online, hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (Mainz), 2011.
- Nawi.pdf Umfangreiches Skriptum zur Geschichte der Naturwissenschaft, Technik und Landwirtschaft.
Quellen
- ↑ Der auch heute noch wichtige Gegenwartsstandpunkt führt dazu, dass das Augenmerk bei dem auch heute noch als „Wissenschaft“ Anerkannten liegt; dagegen wird z.B. die Astrologie von der Wissenschaftsgeschichtsschreibung kaum beachtet. Zur Abgrenzung siehe Dirk Rupnow (Hrsg.): Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a.M. 2008.
- ↑ Zum Fortschrittsdenken besonders im 19. Jahrhundert siehe Engelhardt: Historisches Bewußtsein, Teil IV: Positivistische Naturwissenschaft.
- ↑ Franz Stuhlhofer: Lohn und Strafe in der Wissenschaft. Naturforscher im Urteil der Geschichte (Perspektiven der Wissenschaftsgeschichte; 4). Böhlau, Wien/Köln/Graz 1987; darin Teil III: Lohn, Teil IV: Strafe (diese Kategorie wurde von Merton noch kaum berührt), Teil V: Umverteilungen von Lohn und Strafe.
- ↑ Die DGGMN (so abgekürzt) übernahm seit 2008 die Herausgabe der schon zuvor in der DDR bestehenden Zeitschrift NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin.
- ↑ Siehe z.B. Volker Bialas: Allgemeine Wissenschaftsgeschichte. Philosophische Orientierungen (Perspektiven der Wissenschaftsgeschichte; 2). Wien, Köln 1990.
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