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Medizinische Leitlinie

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Medizinische Leitlinien sind systematisch entwickelte Feststellungen, um die Entscheidungen von Ärzten, Zahnärzten, Angehörigen anderer Gesundheitsberufe und Patienten über angemessene Gesundheitsversorgung für spezifische klinische Umstände zu unterstützen.[1] Sie sind – anders als Richtlinien – nicht bindend und müssen an den Einzelfall angepasst werden. Teilweise berücksichtigen sie auch ökonomische Aspekte des Behandelns (wie z. B. eine Reihe von Leitlinien der AWMF-Mitgliedsgesellschaften). Sie enthalten in der Regel keine Wertung hinsichtlich des erreichbaren Outcomes.

Begriffsklärung

Der Begriff der Leitlinie unterliegt keiner Normierung (in Abgrenzung dazu siehe auch Richtlinie). Deshalb können medizinische Leitlinien von sehr unterschiedlicher Qualität sein.

Idealerweise unterliegen medizinische Leitlinien einem systematischen und transparenten Entwicklungsprozess, sie sind wissenschaftlich fundierte, praxisorientierte Handlungsempfehlungen. Ihr Hauptzweck ist die Darstellung des fachlichen Entwicklungsstandes (State of the art). Sie geben Ärzten Orientierung im Sinne von Entscheidungs- und Handlungsoptionen. Die Umsetzung liegt bei der fallspezifischen Betrachtung im Ermessensspielraum des Behandlers; ebenso sind im Einzelfall die Präferenzen der Patienten in die Entscheidungsfindung einzubeziehen.

Bei einer "evidenz"- und konsensbasierten Leitlinie handelt es sich um den nach einem definierten, transparent gemachten Vorgehen erzielten Konsens multidisziplinärer Expertengruppen zu bestimmten Vorgehensweisen in der Medizin unter expliziter Berücksichtigung der besten verfügbaren „Evidenz“. Ihre Grundlage sind die systematische Recherche und die Analyse der wissenschaftlichen „Evidenz“ aus Klinik und Praxis sowie deren Einteilung in Evidenzklassen.

In Deutschland werden ärztliche Leitlinien primär meist von den wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (siehe AWMF), der ärztlichen Selbstverwaltung (Bundesärztekammer [BÄK] und Kassenärztliche Bundesvereinigung [KBV] beziehungsweise Bundeszahnärztekammer [BZÄK] und Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung [KZBV]) oder von Berufsverbänden entwickelt und verbreitet. Informationen über und Zugang zu internationalen Leitlinien-Projekten und -Agenturen bietet das Guidelines International Network mit der weltweit umfangreichsten Leitlinien-Datenbank.

Leitlinien für die strukturierte medizinische Versorgung (d. h. für die Integrierte Versorgung und für Disease-Management-Programme) werden Nationale VersorgungsLeitlinien (NVL) genannt. In diesem Zusammenhang wird beim Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) das von Bundesärztekammer, Kassenärztlicher Bundesvereinigung und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) getragene Programm für Nationale VersorgungsLeitlinien redaktionell betreut. Daneben besteht die Zahnärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung (ZZQ), die von der Bundeszahnärztekammer und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung getragen wird.

Neben den medizinischen Leitlinien, die in erster Linie für Ärzte erstellt werden, gibt es auch äquivalente Fachinformationen für Patienten, sogenannte Patientenleitlinien.

In der Krankenpflege existieren den Leitlinien verwandte Expertenstandards.

Leitlinien-Entwicklung

Nach dem System der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) werden Leitlinien in vier Entwicklungsstufen von S1 bis S3 entwickelt und klassifiziert, wobei S3 die höchste Qualitätsstufe der Entwicklungsmethodik ist.

  • S1: von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet
  • S2k: eine formale Konsensfindung hat stattgefunden
  • S2e: eine systematische „Evidenz“-Recherche hat stattgefunden
  • S3: Leitlinie mit zusätzlichen/allen Elementen einer systematischen Entwicklung (Logik-, Entscheidungs- und „Outcome“-Analyse, Bewertung der klinischen Relevanz wissenschaftlicher Studien und regelmäßige Überprüfung)

Die methodische Qualität einer S3-Leitlinie ist dementsprechend höher einzuschätzen als die einer S2- oder S1-Leitlinie. Die überwiegende Mehrheit (knapp 70 %) aller Leitlinien der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften sind S1-Leitlinien.

Evidenzklasse

Die in einer medizinischen Leitlinie bezogene Evidenz wird nach einer Klasseneinteilung differenziert. Leitlinien werden einzeln solchen Evidenzklassen zugeordnet. Es werden verschiedenen Klassifizierungssysteme verwendet, auch dazu gibt es keinen internationalen oder europäischen Standard[2]. Allgemein anerkannt sind die Empfehlungen des Deutschen Cochrane Zentrums zur Klassifikation.[3]

Empfehlungsgrad

Es werden Behandlungsempfehlungen mit einem bestimmten Empfehlungsgrad (synonym: Empfehlungsstärke) entwickelt. Verbreitet in Deutschland ist folgende Unterscheidung:

  • Grad A: „Soll“-Empfehlung: zumindest eine randomisierte kontrollierte Studie von insgesamt guter Qualität und Konsistenz, die sich direkt auf die jeweilige Empfehlung bezieht und nicht extrapoliert wurde (Evidenzebenen Ia und Ib)
  • Grad B: „Sollte“-Empfehlung: Gut durchgeführte klinische Studien, aber keine randomisierten klinischen Studien, mit direktem Bezug zur Empfehlung (Evidenzebenen II oder III) oder Extrapolation von Evidenzebene I, falls der Bezug zur spezifischen Fragestellung fehlt
  • Grad C: „Kann“-Empfehlung: Berichte von Expertenkreisen oder Expertenmeinung und/oder klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten (Evidenzkategorie IV) oder Extrapolation von Evidenzebene IIa, IIb oder III; diese Einstufung zeigt an, dass direkt anwendbare klinische Studien von guter Qualität nicht vorhanden oder nicht verfügbar waren
  • Good Clinical Practice: Wenn es für eine Behandlungsmethode keine experimentellen wissenschaftlichen Studien gibt, diese nicht möglich sind oder nicht angestrebt werden, das Behandlungsverfahren aber dennoch allgemein üblich ist und innerhalb der Konsensusgruppe eine Übereinkunft über das Verfahren erzielt werden konnte, so erhält diese Methode die Empfehlungsstärke Good Clinical Practice GCP (synonym: KKP = Klinischer Konsensuspunkt).

Kritik

  • In der Praxis werden Leitlinien häufig nur mangelhaft umgesetzt.[4]
  • Leitlinien können zu einer Einengung ärztlicher Entscheidungsspielräume führen.[5]
  • Es gibt hochqualitative (S3- oder NVL-) Leitlinien nur für häufige Krankheitsbilder. Für seltene Krankheiten liegen meist keine Leitlinien oder nur solche mit geringer Qualitätsstufe vor.
  • Das wissenschaftliche Konsensverfahren bei der Erstellung von Leitlinien führt dazu, dass nur wenige der als relevant erachteten Behandlungsschritte in die Leitlinien aufgenommen werden.
  • Evidenzbasierte Medizin: Der Publikationsbias, d. h. die statistisch verzerrte Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse infolge einer bevorzugten Veröffentlichung von Studien mit „positiven“ bzw. signifikanten Ergebnissen, führt dazu, dass wichtige Forschungsergebnisse verfälscht werden, da z. B. negative Studien seltener veröffentlicht werden.
  • Im März 2013 kritisierte Der Arzneimittelbrief die - aus seiner Sicht - zu schnelle Aufnahme neuer Medikamente in die Medizinischen Leitlinien und vermutet dahinter die Interessen der pharmazeutischen Unternehmen.[6]

Pflegeleitlinien

Zum Vermeiden von Begriffskonflikten sind die Leitlinien der medizinischen Pflege als Expertenstandards des DNQP verfasst, welche von dem Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege verfasst und unter verschiedenen Homepages publiziert werden, beispielsweise unter der Homepage der Ersatzkassen[7]. Die Fachgesellschaften der Medizin blenden diesen Themenkreis im Zuge der zunehmend eigenständigen Verwissenschaftlichung der medizinischen Pflege weitgehend aus.

Patientenleitlinien

Abzugrenzen von den medizinischen Leitlinien sind die Patientenleitlinien, die die Deutsche Krebshilfe, die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften und die Deutsche Krebsgesellschaft gebündelt in der Patientenleitlinie Magenkrebs in einer allgemeinverständlichen Broschüre veröffentlicht haben.[8] Sie ist bei der Krebshilfe in Bonn kostenlos erhältlich. Ferner gibt es noch sechs weitere Patientenleitlinien zu verschiedenen Formen von Brustkrebs und des Prostatakarzinoms.

  • 2013 kam die aktualisierte S3-Leitlinie Exokrines Pankreaskarzinom (Pankreastumor) hinzu. Diese Patientenleitlinie wurde erstmals von der Krebshilfe und der Krebsgesellschaft gemeinsam mit dem Ziel herausgegeben, bundesweit nach neuesten Erkenntnissen eine gleichwertige Versorgung von Patienten mit Bauchspeicheldrüsen-Krebs zu sichern.
  • 2014 wurde die neue Patientenleitlinie zum Hodgkin-Lymphom veröffentlicht, die auf der „S3-Leitlinie Hodgkin Lymphom“ basiert.

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. WHO-Tagung 1997 in Velen/Westf., zitiert nach Lorenz 1999 (PDF; 33 kB)
  2. The Health Care System Under French National Health Insurance: Lessons for Health Reform in the United States
  3. Deutsches Cochrane-Zentrum: Von der Evidenz zur Empfehlung: Klassifikationssysteme.
  4. Ollenschläger et al.: Leitlinien in der Medizin - scheitern sie an der praktischen Umsetzung? Der Internist (2001) 42 (4) S. 473–483 (PDF; 61 kB)
  5. Praetorius: Ärztliche Entscheidungsspielräume - durch Leitlinien eingeengt oder erweitert? Hessisches Ärzteblatt (2005) 8, S. 516–520
  6. Medizinische Leitlinien an der Leine der Pharmaindustrie Pressemitteilung Der Arzneimittelbrief vom 20. März 2013
  7. [1]
  8. Patientenleitlinien Deutsche Krebsgesellschaft
Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Medizinische Leitlinie aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar.