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Affäre von Tiszaeszlár
Die Affäre von Tiszaeszlár war ein von 1882 bis 1883 geführter, mit dem Freispruch der jüdischen Angeklagten endender Ritualmordprozess im nordöstlichen Ungarn, der Kulminationspunkt des frühen politischen Antisemitismus in Ungarn[1] und Anlass für massive Agitation war.
Das verschwundene Mädchen
Am 1. April 1882 verschwand in der Gemeinde Tiszaeszlár (deutsch damals vor allem Tisza-Eszlár geschrieben) das vierzehnjährige christliche Bauernmädchen Eszter Solymosi (auch Solymosy) spurlos. Es tauchten binnen kurzem Gerüchte auf, Eszter sei einem Ritualmord aus Anlass des jüdischen Pessachfestes zum Opfer gefallen. Diese Gerüchte wurden von den antisemitischen Politikern und Parlamentsabgeordneten Géza Ónody und Gyözö Istóczy (der schon 1878 für eine Zwangsemigration der Juden nach Palästina eingetreten war) gefördert. Anfang Mai erstattete ihre Mutter Anzeige beim örtlichen Gericht.
Aufgrund dieser Anschuldigungen unterließen es die Behörden, die Ermittlungen über den Kreis der örtlichen Synagoge hinaus auszudehnen. Zwei Monate später wurde von vorbeiziehenden Flößern eine verweste Mädchenleiche aus dem Fluss geborgen. Diese wurde anhand der Kleidung als Eszter Solymosi identifiziert. Die Leiche wies keinerlei Spuren von Verletzungen auf, und es war offensichtlich, dass der Tod durch Ertrinken eingetreten war.[2]
Ein solcher Ausgang lag nicht im Interesse derjenigen, die die Affäre eingefädelt hatten. So wurde behauptet, dass die Ertrunkene nicht das verschollene Dienstmädchen sei, sondern eine aus dem Krankenhaus entwendete Leiche, der man die Kleidung von Eszter Solymosi angezogen und sie dann in den Fluss geworfen habe.[3]
Obwohl diese Hypothese vom Wiener Rechtsmediziner Eduard von Hofmann entkräftet werden konnte, wurde eine detaillierte Anklage erstellt, deren Anschuldigungen auf den Aussagen des fünfjährigen und des vierzehnjährigen Sohnes der jüdischen Familie Scharf beruhten. Speziell die detaillierten Aussagen des vierzehnjährigen Móric schienen durch Zwang zustande gekommen zu sein.[4]
Der Fall erregte in Ungarn großes Aufsehen, zahllose antisemitische Traktate nahmen die Anschuldigungen als gegebene Tatsache hin. Andererseits äußerte sich der im Turiner Exil lebende ungarische Nationalheld Lajos Kossuth eindeutig gegen die Ritualmordhysterie. Die aristokratische Oberschicht Ungarns stand wegen der dubiosen Grundlage des Verfahrens eher auf der Seite der Angeklagten. Der Prozess zog sich hin, die Agitation erfasste das gesamte Land. Erst am 3. August 1883 erfolgte der Freispruch aller Angeklagten.
Der historische Kontext
Die Affäre von Tiszaeszlár kann, ebenso wie etwa 30 ähnlich gelagerte Fälle in der Donaumonarchie, als Phänomen der Massenhysterie und Rückzugsgefecht des traditionellen christlichen Antisemitismus und seiner Ritualmordlegenden gegenüber einer fortschrittlicheren und rational agierenden liberalen Justiz gesehen werden. (Nur im Falle des jüdischen Schustergesellen Leopold Hilsner kam es um die Jahrhundertwende, ungeachtet des Einsatzes von Tomáš Garrigue Masaryk, zur Verurteilung.) In Ungarn waren es vor allem die liberal und national gesinnten Oberschichten, die dem sich emanzipierenden Judentum ein Integrationsangebot machten, das auch in reichem Maße angenommen wurde. Nicht zufällig trat der Abgeordnete Károly Eötvös (1842–1916) als einer der Verteidiger der Angeklagten von Tiszaeszlár auf. Die Affäre belegt freilich auch das enorme Ausmaß an minderheitenfeindlicher Angst und Abwehr, das von den Integrationsfortschritten des 19. Jahrhunderts nur zeitweilig verdeckt, zum Teil aber auch geradezu ausgelöst wurde. Győző Istóczy, ein westungarischer Kleinadeliger, der die „Fragmentierung“ der Gesellschaft durch den Liberalismus ebenso ablehnte wie den Wandel des Judentums von einer „geschlossenen Kaste“ zu einer ökonomisch dominanten Schicht, nahm die Affäre von Tiszaeszlár zum Anlass, im Oktober 1883 seine Antisemitische Partei zu gründen, die bei den ungarischen Parlamentswahlen dieses Jahres (bei ungleichem Wahlrecht) immerhin 17 Mandatare stellen konnte und erst Mitte der 1890er-Jahre zugunsten der Katholischen Volkspartei (Katolikus Néppárt, mit ähnlicher antisemitisch-antiliberaler Stoßrichtung) zurückgedrängt wurde. Die Affäre von Tiszaeszlár wurde so zum Verknüpfungspunkt von traditionellem und modernem Antisemitismus in Ungarn – letzterer ein Phänomen, das nach dem Auseinanderbrechen des Landes nach Abschluss des Ersten Weltkriegs wieder virulent aufbrechen sollte.
Bearbeitungen
Der deutsche Schriftsteller Arnold Zweig (Ritualmord in Ungarn, 1915) und der ungarische Schriftsteller Gyula Krúdy (A tiszaeszlári Solymosi Eszter, 1931) haben den Stoff zur Grundlage historischer Romane gemacht. In den 1930er-Jahren entstand das Schauspiel Der Prozess ohne Ende. Der Fall von Tisza Eszlar von Géza Herczeg und Heinz Herald. Nach Bekanntwerden des vollen Ausmaßes des Holocausts verfasste US-Schriftsteller Noel Langley auf Grundlage von Herczeg/Heralds Vorlage eine Bearbeitung für das angloamerikanische Theater (The burning bush, 1947). Die Affäre von Tiszaeszlár ist Gegenstand des österreichischen Spielfilms Der Prozess (1948) von Georg Wilhelm Pabst nach dem Roman Prozess auf Tod und Leben von Rudolf Brunngraber, der auch das Drehbuch zum Film schrieb. Im selben Jahr gelangte der amerikanische Spielfilm The Vicious Circle von W. Lee Wilder in die Kinos, der auf Herczeg/Heralds Vorlage beruhte.
Als Herczeg/Heralds Schauspiel Der Prozess ohne Ende im Anschluss an Wilders Film im Dezember 1949 als The burning bush am New Yorker „President Theatre“ gespielt wurde, hieß es, der Regisseur entwickelte aus dem Stück „ein ‚Theater als Tribunal‘, an dem das Publikum teilnahm. Die Botschaft des Stückes war unvergesslich: Eine Nation verdammt sich selbst, wenn sie sich nicht für die, denen Unrecht zugefügt wird, ausspricht.“[5] In den folgenden Jahrzehnten war die Affäre von Tiszaeszlár mehrfach Gegenstand ungarischer Spielfilme: Verzió (1979) nach Gyula Krúdy von Miklós Erdély und Tutajosok (1990) von Judit Elek und Péter Nádas. Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó hat im September 2010 am Schauspiel Hannover eine Adaption von Krúdys Roman in Szene gesetzt.
Literatur
- Edith Stern: The Glorious Victory of Truth: The Tiszaeszlár Blood Libel Trial 1882–83. A Historical Legal Medical Research. Jerusalem/Rubin Massachusetts, 1998
- Rolf Fischer: Entwicklungsstufen des Antisemitismus in Ungarn 1867–1939. Die Zerstörung der magyarisch-jüdischen Symbiose., Oldenbourg, München 1988 ISBN 3-486-54731-3
- Albert Lichtblau: Die Debatten über die Ritualmordbeschuldigungen im österreichischen Abgeordnetenhaus am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Rainer Erb (Hrsg.): Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, Berlin 1993, S. 267–292, hier S. 267–270
- Andrew Handler: An Early Blueprint for Zionism: Gyozo Istoczy’s Political Anti-semitism. Boulder, Colorado, 1989
- Judit Kubinszky: Politikai antiszemitizmus Magyarországon: 1875–1890, Kossuth Kiadó, Budapest, 1976
- Brigitte Mihok: Solymosi, Eszter, in: Handbuch des Antisemitismus, Band 2/2, 2009, S. 780
- Romane
- Paul Nathan: Der Prozess von Tisza-Eszlar, Berlin, 1892
- Károly Eötvös: A nagy per, mely ezer éve tart és még sincs vége. Budapest, 1904; Budapest 2010, ISBN 978-963-9889-78-1. (Roman, der die Affäre 20 Jahre später aufarbeitet)
- Arnold Zweig: Ritualmord in Ungarn, 1915
- Gyula Krúdy: A tiszaeszlári Solymosi Eszter, 1931
- Rudolf Brunngraber: Prozess auf Tod und Leben. Roman. Paul Zsolnay, Wien 1948
Siehe auch
Weblinks
- The Vicious Circle (1948/1950) in der Internet Movie Database (englisch) (en)
- Der Prozess (1948) in der Internet Movie Database (englisch) (auch: Im Namen der Menschlichkeit)
- Verzió (1979) in der Internet Movie Database (englisch) (hu)
- Tutajosok (1990) in der Internet Movie Database (englisch) (hu; en: Memories of a River)
Einzelnachweise
- ↑ Miklós Konrád: Jews and politics in Hungary in the Dualist era. 1867–1914. In: East European Jewish Affairs, Vol. 39., No. 2. August 2009, S. 167–186
- ↑ ldn-knigi.lib.ru
- ↑ ldn-knigi.lib.ru
- ↑ Jürgen Thorwald: Das Jahrhundert der Detektive, Bd. II, Report der Toten, S. 45 ff.
- ↑ Maria Ley-Piscator: Der Tanz im Spiegel. Wunderlich, Reinbek 1989. S. 311.
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