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Bitburg-Kontroverse
Als Bitburg-Kontroverse wurde in den Medien ein Ereignis benannt, bei dem am 5. Mai 1985 US-Präsident Ronald Reagan gemeinsam mit Bundeskanzler Helmut Kohl Kränze an der Gedenkstätte des KZ Bergen-Belsen bei Celle und auf dem Soldatenfriedhof „Kolmeshöhe“ in Bitburg niederlegte. Am Besuch in Bitburg entspann sich in der Öffentlichkeit eine Debatte, da in Bitburg neben deutschen Wehrmachtsangehörigen auch Angehörige der Waffen-SS beerdigt sind.
Die Toten
Unter den namentlich genannten Toten auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg befinden sich 43 Soldaten, die eindeutig der Waffen-SS zugeordnet werden können, darunter ein Offizier (ein 23-jähriger Untersturmführer, der niedrigste Offiziersdienstgrad) und neun Unteroffiziere. Bei den übrigen SS-Männern handelt es sich überwiegend um Wehrpflichtige im Alter von 17 bis 19 Jahren.
Ziele des Besuchs
Anlass für den Besuch war der 40. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945. Nach Wunsch der deutschen Bundesregierung sollte eine Versöhnungsgeste zwischen den damaligen Kriegsgegnern erfolgen. So befanden sich in der Begleitung der beiden Regierungschefs auch die ehemaligen Weltkriegsoffiziere und späteren Vier-Sterne-Generale Matthew Ridgway und Johannes Steinhoff, die sich über den Gräbern die Hände reichten.
Von Kritikern des Besuchs wurde „Bitburg“ als Teil der Geschichtspolitik der Regierung Kohl beschrieben, die Deutschland zu einer neuen Normalität auf Augenhöhe mit den ehemaligen Feinden des Zweiten Weltkrieges führen solle. Die Kriegsführung des nationalsozialistischen Deutschlands solle durch ein gemeinsames Gedenken an Wehrmacht, Waffen-SS und amerikanische GIs als Teil einer gemeinsamen Geschichte erscheinen, wobei sich jedoch keine gefallenen Amerikaner unter den Bestatteten befinden.
Kritik
Sowohl im In- als auch im Ausland stieß der Besuch auf Kritik.
Kritik aus den USA
Das US-Nachrichtenmagazin Time zitierte Regierungssprecher Peter Boenisch mit den Worten „Es ist unmöglich, eine Entnazifizierung der Friedhöfe durchzuführen“ und schloss daraus unter der Artikelüberschrift „The Bitburg Fiasco“ auf die Unmöglichkeit für einen US-Präsidenten, deutsche Kriegsgräber zu besuchen. Auch warnte Time vor der Gefahr, der sowjetischen Propaganda in die Hände zu spielen.[1]
Das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten hatte am 1. Mai 1985 mit breiter Mehrheit von 390 zu 26 Stimmen entschieden, Ronald Reagan aufzufordern, den Besuch in Bitburg nicht vorzunehmen. Diese Entschließung war nach amerikanischem Verfassungsrecht nicht bindend.
Die US-amerikanische Punkband Ramones kritisierte Ronald Reagan für seinen Besuch in Bitburg mit dem Lied My Brain is Hanging Upside Down (Bonzo goes to Bitburg). Bonzo ist der Name eines Schimpansen im US-Spielfilm Bedtime for Bonzo, in dem Reagan die männliche Hauptrolle spielte.
Günter Grass
Günter Grass machte seine Ablehnung gegen den Besuch eines Bitburger Soldatenfriedhofs durch den damaligen Bundeskanzler Kohl und den amerikanischen Präsidenten Reagan deutlich. Er warf Helmut Kohl „Geschichtsklitterung“ vor und wandte sich gegen das Ausstellen von „Unschuldszeugnissen“. Seiner Meinung nach „spricht Unwissenheit … nicht frei. Sie ist selbst verschuldet, zumal die besagte Mehrheit wohl wusste, dass es Konzentrationslager gab… Kein selbstgefälliger Freispruch hebt dieses Wissen auf. Alle wussten, konnten wissen, hätten wissen müssen.“[2]
Diese Kritik richtete sich im Jahr 2006 gegen ihn, als bekannt wurde, dass auch Grass selbst der Waffen-SS angehört hatte.
Z. B. schrieb Alfred Grosser: „Statt diejenigen zu unterstützen, die damals vor allem aus Ablehnung Ronald Reagans heraus Kohl vorwarfen, die SS rehabilitieren zu wollen, hätte Grass aufstehen sollen, um zu sagen: „Wenn ich getötet worden wäre, wäre mein Grab zwischen diesen hier gewesen.“[3]
Heinrich August Winkler
Heinrich August Winkler schrieb über den Besuch in Bitburg:
„Als sich die Kapitulation des Deutschen Reiches zum 40. Mal jährte, löste der studierte Historiker Kohl mit einem symbolischen Akt internationale Proteste aus. Zusammen mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan besuchte er am 5. Mai 1985 den Soldatenfriedhof in Bitburg in der Eifel. Dort befanden sich, was man in Bonn zunächst übersehen hatte, neben Gräbern von Wehrmachtssoldaten auch solche von Angehörigen der Waffen-SS. Daß Kohl trotzdem auf dem Besuch bestand, wirkte wie der Kontrapunkt zur weltweit beachteten und unvergessenen Demutsgeste eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers: Willy Brandts Kniefall vor dem Denkmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto am 7. Dezember 1970. Hätte Reagan nicht nach Bitburg auch dem ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen einen Besuch abgestattet, von dem Ereignis in der Eifel wäre der makabere Eindruck ausgegangen, die Bundesrepublik Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika hätten sich darauf verständigt, den Zweiten Weltkrieg fortan als europäischen Normalkrieg zu betrachten.“[4]
Als das „Gespenst von Bitburg“ beschreibt der links-liberale Historiker Heinrich August Winkler die „vermeintliche Normalität“ (Winkler, Schatten, S. 263), die Helmut Kohl 1985 mit jenem umstrittenen gemeinsamen Besuch mit US-Präsidenten Ronald Reagan auf den Soldatenfriedhof von Bitburg demonstrieren wollte, auf dem neben Wehrmachtssoldaten auch Angehörige der Waffen-SS bestattet liegen. „Bitburg“ wird in der Forschung als Teil der „Geschichtspolitik“ Helmut Kohls beschrieben: so z. B. bei Claus Leggewie:
„Man kann in dieser unbeirrt verfolgten Aktion ein wesentliches Moment der Kohlschen Außenpolitik erkennen: das… Bemühen, durch die politische, kulturelle und militärische Westbindung politische Souveränität zurückzugewinnen und so allmählich mit den Verbündeten >auf Augenhöhe< zu verkehren. Die deutsche Vergangenheit war das wesentliche Hindernis. Sie zu leugnen, war zwecklos und lag auch nicht in der Absicht des Kanzlers. So musste er symbolisch-ikonische Gesten erfinden, die mit der fraglosen Anerkennung dieser Vergangenheit zugleich ihre Entdramatisierung für den aktuellen Politikbetrieb bewirkten und Deutschland nicht mehr in der Demuts- oder Büßerpose (wie Brandts Kniefall in Warschau) verharren ließen, sondern in Versöhnungssymmetrie Gleichrangigkeit bestätigten.“[5]
Jürgen Habermas
Jürgen Habermas kritisierte in einem ausführlichen Beitrag in der Wochenzeitung Die Zeit vom 17. Mai 1985 eine von ihm so bezeichnete doppelte Absicht der Kohl-Regierung. Im Artikel mit dem Titel „Die Entsorgung der Vergangenheit“ schreibt er: „Der Händedruck von Bitburg hätte also beides verschmelzen sollen – die Abkehr von einer destabilisierenden Vergangenheitsbewältigung und die Bezeugung aktueller Waffenbrüderschaft. Kohl wollte die Rückkehr zu deutschen Kontinuitäten.“
Zustimmung
Von Teilen der Bevölkerung und der Presse gab es hingegen auch Zustimmung zu dem Besuch. So schrieb die Berner Zeitung Der Bund am 1. Mai 1985 „Der geplante Besuch hat einen wochenlangen Sturm der Entrüstung ausgelöst, der ans Absurde grenzt,“ und führt weiter aus: „Die oft unsachliche Kritik der Meinungsmacher […] haben alte Wunden aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges neu aufgerissen und die Versöhnungsgeste Reagans bis zur Lächerlichkeit entstellt.“
Die FAZ führte in ihrem Leitartikel am 2. Mai 1985 die Kritik am Bitburg-Besuch auf die Ablehnung Reagans durch die Kritiker zurück: „Der Präsident hat die Wahlen gegen die Medien gewonnen. […] So ist gerade bei denen, die sich durch einen nichtgewünschten Präsidenten besiegt sehen, die Versuchung zum nachhaltigen Besserwissen groß. Dieser Effekt hat die Debatte über Sinn und Unsinn von symbolischen Besuchen so verteufelt, fast zu einer internationalen Katastrophe gemacht.“
Historischer Hintergrund
Die Kontroverse um den Besuch in Bitburg hat folgende Hintergründe:
Kalter Krieg
Zum Zeitpunkt der Kontroverse war der Kalte Krieg nach der vorübergehenden Entspannung in den 1970er Jahren wieder verschärft. Nato-Nachrüstung und als Antwort darauf die Friedensbewegung sowie der Sowjetisch-Afghanische Krieg bestimmten die Diskussion. Auch das Thema des Gedenkens an Krieg und Nazi-Diktatur wurden daher an der Wirkung im Kalten Krieg gemessen. Die Propaganda der DDR sah sich als antifaschistisch und stellte die Bundesrepublik Deutschland als postfaschistisch dar. Der Vorwurf, die Bundesrepublik ehre SS-Mitglieder, war daher für diese Propaganda hilfreich.
Angemessenheit des Gedenkens an Krieg und Nazi-Diktatur
Von zentraler Bedeutung war die Frage, wie ein angemessenes Gedenken an Krieg und Nazi-Diktatur durch Deutschland möglich sei. Große Zustimmung fand die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985. In der Folge wurde 1986/1987 im Historikerstreit diskutiert, inwieweit die NS-Verbrechen einzigartig seien.
Auch hier wurde auf den Bitburg-Besuch verwiesen und argumentiert, Zweck des Besuchs sei gewesen, die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen im Gedenken an die gemeinsamen Toten in den Hintergrund treten zu lassen.
Literatur
- Stadtverwaltung Bitburg: Der Besuch. Dokumentation über den Besuch des amerikanischen Präsidenten Ronald W. Reagan und des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl am 5. Mai 1985 in Bitburg. Bitburg 1986.
- Theo Hallet: Umstrittene Versöhnung. Reagan und Kohl in Bitburg 1985. Sutton, Erfurt 2005. ISBN 3-89702-810-7.
- Heinrich August Winkler: Auf ewig in Hitlers Schatten. Zum Streit über das Geschichtsbild der Deutschen, in: Frankfurter Rundschau vom 14. November 1986.
- Lou Cannon, President Reagan: The Role of a Lifetime (New York: Simon and Schuster, 1991), 573–588.
- Richard J. Jensen, Reagan at Bergen-Belsen and Bitburg (College Station: Texas A&M University Press, 2007).
- Charles S. Maier, The Unmasterable Past: History, Holocaust, and German National Identity (Cambridge, Mass., and London, England: Harvard University Press, 1997), 9–16.
Einzelnachweise
- ↑ Time Magazin, 29. April 1985 Online Fassung
- ↑ Hamburger Abendblatt: Bitburg 1985: Wie Günter Grass es sah, 16. August 2006
- ↑ Alfred Grosser, Gastkommentar Zeitung „Ouest France“ (Rennes), 18. August 2006, zitiert nach FAZ, 18. August 2006 Online Version
- ↑ Zitiert nach einem Vortrag, gehalten am 26. März 2004 von Heinrich August Winkler auf dem Symposium „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für die Politik – Geschichte und deutsche Politik nach 1945“ zum 85. Geburtstag von Helmut Schmidt in Hamburg ZEIT.de, 30. März 2004
- ↑ Leggewie, Ort, S. 39.
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