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Frühsozialismus
Als Frühsozialismus oder utopischer Sozialismus werden frühe sozialistische Theorien zusammengefasst: Utopien eines gerechten Idealstaates, frühe Formen des Gemeineigentums und vor allem sozialistische Bewegungen und Theorien der Neuzeit, die vor 1848 entstanden sind. Bekannte Frühsozialisten waren Henri de Saint-Simon, Robert Owen und Charles Fourier.
Begriff und Wesen
Der Begriff Frühsozialismus bezieht sich auf die Tatsache, dass die genannten Theorien und Ideen vor den Revolutionen von 1848/49, vor den ersten eigentlich sozialistischen Vereinigungen und vor allem vor den Schriften von Karl Marx veröffentlicht wurden. Neben dem Wirken von Marx und dem Entstehen der Sozialdemokratie spielten auch Persönlichkeiten des vor allem in Süd- und Osteuropa erstarkenden Anarchismus wie Pierre-Joseph Proudhon und Michail Bakunin eine Rolle bei der Ablösung frühsozialistischer Ideen.
Der Begriff utopischer Sozialismus (gelegentlich auch utopistischer Sozialismus genannt) ist die Abgrenzung durch Marx und Engels selbst, worauf auch moderne Forscher hinweisen, die den Begriff (teilweise in Anführungszeichen) übernehmen. Ein Beispiel hierfür ist Albert S. Lindemann, der auch von den „ersten Sozialisten“ spricht, die er um 1800 bis 1848 zeitlich verortet. Diese frühen oder utopischen Sozialisten lebten alle etwa um dieselbe Zeit, nämlich 1770 bis 1825. Trotz aller Unterschiede lohne sich laut Lindemann die Zusammenfassung in einer Gruppe. Diese sozialistischen Autoren seien aber keine Utopisten etwa im Sinne von Thomas Morus gewesen, denn sie hätten daran geglaubt, dass ihre ideal vorgestellten Gesellschaften in naher Zukunft zu realisieren gewesen seien.[1]
Zentral bei den frühen Sozialisten ist der Begriff der menschlichen Natur, so Leszek Kołakowski. In diesem fundamentalen Sinn seien alle Menschen gleich – mit identischen Rechten und Pflichten. Für diese Autoren gehe es vor allem um die Frage, warum die bisherige Geschichte mit ihren Kriegen und der Ausbeutung der natürlichen Bestimmung des Menschen genau entgegengesetzt verlaufen sei. Die traditionelle christliche Lehre verweise in diesem Zusammenhang auf die Erbsünde, woran die frühen Sozialisten hingegen – selbst, wenn sie Christen waren – nicht glaubten.[2]
Der Begriff der menschlichen Natur führe dann zur Idee der kommunistischen Despotie. Es sei für die Frühsozialisten unwichtig, ob die Menschen selbst für die Verwirklichung des Kommunismus sind. Kołakowski zitiert den kommunistischen Autor Jean-Jacques Pillot, demzufolge man auch nicht die Insassen einer Irrenanstalt frage, ob sie ihr Bad nehmen wollen. Kołakowski begegnet dem mit der Frage, wer denn darüber entscheide, wer Arzt und wer Irrer sei.[3]
Ausgangspunkt der Frühsozialisten ist das abzuschaffende Elend des Proletariats. Allerdings wurden sie nicht konkret politisch aktiv, so Kołakowski, da rein politische Veränderungen keine neue Wirtschaftsordnung bringen könnten. Der Sozialismus werde als historische Gesetzmäßigkeit unbedingt die Welt beherrschen. Sie konnten die Annahme der historischen Notwendigkeit nicht mit der Vorstellung des Sozialismus als einem Projekt mit moralischem Wert in Übereinstimmung bringen. Für Marx hingegen sei der Ausgangspunkt nicht das Elend, sondern die „Entmenschung“ gewesen, die Entfremdung des Menschen von der von Menschen geschaffenen Welt. Keim des Sozialismus werde Marx zufolge die Bewusstwerdung um diese Entmenschung sein.[4]
Vorgeschichte
Altertum
Das Gemeineigentum, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein und damit soziale Unterschiede erübrigen sollte, ist schon in einigen alten Religionen bekannt, beispielsweise bei den persischen Mazdakiten, im Taoismus und im Judentum. Diese verstehen die lebensnotwendigen Güter als Gabe eines Gottes oder einer universalen Ordnung an alle Menschen und leiten daraus Forderungen an ein Kollektiv ab, den Besitz gerecht zu verteilen oder gemeinsam zu verwalten.
In altorientalischen Klassengesellschaften wurde häufig eine Urzeit beschworen, in der es noch keine Spaltungen in Besitzende und Besitzlose gegeben habe: so das Ideal der Großen Gemeinsamkeit im Konfuzianismus. In der biblischen Prophetie seit etwa 700 v. Chr. wird das vergessene Gottesrecht des Erlassjahrs (Lev 25 EU) Bestandteil der Endzeiterwartung. In der Griechischen Philosophie tauchen seit etwa 400 v. Chr. Entwürfe eines idealen Staates auf, der kein Privateigentum kennt und in die Urzeit oder eine fiktive Inselwelt projiziert wurde: so in Platons Staat, bei Phaleas von Chalkedon oder in Iambulos’ utopischen Sonnenstaat.
Mittelalter
In den sogenannten Ketzer- und Armutsbewegungen des Mittelalters gab es verschiedene Anläufe zu Gütergemeinschaften und antihierarchisch ausgerichteten Kirchenreformen.
Frühe Neuzeit
Der Humanismus des 16. Jahrhunderts hatte – parallel zu den durch wirtschaftliches Elend hervorgerufenen Bauernaufständen – Ideen einer gerechten, von allen Bürgern gleichermaßen getragenen Gesellschaftsordnung entwickelt, die ihrerseits auf die antike Polis und ihre Demokratie-Vorstellungen zurückgriffen.
Folgenreich war besonders der lateinische Bildungsroman Utopia des englischen Staatsrechtlers Thomas Morus von 1516. Ohne den Begriff selbst stellte Morus hier eine Art Kommunismus als Gegenbild zur europäischen Feudalherrschaft dar: Alle arbeiten und besitzen alles gemeinsam, auch und gerade Grund und Boden, die damaligen Produktionsmittel. Allerdings unterscheidet die strenge Hierarchie auf der Insel Utopia diese Gesellschaftsordnung noch sehr von vielen späteren sozialistischen Ideen.
Auch Tommaso Campanella griff 1602 in seinem Werk La città del Sole erneut auf die Idee des Sonnenstaats zurück.
Aufklärung und Revolutionen
Im 17. und 18. Jahrhundert erlaubte der technische Fortschritt im Manufaktur- und Verlagswesen bereits eine Massenherstellung von Produkten, noch ohne maschinelle Produktionsmittel. Dies veränderte die Lebensbedingungen und Interessenlagen für immer größere Bevölkerungsteile enorm.
Im Zuge der Aufklärung entstanden mit der Idee der Menschenrechte Vorstellungen eines gleichberechtigten und herrschaftsfreien Zusammenlebens. In zahlreichen – stets von der Obrigkeit bedrohten – Geheimbünden und Vereinen suchten mittellose Handwerker, Bauern und Intellektuelle ein Forum und Anhänger für ihre Ideen. Sie waren kaum an der wissenschaftlichen Erhebung empirischer Daten interessiert, entwickelten ihre Vorstellungen aber aus der widersprüchlichen Erfahrung enttäuschter Demokratiehoffnungen und relativer Rechtsfortschritte. Doch erst mit der Emanzipation des Bürgertums bekamen diese Ideen eine politische Stoßkraft.
Bedeutende Frühsozialisten
François Noël Babeuf (1760–1797) war wahrscheinlich der erste Autor, der den Sozialismus als Staatsform anstrebte. Er gründete dazu während der Französischen Revolution die verschwörerische Société des égaux („Gesellschaft der Gleichen“): Damit begann der Frühsozialismus sich politisch zu organisieren. Über Filippo Buonarotti gelangten Babeufs Ideen zu den Frühsozialisten Charles Fourier (Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, 1808) und Louis-Auguste Blanqui (1805–1881). Von seinen Ideen und denen des Henri de Saint-Simon war wiederum der 1834 in Paris gegründete Bund der Geächteten beeinflusst. Von ihm spaltete sich 1836 der Bund der Gerechten ab, dessen Führung bis 1848 der Schneider Wilhelm Weitling übernahm. Weitling, ein Frühsozialist mit christlichen Überzeugungen, gilt als erster deutscher Theoretiker des Kommunismus[5]
Frühe Sozialisten waren auch der deutsch-jüdische Philosoph Moses Hess (1812–1875), der den sozialistischen Flügel des Zionismus begründete, Hermann Kriege und der deutsche Journalist Karl Grün (1817–1885). Der deutsche Ökonom Karl Rodbertus (1805–1875) gilt als Begründer des Staatssozialismus.
In England war Robert Owen der bedeutendste Frühsozialist, der sich aus Armut schon in jungen Jahren zum Unternehmer emporgearbeitet hat. Vor allem bis zu seinem öffentlichen Bekenntnis zum Atheismus war er auch in den gehobenen Gesellschaftsschichten sehr populär. Owen war, eine Ausnahme unter den Frühsozialisten, auch praktisch politisch aktiv, so beeinflusste er beispielsweise die Arbeiterschutzgesetze und versuchte sich (erfolglos) in Amerika mit einer sozialistischen Mustersiedlung. Er gilt als Vertreter des Genossenschaftssozialismus. Eine nach seinen Ideen 1830 gegründete Gewerkschaftsbewegung wurde von Unternehmen und Regierung bekämpft, so dass Owen sie 1834 auflöste.[6]
Verhältnis zum Marxismus
Walther Theimer zufolge war der frühe oder utopische Sozialismus die stärkste derjenigen Strömungen, die Marx beeinflusst haben: Dieser Sozialismus „gab ihm erst die Richtung; sonst hätte es nur einen bürgerlich-radikalen Junghegelianer mehr gegeben“, so Theimer. Marx habe diese Richtung erst in den 1840er Jahren in Paris kennengelernt.[7]
Die Ideen der Frühsozialisten scheinen die wichtigsten Ideen von Marx vorwegzunehmen, schreibt Kołakowski. Im Bereich der Analyse von Geschichte und Kapitalismus listet er unter anderem auf:
- Das System der Güterverteilung könne nur verändert werden, indem man das System der Produktion und die Eigentumsverhältnisse gänzlich verändert.
- Der Sozialismus sei „das Resultat unausweichlicher historischer Gesetze“.
- „Konkurrenz und Anarchie der Produktion erzeugen notwendigerweise Ausbeutung, Elend, Krisen der Überproduktion und Arbeitslosigkeit.“
- Die Arbeiterklasse könne „sich nur aus eigener Kraft befreien“.
Bezüglich der „Projektierung der sozialistischen Zukunftsgesellschaft“ stellt Kołakowski als Gemeinsamkeiten zwischen Marx und den Frühsozialisten unter anderem fest:
- Das Privateigentum an den Produktionsmitteln müsse aufgehoben werden.
- Eine landesweite oder weltweite Planwirtschaft würde Konkurrenz und Krisen beseitigen.
- Ein Recht auf Arbeit als Menschenrecht.
- Aufhebung der Arbeitsteilung.[8]
Marx löste Weitling 1848 im Bund der Gerechten ab und vollzog nach eigener Auffassung eine fundamentale Abgrenzung von allen früheren sozialistischen Theoretikern, deren Ideen er als nicht wissenschaftlich begründeten Idealismus kritisierte. Die Frühsozialisten waren laut Marx meist adelige und kleinbürgerliche Romantiker, die sich nicht nur gegen die Folgen der Industrialisierung, sondern gegen den technischen Fortschritt selbst wandten. Seit dem Manifest der Kommunistischen Partei von Marx und Friedrich Engels werden die frühsozialistischen Gleichheits- und Demokratisierungsbestrebungen, die sich auch auf die Wirtschaft erstreckten, als Utopischer Sozialismus zusammengefasst.
Der Marxismus grenzt seine Theorie in Anlehnung an die Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft als „wissenschaftlichen Sozialismus“ von allen Vorläufern und sozialistischen Gegenströmungen ab. Er sieht im utopischen Sozialismus eine ausgehende bürgerliche und belletristische Phrase, die aus linken Strömungen des Junghegelianismus hervor gegangen sei und den proletarischen Klassenkampf negierey.[9] Dabei sind utopische Sozialisten auch nach marxistischer Auffassung durchaus mit dem Ziel der klassenlosen kommunistischen Zukunftsgesellschaft einverstanden, verfolgen dieses jedoch nach ihrer Ansicht auf unrealistische und zum Scheitern verurteilte Weise, weil der Klassenantagonismus und die Frage nach den Bedingungen einer erfolgreichen Revolution in ihrem Denken keine primäre Rolle spiele.
Nach dieser Kritik sind Utopien reine Gedankenkonstruktionen, die vom historischen Wachstum der Machtverhältnisse abstrahieren und in denen so die politische Anschauung von den gesellschaftlichen, insbesondere ökonomischen Grundlagen abgekoppelt wird. Die Utopisten versuchen demnach ein System aus dem Kopf heraus zu entwickeln, statt die revolutionäre, umstürzlerische Seite des zeitgeschichtlichen Elends zu erkennen. Der wissenschaftliche Sozialismus versteht die Entstehung des Sozialismus im Unterschied zu den Utopisten als eine notwendige prozesshafte und dialektische (widersprüchlich vorwärtstreibende) Entwicklung aus der konkreten historischen Situation heraus.[10]
Andere Theoretiker glaubten nicht an die Zwangsläufigkeit der historischen Entwicklung zu Fortschritt und Sozialismus. Ernst Bloch entwickelte sein „Prinzip Hoffnung“ daher aus dem utopischen Gehalt fast aller sozialistischen Ideen.[11] Mit dem Begriff der Konkreten Utopie kritisierte auch er abstrakte, nicht realitätsgerechte Utopien des Frühsozialismus.
Siehe auch
Sammelwerke
- Frits Kool, Werner Krause: Die frühen Sozialisten. DTV, München 1972.
- Thilo Ramm (Hrsg.): Der Frühsozialismus. Quellentexte. Kröner Verlag, Stuttgart 1968.
- Michael Vester (Hrsg.): Die Frühsozialisten 1789–1848. 2 Bände. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1970 u. 1971.
Weblinks
- Fourier, Owen, Saint-Simon swiki.hfbk-hamburg.de
Einzelbelege
- ↑ Albert S. Lindemann: A History of European Socialism, Yale University Press, New Haven / London 1983, S. 38.
- ↑ Leszek Kołakowski: Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung – Entwicklung – Zerfall. Piper, München 1977, S. 249/250.
- ↑ Leszek Kołakowski: Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung – Entwicklung – Zerfall. Piper, München 1977; S. 251.
- ↑ Leszek Kołakowski: Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung – Entwicklung – Zerfall. Piper, München 1977, S. 253/254.
- ↑ Otto Wittelshöfer: Weitling, Wilhelm. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 41, Duncker & Humblot, Leipzig 1896, S. 624 f.
- ↑ Walther Theimer: Der Marxismus. Lehre – Wirkung – Kritik. 8. Auflage, Francke, Tübingen 1985; S. 97–98.
- ↑ Walther Theimer: Der Marxismus. Lehre – Wirkung – Kritik. 8. Auflage, Francke, Tübingen 1985, S. 96.
- ↑ Leszek Kołakowski: Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung – Entwicklung – Zerfall. Piper, München 1977, S. 252–253.
- ↑ Vgl. Marx/Engels: Die deutsche Ideologie, 1845/46
- ↑ Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Paris 1880
- ↑ Geist der Utopie, 1918/1923; Freiheit und Ordnung. Abriss der Sozial-Utopien, 1946; Das Prinzip Hoffnung, 1955
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