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Heiratsregeln
Heiratsregeln oder Heiratsordnungen sind soziale Normen, mit denen (ethnische) Gemeinschaften oder Gesellschaften festlegen, zwischen welchen Personengruppen eine Eheschließung erwünscht ist und zwischen welchen nicht. Diese Regeln können empfehlend sein (präferentiell: bevorzugt) oder vorschreibend (präskriptiv: abweichendes Heiraten ist nicht erlaubt).[1] Sie werden zusammen mit der Heiratspraxis von der Ethnosoziologie erforscht, einem Fachbereich der Ethnologie (Völkerkunde). Heiratsregeln sind immer mit sozialen Abstammungsregeln (Deszendenz) und ehelichen Wohnsitzregeln (Residenz) verbunden, gemeinsam bilden sie wesentliche Grundlagen der sozialen Organisation vieler Gesellschaften.
Als Agamie (altgriechisch a „ohne/nicht“, gamos „Hochzeit“) wird bezeichnet, wenn Gemeinschaften keine besondere Heiratsregel haben und es bei ihnen keine wichtige Rolle spielt, welcher sozialen Gruppe der Ehepartner angehört.[2] Keine eigenständige Heiratsregel bildet das grundlegende exogame Hinausheiraten aus der eigenen Kernfamilie gemäß der Inzestschranke gegenüber leiblichen Eltern und Geschwistern.
Heiratsregeln können traditionell, moralisch, religiös oder rechtlich verankert sein und positiv oder negativ wirken:[3]
- Gebote betreffen diejenigen Personengruppen, die als Ehepartner erwünscht oder empfohlen sind (beispielsweise die Kreuzcousinenheirat)
- Verbote betreffen die Personengruppen, die nicht geheiratet werden dürfen (Eheverbote, beispielsweise Inzesttabus)
Heiratsregeln (und die tatsächliche Praxis) lassen sich grundsätzlich in zwei Richtungen unterscheiden, inwärts gerichtet oder auswärtig:
- Endogamie (Innenheirat): Ehepartner sollen innerhalb der eigenen sozialen Gruppe oder Gemeinschaft gesucht werden (bis hin zum Verbot von Exogamie)
- Isogamie (Gleichgestelltenheirat): Ehepartner sollen den gleichen sozialen Status haben und derselben Schicht, Klasse oder Kaste angehören
- Exogamie (Außenheirat): Ehepartner sollen außerhalb der eigenen Gruppe oder Gemeinschaft gesucht werden (bis hin zum Verbot von Endogamie)
- Anisogamie (Ungleichenheirat): Ehepartner können/sollen einer höheren oder einer niedrigeren Schicht, Klasse oder Kaste angehören:
- Hypergamie: der Mann hat einen höheren sozialen Status, die Frau heiratet in seine Gruppe „hinauf“
- Hypogamie: die Frau hat einen höheren sozialen Status, der Mann heiratet „hinauf“
In den meisten Gesellschaften bestehen gleichzeitig endo- und exogame Regeln auf unterschiedlichen Ebenen, beispielsweise soll der Ehepartner aus derselben sprachlichen, religiösen oder ethnischen Gemeinschaft kommen, aber nicht aus derselben Abstammungsgruppe (Großfamilie, Clan, Lineage).[4]
Funktionen der Heirat
Heiratsbeziehungen erfüllen grundsätzlich mehrere unterschiedliche Aufgaben, vor allem dienen sie:[5][6]
- der Berechtigung zu sexuellen Beziehungen
- der Legitimierung der Nachkommenschaft (auch in der Erbfolge)
- der Reinhaltung und Fortsetzung von Abstammungslinien
- der Wahrung und Vermehrung von Besitz und sozialem Ansehen
- dem Anspruch auf die Sexualität und Fortpflanzungsfähigkeit der Frau
- der Verbindung von Gruppen untereinander bis hin zu umfassenden Allianzen (siehe auch Frauentausch)
Siehe auch
- Heiratsalter · Heiratskreis · Heiratsmarkt · Homogamie und Heterogamie (Partnerwahl nach Gleich-/Verschiedenartigkeit)
- Halbheirat (Brautdienst) · Levirat (Schwagerehe) · Sororat (Schwägerinheirat) · Polygamie: Polygynie (Vielweiberei) ↔ Polyandrie (Vielmännerei)
- Europäische Geschichte: Heiratspolitik
- Frühzeit: Heiratspraxis der altägyptischen Königshäuser
Weblinks
- Helmut Lukas, Vera Schindler, Johann Stockinger: Regulierung der Heirat. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 1997, abgerufen am 21. September 2014 (vertiefende Anmerkungen, mit Quellenangaben).
- Gabriele Rasuly-Paleczek: Affinalverwandte und Heiratsbeziehungen. (PDF; 853 kB) In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation. Teil 3/5, Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2011, S. 97–111, archiviert vom Original am 17. Oktober 2013; abgerufen am 21. September 2014 (52 Seiten; Unterlagen zu ihrer Vorlesung im Sommersemester 2011).
- Brian Schwimmer: Marriage Systems. In: Tutorial: Kinship and Social Organization. Department of Anthropology, University of Manitoba, Kanada, 2003, abgerufen am 21. September 2014 (englisch, umfangreiches Verwandtschaftstutorial).
- Dennis O’Neil: Sex and Marriage. Behavioral Sciences Department, Palomar College, San Marcos California, 2009, abgerufen am 21. September 2014 (englisch, umfangreiches Studientutorial zur Heirat und ihrer Regulierung, mit anschaulichen Abbildungen).
Einzelnachweise
- ↑ Gabriele Rasuly-Paleczek: Präferentielle Heiratsordnung. (PDF; 853 kB) In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation. Teil 3/5, Universität Wien, 2011, S. 100, archiviert vom Original am 17. Oktober 2013; abgerufen am 21. September 2014: „Unter einer präferentiellen Heiratsordnung versteht man eine Heiratsregelung, bei der die Regeln angeben, welche Kategorie oder Kategorien von Personen ein Individuum heiraten soll, d. h. welchen der Vorzug gegeben wird. (VIVELO 1981: S.239, FN 5) […] Bei einem präskriptiven Heiratssystem bestimmen die Regeln somit, wen ein Individuum heiraten muss. (vgl. VIVELO 1981: S.238f, FN 5)“ . Vergleiche dazu auch die vertiefenden Anmerkungen zu präferentielle Heiratsregel und präskriptive Heiratsregel. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Universität Wien, 1997.
- ↑ Lukas, Schindler, Stockinger: Agamie. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Universität Wien, 1997, abgerufen am 21. September 2014: „Agamie – Definition: Das Fehlen einer Heiratsregel. Es handelt sich also um ein System, das weder endogam noch exogam ist.“ Sowie: Gabriele Rasuly-Paleczek: Einführung in die Formen der sozialen Organisation. Teil 3/5, Universität Wien, 2011, S. 100: „Liegen keine Heiratsregeln vor, die festlegen würden wie geheiratet werden muß bzw. soll (z. B. endogam oder exogam), so spricht man von Agamie. (vgl. SEYMOUR-SMITH 1986: S.6 und BARNARD/SPENCER 1997: S.594)“.
- ↑ Gabriele Rasuly-Paleczek: Heiratsregeln. (PDF; 853 kB) In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation. Teil 3/5, Universität Wien, 2011, S. 99, archiviert vom Original am 17. Oktober 2013; abgerufen am 21. September 2014: „LEVI-STRAUSS spricht in diesem Zusammenhang auch von positiven (legt genau fest wer geheiratet werden muss) und negativen Regeln (legt fest, wer nicht geheiratet werden kann).“
- ↑ Gabriele Rasuly-Paleczek: Endogamie und Exogamie müssen genau spezifiziert werden. (PDF; 853 kB) In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation. Teil 3/5, Universität Wien, 2011, S. 105, archiviert vom Original am 17. Oktober 2013; abgerufen am 21. September 2014: „Vielfach bestehen in einer Gesellschaft somit gleichzeitig Endogamie- und Exogamieregelungen und jedes Individuum gehört gleichzeitig einer Reihe von endogamen und exogamen Gruppen an. (vgl. HARRIS 1971: S.284 und BARNARD/SPENCER 1997: S.350)“ .
- ↑ Lukas, Schindler, Stockinger: Ehe. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Universität Wien, 1997, abgerufen am 21. September 2014 (umfangreiche Darstellung der verschiedenen Aspekte von Heiratsbeziehungen).
- ↑ Gabriele Rasuly-Paleczek: Definitionsversuche von Heirat und Ehe in der Ethnosoziologie. (PDF; 853 kB) In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation. Teil 3/5, Universität Wien, 2011, S. 97–99, archiviert vom Original am 17. Oktober 2013; abgerufen am 21. September 2014.
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