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Sokratische Wende

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Als sokratische Wende wird eine grundlegende Verschiebung des Hauptinteresses der antiken Philosophie bezeichnet, eine Zäsur, die auf das Wirken des griechischen Philosophen Sokrates (469–399 v. Chr.) zurückgeführt wird. Die Wende bestand in einer den Quellen zufolge von Sokrates initiierten allgemeinen Abwendung von der Naturphilosophie und Hinwendung zu den menschlichen Angelegenheiten. Nach der gängigen Einteilung der Philosophiegeschichte rückte mit Sokrates die Ethik ins Zentrum des Interesses, während sich die vorsokratischen Philosophen vor allem mit Themen der Naturlehre und der Ontologie beschäftigt hatten.

Quellenbefund

Direkte zeitgenössische Aussagen darüber, dass Sokrates eine allgemeine Abwendung von der Naturphilosophie herbeigeführt habe, sind nicht überliefert, doch lässt sich der Sachverhalt aus der Geschichte der „Sokratik“ – der philosophischen Richtungen, die sich auf Sokrates beriefen – und aus Mitteilungen späterer Quellen erschließen. Eine ablehnende Haltung gegenüber dem naturforschenden Fachmann, der unnützes Spezialwissen anhäufe, statt sich auf das Gelingen der eigenen Lebensgestaltung zu konzentrieren, ist in der gesamten Sokratik festzustellen.[1]

Nach Angaben Platons, des bedeutendsten Schülers des Sokrates, fand dieser die damals vorliegenden Ergebnisse der Naturforschung unbefriedigend und sah sich dadurch veranlasst, stattdessen seine Erkenntnisbemühungen auf Fragen der optimalen Lebensgestaltung zu richten. Ein Hinweis findet sich in der Apologie des Sokrates, der von Platon literarisch gestalteten Fassung der Verteidigungsrede, die Sokrates vor dem athenischen Volksgericht hielt, als er im Jahr 399 v. Chr. wegen Asebie (Gottlosigkeit) und Verführung der Jugend angeklagt war. Dort stellt Platons Sokrates fest, es werde behauptet, dass er „Unterirdisches und Himmlisches“ untersuche. Es treffe aber nicht zu, dass er solche Naturforschung betreibe. Die Haltlosigkeit der Gerüchte könnten die vielen Bürger bezeugen, die bei seinen Diskussionen zugehört hätten. Zwar habe er gegen Bestrebungen, nutzbares naturkundliches Wissen zu erlangen, grundsätzlich nichts einzuwenden, doch er selbst sei daran nicht beteiligt. Ironische Skepsis gegenüber dem Ziel der Naturbeherrschung ist deutlich erkennbar.[2] Ausführlicher ist ein autobiographischer Bericht, den Sokrates nach der Schilderung in Platons Dialog Phaidon kurz vor seinem Tod gab. Nach dieser Darstellung interessierte sich Sokrates in seiner Jugend stark für Naturforschung, denn er wollte verstehen, „warum etwas entsteht, warum es vergeht und warum es existiert“. Insbesondere versuchte er ein physiologisches Verständnis von Wachstum, Sinneswahrnehmungen und mentalen Prozessen zu gewinnen. Bei diesen Untersuchungen erkannte er aber schließlich nur das Ausmaß der herrschenden Unwissenheit auf diesem Gebiet.[3] Viel versprach er sich von der Kosmologie des Anaxagoras, denn dieser Denker behauptete, der Kosmos sei gemäß der Vernunft geordnet, und dies würde bedeuten, dass sich die Positionen und Bewegungen der Gestirne teleologisch erklären ließen. Es stellte sich jedoch heraus, dass Anaxagoras keineswegs in der Lage war, eine schlüssige Welterklärung solcher Art zu liefern. Wenn es einen Lehrer gäbe, der die Ursachen und Zusammenhänge in der Natur befriedigend darlegen könnte, wäre er, Sokrates, sehr gern sein Schüler geworden, doch nach seinen Worten hat er niemanden gefunden, der darüber Bescheid weiß. Daher hat er die Naturspekulation aufgegeben und stattdessen eine „zweite Fahrt“ unternommen, das heißt einen nicht naturphilosophischen Ansatz gewählt.[4]

Einen weiteren Hinweis gibt Platon in seinem Dialog Phaidros, in dem Sokrates ebenfalls als Hauptfigur auftritt. Dieses Gespräch spielt sich ausnahmsweise außerhalb von Sokrates’ Heimatstadt Athen in der Landschaft ab, und dort fühlt sich der Philosoph als Stadtmensch fremd. Um seine Abneigung, die Stadt zu verlassen, dem Gesprächspartner Phaidros zu erklären, bemerkt Sokrates: „Ich bin nämlich lernbegierig; und die Landschaft und die Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber in der Stadt die Menschen.“[5] Auch mit Hypothesen zur Historizität mythischer Erzählungen will er sich nicht befassen, da man dafür viel freie Zeit benötige. „Ich aber habe für solche Dinge überhaupt keine Zeit; und der Grund, mein Lieber, ist folgender. Noch kann ich nicht […] mich selbst erkennen; da scheint es mir lächerlich, wenn ich hier noch ahnungslos bin, mich um Dinge zu kümmern, die mich nichts angehen.“[6]

In diese Richtung weisen auch Mitteilungen in den Erinnerungen, die Xenophon, ein anderer Schüler des Sokrates, verfasste. An einer der einschlägigen Stellen geht es um die Frage, in welchem Ausmaß man sich als Gebildeter mit fachwissenschaftlichen Spezialkenntnissen vertraut machen soll. Nach Xenophons Darstellung war Sokrates der Ansicht, man solle sich mit Wissenschaften wie Mathematik und Astronomie nur unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens für praktische Zwecke befassen; die Befriedigung einer darüber hinausreichenden Neugier als Selbstzweck hielt er für Zeitverschwendung.[7] An einer anderen Stelle wird die sokratische Ablehnung der Naturphilosophie scharf ausgedrückt: Sokrates forschte – so Xenophon – nicht wie die meisten anderen danach, wie der Kosmos seiner Natur nach beschaffen sei und welchen notwendigen Gesetzen alle Himmelsvorgänge unterworfen seien, „sondern er erklärte die, welche sich über solche Dinge Gedanken machten, für töricht“. Es sei nämlich abwegig, sich um solche Fragen zu kümmern, wenn man noch nicht das nötige Verständnis der weit wichtigeren menschlichen Angelegenheiten erlangt habe. Außerdem seien die spekulativen Behauptungen der Naturphilosophen haltlos. Diese Denker bildeten sich zwar viel auf ihr angebliches Wissen ein, seien aber untereinander über die mutmaßlichen Sachverhalte uneinig.[8]

Aristoteles teilte in seiner Metaphysik mit, dass sich Sokrates nur „mit den ethischen Gegenständen beschäftigte und gar nicht mit der gesamten Natur“.[9] Der Feststellung dieses Sachverhalts gab Aristoteles in seiner Schrift Über die Teile der Lebewesen eine zugespitzte Form, indem er konstatierte, dass mit Sokrates eine neue Epoche in der Philosophiegeschichte, das Zeitalter der Ethik, begonnen habe. Nach seinen Worten verbesserte sich zwar zur Zeit des Sokrates die Methode der naturwissenschaftlichen Forschung, „aber die Untersuchung der Naturgegenstände hörte auf, und die Philosophierenden wandten sich von ihr ab und der für die Praxis nützlichen Tugend und der Politik zu“.[10] Damit wurde erstmals der von der späteren Philosophiegeschichtsschreibung übernommene Befund formuliert, dass Sokrates nicht nur für sich selbst die Beschäftigung mit Naturforschung ablehnte, sondern damit zugleich eine Weichenstellung für die weitere Entwicklung der Philosophie vornahm.[11]

Der römische Politiker und Philosoph Marcus Tullius Cicero knüpfte an die griechische doxographische Überlieferung an, als er feststellte, Sokrates habe „als Erster die Philosophie vom Himmel heruntergerufen und in den Städten angesiedelt und auch in die Häuser hineingeführt und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten und dem Guten und Schlechten zu forschen“.[12] In dem Dialog Über das Gemeinwesen schrieb Cicero, Sokrates habe die Beschäftigung mit der Natur verworfen und dies damit begründet, dass der Gegenstand der Naturforschung entweder die menschliche Vernunft übersteige oder das Leben der Menschen nichts angehe.[13]

Schließlich fasste in der römischen Kaiserzeit der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios die überlieferte Sichtweise zusammen: Mit Sokrates sei die Wendung zur Ethik eingetreten, nachdem zuvor die Ausrichtung auf das physische Gebiet geherrscht habe.[14] Außerdem berichtete er, Archelaos, ein Schüler des Anaxagoras und nach Diogenes’ Angaben Lehrer des Sokrates, sei der letzte Naturphilosoph gewesen und habe zugleich schon die neue Ausrichtung auf die Ethik eingeleitet.[15]

Interpretation

Moderne Beurteiler bewerten die sokratische Wende sehr unterschiedlich. Oft wird sie – wie etwa bei Karl Jaspers – als epochale Großtat gewürdigt, in einigen Stellungnahmen erscheint sie jedoch als problematisch oder destruktiv. Hegel und José Ortega y Gasset beschreiben sie als ambivalente Entwicklung mit fragwürdigen Aspekten. Für Nietzsche bedeutet sie eine verhängnisvolle Fehlorientierung. Weitgehende Einigkeit besteht aber in der Einschätzung, dass es sich um einen Vorgang von größter geistesgeschichtlicher Bedeutung handelt.[16]

Mit der Wende traten Themen in den Vordergrund, auf die sich die sokratische Reflexion schwerpunktmäßig konzentrierte. Dazu zählte neben Selbsterforschung, Selbstdisziplin und Autonomie der Vernunft auch das soziale Verhalten, insbesondere das Verhältnis des Staatsbürgers zum Gemeinwesen, der Polis. Die Betrachtung der „politischen Angelegenheiten“ (altgriechisch Πολιτικά Politiká, davon deutsch Politik) wurde dank dem sokratischen Impuls ein zentrales Anliegen der antiken Philosophie. Diese Entwicklung beleuchtete der Philosoph Heinrich Meier in seiner im Februar 2000 gehaltenen Münchener Antrittsvorlesung. Nach Meiers Ausführungen ist zwischen dem relativ jungen „vorsokratischen“ und dem späten, reifen Sokrates zu unterscheiden. Der frühe Sokrates philosophiert noch ohne politische Reflexion und Verantwortung, seinem Wissensdurst folgend denkt er über Natur, Sprache und Logik nach. Als Außenseiter missachtet er Autorität, Tradition und die „vitalen Bedürfnisse der Gesellschaft“ und nimmt keine Rücksicht auf die Interessen des Gemeinwesens, an dessen Rand er sich eingerichtet hat, obwohl er und seine Freunde doch vom Gemeinwesen abhängen. Diese sozialen Defizite werden von dem Komödiendichter Aristophanes in der 423 v. Chr. aufgeführten Komödie Die Wolken aufs Korn genommen. Nach einem Reifungsprozess vollzieht Sokrates aber später in fortgeschrittenem Alter die welthistorische Wendung zur politischen Philosophie. Darunter versteht Meier eine Philosophie, die in der Sphäre des Politischen nach „dem Richtigen“ fragt und deren Gegenstand „die menschlichen Dinge im umfassenden Sinne“ sind. Solches Philosophieren ist immer auch „politisches Handeln von Philosophen“, und die politische Philosophie ist der Ort der Selbsterkenntnis des Philosophen. Der Urheber dieser Wende zur Politik ist der Sokrates, den Platon und Xenophon verewigt haben. Ob es sich dabei tatsächlich um den historischen Sokrates handelt oder eher um eine von dessen Schülern idealisierte Figur, lässt Meier offen.[17]

Literatur

Anmerkungen

  1. Siehe dazu Wolfgang Kullmann: Aristoteles und die moderne Wissenschaft, Stuttgart 1998, S. 43.
  2. Platon, Apologie 19b–d. Vgl. C. David C. Reeve: Socrates in the Apology, Indianapolis 1989, S. 14–21; Ernst Heitsch: Platon: Apologie des Sokrates. Übersetzung und Kommentar, Göttingen 2002, S. 63–66.
  3. Platon, Phaidon 96a–97b.
  4. Platon, Phaidon 97b–99d. Vgl. zur Darstellung in diesem Dialog Theodor Ebert: Platon: Phaidon. Übersetzung und Kommentar, Göttingen 2004, S. 339–349.
  5. Platon, Phaidros 230d.
  6. Platon, Phaidros 229b–230a.
  7. Xenophon, Erinnerungen an Sokrates 4,7.
  8. Xenophon, Erinnerungen an Sokrates 1,11–16.
  9. Aristoteles, Metaphysik 987b.
  10. Aristoteles, Über die Teile der Lebewesen 642a.
  11. Klaus Döring: Sokrates. In: Hellmut Flashar (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Band 2/1, Basel 1998, S. 141–178, hier: 167.
  12. Cicero, Tusculanae disputationes 5,10.
  13. Cicero, De re publica 1,15.
  14. Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen 1,18.
  15. Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen 2,16.
  16. Eine umfangreiche Zusammenstellung zahlreicher neuzeitlicher Einschätzungen bietet Herbert Spiegelberg (Hrsg.): The Socratic Enigma, Indianapolis 1964, S. 67–310.
  17. Heinrich Meier: Warum Politische Philosophie?, Stuttgart/Weimar 2000, S. 9–19.
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