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Nürnberger Gesetze

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Titelseite des Reichsgesetzblatt Teil I Nr. 100, in dem am 16. September 1935 die drei Gesetze verkündet wurden

Mit den Nürnberger Gesetzen – auch als Nürnberger Rassengesetze bezeichnet – institutionalisierten die Nationalsozialisten ihre antisemitische Ideologie auf juristischer Grundlage. Sie wurden anlässlich des 7. Reichsparteitags der NSDAP, des sogenannten „Reichsparteitags der Freiheit“, am Abend des 15. Septembers 1935 einstimmig vom Reichstag angenommen, der eigens zu diesem Zweck telegrafisch nach Nürnberg einberufen worden war. Sie umfassten

  • das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (RGBl. I S. 1146) – das sogenannte Blutschutzgesetz – sowie
  • das Reichsbürgergesetz (RGBl. I S. 1146).
  • Neben diesen beiden eindeutigen „Rassengesetzen“ wird heute oft auch das Reichsflaggengesetz (RGBl. I S. 1145) unter dem Sammelbegriff „Nürnberger Gesetze“ gefasst, obwohl es zeitgenössisch nicht zu ihnen gezählt wurde.[1]

Alle drei Gesetze wurden im Reichsgesetzblatt Teil I Nr. 100 am 16. September 1935 mit dem Zusatz „am Reichsparteitag der Freiheit“ verkündet.

„Blutschutzgesetz“

Bildtafel zum „Blutschutzgesetz“

Das „zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ erlassene Gesetz verbot die Eheschließung sowie den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden. Es sollte der sogenannten „Reinhaltung des deutschen Blutes“ dienen, einem zentralen Bestandteil der nationalsozialistischen Rassenideologie. Verstöße gegen das Gesetz wurden als „Rassenschande“ bezeichnet und mit Gefängnis und Zuchthaus bedroht. Die Strafandrohung für außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden richtete sich nur gegen den Mann, nicht gegen die Frau.

Diese Bestimmung wurde oft Adolf Hitler persönlich zugeschrieben. Sie zeuge von seinem Frauenbild, nach dem diese sexuell unmündig sei. Auch eine von Hitler gewünschte Ergänzungsverordnung vom 16. Februar 1940, nach der die Frau trotz des Vorwurfs der Begünstigung ausdrücklich straffrei bleiben sollte, weist in diese Richtung.[2] Die Juristen Wilhelm Stuckart und Hans Globke liefern in ihrem Gesetzeskommentar[3] von 1936 eine rein praktische Begründung: Zur Überführung sei meist die Aussage der beteiligten Frau erforderlich, und dieser stehe bei Straffreistellung ein Aussageverweigerungsrecht nicht mehr zu.

Im § 3 des Gesetzes, der erst zum 1. Januar 1936 in Kraft trat, wurde es Juden untersagt, „deutschblütige“ Dienstmädchen unter 45 Jahren zu beschäftigen. Dahinter stand die ideologische Unterstellung, „der Jude“ werde sich sonst an diesen vergehen.

Kurz nach der Verabschiedung der Rassengesetze, am 14. November 1935, wurde in einer Ersten Verordnung zum Blutschutzgesetz (RGBl. I S. 1334 f.) festgeschrieben, dass „Halbjuden“ nur noch mit ausdrücklicher Genehmigung „Deutschblütige“ oder „Vierteljuden“ ehelichen durften. Entsprechende Anträge blieben jedoch meist erfolglos; nach 1942 wurden sie „für die Dauer des Krieges“ nicht mehr angenommen. Ehen zwischen zwei „Vierteljuden“ sollten nicht geschlossen werden. „Vierteljuden“ und „Deutschblütige“ dagegen durften heiraten. Dahinter stand die Überlegung, das „rassisch kostbare arische Blut“ zu bewahren, während der geringe jüdische Blutsanteil im Laufe der Generationen verblassen würde. Ein § 6 der Ersten Verordnung weitete das Eheverbot auf andere Gruppen aus: Es sollten grundsätzlich alle Ehen unterbleiben, die die „Reinerhaltung des deutschen Blutes“ gefährdeten. Ein Rundschreiben zählte dazu „Zigeuner, Neger und ihre Bastarde“ auf.[4]

In § 4 verbot das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ den Juden, die Reichs- und Nationalflagge zu hissen oder die Reichsfarben zu zeigen. Die Strafandrohung war Gefängnis bis zu einem Jahr. Juden wurde jedoch „das Zeigen der jüdischen Farben“ gestattet.

Bereits im Februar 1935 hatte die Gestapo, zu dieser Zeit noch ohne gesetzliche Grundlage, den Juden die Verwendung der Hakenkreuz-Fahne verboten; im April folgte ein entsprechender Erlass des Reichsinnenministeriums.[5] Angeblich sollte damit der Versuch jüdischer Firmen verhindert werden, sich durch Beflaggung zu tarnen und als „arisch“ auszugeben.[6]

Reichsbürgergesetz

Im Reichsbürgergesetz wurde festgelegt, dass nur „Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes“ Reichsbürger sein konnten (vgl. Reichsdeutsche). Den assimilierten „jüdischen Mischlingen“ wurden das Wahlrecht und eine „vorläufige Reichsbürgerschaft“ zugestanden.

Das Reichsbürgergesetz hatte unmittelbar zur Folge, dass kein Jude mehr ein öffentliches Amt innehaben durfte. Auch die jüdischen Beamten, die bislang durch das so genannte Frontkämpferprivileg im Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 1933 von der Entlassung verschont geblieben waren, mussten zum 31. Dezember 1935 den Dienst quittieren. Außerdem verloren Juden das politische Wahlrecht. Durch weitere Verordnungen zum Reichsbürgergesetz wurde 1938 jüdischen Ärzten und Rechtsanwälten die Zulassung entzogen (4. Verordnung zum RBG vom 25. Juli 1938 und 5. Verordnung zum RBG vom 30. November 1938). Bedeutsam wurde schließlich die von Hitler initiierte 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941. Deutschen Juden wurde damit die Staatsangehörigkeit aberkannt, wenn sie ihren Wohnsitz im Ausland nahmen. Bei Deportation verloren Juden mit dem Grenzübertritt ihre Staatsangehörigkeit, zugleich gingen ihr gesamtes Eigentum und Vermögen wie auch ihre Ansprüche aus Lebensversicherungen und Renten förmlich an den Staat über.

Einstufung

In der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 definierten die Nationalsozialisten, welche Personen von „teilweiser jüdischer Abstammung“ den Nürnberger Gesetzen unterliegen sollten. Dort wurde geregelt, wer nach nationalsozialistischer Auffassung als „Jude“ einzustufen war:

  • Personen mit mindestens drei jüdischen Großeltern galten als (Voll-)„Jude“.
  • Personen mit einem jüdischen Elternteil oder zwei jüdischen Großeltern galten als „Mischling ersten Grades“.
  • Personen mit einem jüdischen Großeltern-Teil wurden als „Mischling zweiten Grades“ eingestuft.

„Mischlinge ersten Grades“, die der jüdischen Kultusgemeinde angehörten oder mit einem Juden verheiratet waren, wurden als „Juden“ eingestuft. Für sie kam später der Begriff „Geltungsjude“ auf. Alle anderen „Halbjuden“ und „Vierteljuden“ wurden amtlich als „jüdische Mischlinge“ bezeichnet.

Ausnahmebestimmungen

Nach § 7 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz[7] hatte sich Hitler persönlich die Zustimmung für Ausnahmen vorbehalten.[8] Der oft verkürzt zitierte Ausspruch „Wer bei mir Jude ist, bestimme ich!“ wird Hermann Göring zugeschrieben,[9] trifft aber nicht den Sachverhalt.

Von mehr als 10.000 Anträgen zur Besserstellung, die durch mehrere Vorinstanzen geprüft und gefiltert wurden, waren nur wenige erfolgreich. Dabei waren die Teilnahme der Bittsteller am Weltkrieg und politische Verdienste um die „Bewegung“, ihr „rassisches Erscheinungsbild“ und ihre charakterliche Beurteilung wesentliche Kriterien. Nur in zwei Fällen wurden „Volljuden“ begünstigt. Bis zum Jahre 1941 erreichten 260 „Mischlinge ersten Grades“ ihre Gleichstellung mit einem „Deutschblütigen“. In 1.300 Fällen wurden Bittsteller vom „Geltungsjuden“ zum „jüdischen Mischling“ umgestuft.[10]

Nach einem Erlass des Oberkommandos der Wehrmacht vom 8. April 1940 sollten die „Mischlinge ersten Grades“ sowie die „jüdisch Versippten“, die in Mischehe lebten, aus der Wehrmacht entlassen werden.[11] Ausnahmen waren ausschließlich mit persönlicher Genehmigung Hitlers bis 1942 möglich, im Ausnahmefall aber noch weiter geduldet.[12] Im Juni 1944 sollten auch die „Mischlinge zweiten Grades“ vom Dienst in der Wehrmacht ausgeschlossen werden.[13] Mit stillschweigender Unterstützung ihrer Vorgesetzten verblieben einige dieser für wehrunwürdig erklärten Soldaten dennoch in der Wehrmacht.[14] Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 widerrief Hitler seine Ausnahmegenehmigungen für Offiziere, die als „Mischlinge ersten Grades“ galten; zugleich wurden auch alle „jüdisch versippten“ Offiziere zum Jahresende 1944 entlassen.[15]

Höherrangige Mitglieder der NSDAP waren noch weit strengeren Kriterien unterworfen. Auch Mischlinge „fünften Grades“ wurden nicht geduldet. Ausnahmegenehmigungen hatte sich auch hier Adolf Hitler selbst vorbehalten.

Die Enzyklopädie des Nationalsozialismus spricht von einer „Ernennung zum Ehrenarier“ und nimmt dabei Bezug auf die Ausnahmebestimmung des § 7 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz, die diesen Begriff jedoch nicht verwendet.[16] Beate Meyer verwendet das Wort „Ehrenarier“ nur beiläufig für Ausnahmefälle, bei denen sich „verdiente Weggefährten“ mit jüdischem Hintergrund direkt an die Parteikanzlei und Hitler wandten und ohne förmliches Verfahren eine Statusverbesserung erreichten[17] Steiner/Cornberg weisen darauf hin, dass es den Begriff „Ehrenarier“ amtlich nicht gab und er nur umgangssprachlich gebräuchlich war.[18]

Reichsflaggengesetz

Das Reichsflaggengesetz erklärte die Hakenkreuzflagge zur Reichsflagge und ermächtigte das Reichsinnenministerium förmlich, weitere Ausführungsbestimmungen zu erlassen.

Dass „Nichtariern“ der Gebrauch der Reichsflagge untersagt war, wurde nicht hier, sondern im „Blutschutzgesetz“ festgelegt. In der folgenden „Verordnung über die Flaggenführung der Schiffe“ vom 17. Januar 1936 (RGBl. I S. 15) wird allerdings darauf hingewiesen, dass der Reichsverkehrsminister im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Innern und dem Stellvertreter des Führers Kauffahrteischiffen, deren Eigentümer unter die Bestimmungen des § 4 des Blutschutzgesetzes fallen, das Führen der Handelsflagge verbieten kann.

Zustandekommen

Das „Blutschutzgesetz“
Informationstafel in Nürnberg, Frauentorgraben 49. An dieser Stelle stand der Saalbau des Industrie- und Kulturvereins, in dem der Reichstag die Nürnberger Gesetze verabschiedete. Dieses Gebäude wurde 1945 stark zerstört, ein Nachfolgebau von 1950 wurde 1967 abgerissen. Heute befindet sich dort ein Bürohochhaus, das die Direktion Mittelfranken der AOK beherbergt.

Der siebte Reichsparteitag fand vom 10. bis zum 16. September 1935 in Nürnberg statt. Er sollte ursprünglich die Einführung der Wehrpflicht und die Befreiung von den einschränkenden Bestimmungen des Versailler Vertrags propagandistisch herausstellen. Daher erklärt sich der Titel „Reichsparteitag der Freiheit“.

Am 12. September, also zwei Tage nach Beginn des Parteitags, hielt Reichsärzteführer Gerhard Wagner eine Rede, in der er überraschend ankündigte, der nationalsozialistische Staat werde in Kürze durch ein „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes“ die weitere Vermischung von Juden und „Ariern“ verhindern. Adolf Hitler erweiterte den Auftrag und ließ umgehend den Ministerialdirigenten Wilhelm Stuckart, den Judenreferenten im Reichsinnenministerium Bernhard Lösener und andere Verwaltungsfachleute entsprechende Gesetzesentwürfe ausarbeiten. Da ein Teil der Mitglieder aus Berlin anreisen musste, konnte sich die Arbeitsgruppe erst am Abend des 13. September in Nürnberg konstituieren. Wegen des Zeitdrucks verzichteten die zuständigen Minister auf Vorgaben und überließen es den Ministerialbeamten, Gesetzentwürfe auszuarbeiten.

Wagner, der sich in Nürnberg ständig bei Hitler aufhielt, wollte eine Zwangsscheidung von „Mischehen“ und Heiratsverbot auch für Vierteljuden einführen, während die Ministerialbürokraten auf Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung hinwiesen. Hitler selbst entschied sich schließlich für den milderen Gesetzentwurf; er konnte sich damit als gemäßigter Staatsmann darstellen, der seine Partei im Griff habe, und er vermied voraussehbare Konflikte mit der katholischen Kirche.

Wesentliche Inhalte dieser Nürnberger Gesetze blieben unbestimmt und konnten beliebig weiter ausgestaltet werden. So war beim Blutschutzgesetz bis zum November 1935 unklar, wer im Sinne des Gesetzes als Jude galt. Auch blieb offen, in welchen Fällen auf Gefängnis- beziehungsweise Zuchthausstrafe zu verurteilen war. Gänzlich unausgeformt blieben die Rechtsqualität von „Staatsangehörigen“ und „vorläufiger Reichsbürgerschaft“.

Reaktionen

Nach den geheimen Gestapo-Berichten, die die Stimmung der Bevölkerung wiedergaben, wurden die Nürnberger Gesetze „mit Genugtuung aufgenommen, nicht zuletzt deshalb, weil unerfreuliche Einzelaktionen“ aufhören würden. In katholischen Kreisen wurden danach die neuen Gesetze „nicht begeistert aufgenommen“, aber die Erwartung geäußert, dass es nun nicht mehr zu antisemitischen Ausschreitungen käme.[19] Es muss offen bleiben, ob diese Äußerungen repräsentativ waren und ob diese Teilkritik nur der Vorsicht geschuldet war, denn diese von SD-Mitarbeitern mitgehörten Äußerungen stammten aus öffentlich geführten Gesprächen.

Begrüßt wurde teilweise sogar von jüdischen Bürgern, dass nun eine dauerhafte und gesetzlich geregelte Lösung für ein Zusammenleben gefunden sei. Dabei wurde übersehen, dass die Nürnberger Gesetze nur einen leeren Rahmen darstellten. Zur Beruhigung trug bei, dass in der Bekanntmachung absichtlich der Eindruck erweckt wurde, diese Vorschriften beträfen „nur Volljuden“; diesen Vermerk hatte Hitler zuvor eigenhändig gestrichen,[20] den Text aber in der Fassung des Entwurfs zur Veröffentlichung freigegeben.

In Kreisen, die der Wirtschaft nahe standen, gab es Bedenken wegen möglicher Auswirkungen im Ausland. Die befürchteten Sanktionen waren jedoch kaum spürbar.

Die Berichte der Sopade bezeichnen die Nürnberger Gesetze als politische Ausnahmegesetze mit „sexualpathologischem Charakter“, durch die den Juden eine Stellung „außerhalb der Menschheit“ zugewiesen werde. Der Führer sei der „Gefangene seiner Banditen“ und müsse ihren terroristischen Forderungen nachgeben.[21]

Spätere Folgen

In der Folgezeit bis zum Ende des nationalsozialistischen Deutschen Reiches wurde die Rechtsstellung der Juden durch eine Vielzahl weiterer Gesetze und Verordnungen weiter beschränkt, die fast alle Bereiche des öffentlichen wie des privaten Lebens betrafen.

Nachdem 1939 der Judenstern im besetzten Polen eingeführt wurde, mussten ihn ab dem 19. September 1941 auch Juden im Reichsgebiet tragen. Dabei wurde auch der männliche jüdische Teil einer „Mischehe“ zum Tragen des Sterns verpflichtet, sofern die Ehe kinderlos geblieben war.

Die jüdischen Partner aus Mischehen wie auch die „jüdisch Versippten“, wie die „deutschblütigen“ Ehemänner aus Mischehen genannt wurden, wurden im Laufe des Krieges zu Zwangsarbeit verpflichtet und häufig in Lagern der Organisation Todt kaserniert. In Berlin wurden kurz vor Ende des Krieges auch die „arischen“ Ehefrauen entsprechend eingesetzt.

Nicht zur Ausführung gelangten die 1942 im Protokoll der Wannsee-Konferenz genannten und die in zwei Folgekonferenzen von Referenten erörterten Pläne. Danach wurden die Zwangsscheidung von Mischehen mit anschließender Deportation sowie die Zwangssterilisation von jüdischen Mischlingen als Ziele genannt.

Die drei Nürnberger Gesetze wurden durch das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 1 vom 20. September 1945 aufgehoben.

Kontroverse Deutungen

Umstritten war unter den Historikern die Frage, ob es sich bei den Nürnberger Gesetzen um eine spontane Entscheidung handelt oder ob damit ein lange gehegter Plan umgesetzt wurde.

Überwiegend wird in der älteren Fachliteratur dargestellt, dass die Rassengesetze völlig überraschend entstanden und spontan erlassen wurden.[22] Diesem Eindruck steht entgegen, dass bereits am 26. Juli 1935 Standesbeamte angewiesen worden waren, Aufgebote für Mischehen wegen einer anstehenden Neuregelung nicht zu bearbeiten.[23] Auch lassen sich Gedankenspiele Hitlers um ein neues Staatsbürgergesetz und Denkschriften Hanns Kerrls und Roland Freislers zum Ehegesetz schon für 1933 nachweisen.[24] Der nicht umgesetzte Entwurf eines Gesetzes „zur Regelung der Stellung der Juden“, den Rudolf Heß am 6. April 1933 an Julius Streicher schickte, nimmt im § 15 die Bestimmungen des späteren „Blutschutzgesetzes“ vorweg und enthält schärfere Regelungen als das Reichsbürgergesetz.[25]

Kontrovers wird beurteilt, inwieweit Forderungen der Parteibasis und Vorfälle wie der Kurfürstendamm-Krawall von 1935 die gesetzliche Regelung beschleunigten oder gar veranlassten. Die „Gewalt von unten“, der von Parteigliederungen inszenierte „Volkszorn“, wurde zumindest von einzelnen einflussreichen Nationalsozialisten wie Reinhard Heydrich und Gerhard Wagner genutzt, um schärfere Gesetze gegen Juden zu fordern. Andere befürchteten einen Vertrauensverlust bei der Bevölkerung, wenn die entfesselte Gewalt die Ruhe und Ordnung störten und das Gewaltmonopol des Staates unterlaufen wurde.[26] Nach Saul Friedländer sollten die Nürnberger Gesetze „allen kundtun, dass die Rolle der Partei alles andere als ausgespielt war […] So würde die Masse der Parteimitglieder beruhigt, individuelle Gewaltakte gegen Juden würden durch die Aufstellung klarer 'legaler' Richtlinien beendet, und der politische Aktivismus würde auf wohldefinierte Ziele“ hingelenkt werden.[27]

Neuerdings wird die in der Fachliteratur weitverbreitete[22] Darstellung Löseners hinterfragt, der Wilhelm Frick als desinteressiert und uninformiert beschreibt. Longerich[28] verweist auf eine Tagebucheintragung bei Goebbels vom 14. September 1935:

„Frick und Heß auch da. Gesetze durchberaten. Neues Staatsbürgergesetz… Verbot jüdischer Ehen… Wir feilen noch daran. Aber so wird es beschlossen. Wird die Reinigung erhalten.“

Umstritten ist heute auch die Selbstdarstellung der beigezogenen Ministerialbeamten, die ihre Mitwirkung als mäßigenden Einfluss oder gar Widerstand stilisierten. Zumindest lassen sich angeblich vorgebrachte Maximalforderungen, wie Sterilisationen durchzuführen oder auch „Achteljuden“ wie Volljuden zu behandeln, in keinem der sechs aufgefundenen Entwürfe nachweisen.[29]

Statistische Angaben

Die Anzahl der „Glaubensjuden“ wird für das Jahr 1933 auf 505.000 bis 525.000 geschätzt, zu denen nach Definition der Nationalsozialisten weitere 180.000 assimilierte Juden zu addieren wären.

Yehuda Bauer gibt für das nationalsozialistische Deutsche Reich mit Lutz Eugen Reutter und JDC-Dokumenten als Quelle für 1933 499.682 gelistete Juden an, 2.000 ¾-Juden, 210.000 Halbjuden und 80.000 Vierteljuden, zusammen 790.000 Verfolgte aufgrund jüdischer Herkunft. Nach den NS-Einmärschen in Österreich und Sudetenländern erhöhte sich die Anzahl entsprechend. In Österreich waren es 185.246 Juden und mindestens 150.000 Viertel-, Halb- und ¾-Juden. Die Fluchtbewegung ab 1933 reduzierte die jüdische Bevölkerung in Mitteleuropa bis 1939 gleichzeitig um 440.000.

Nach der Volkszählung von 1939 gab es nach NS-Definition 330.539 Juden (davon 297.407 Glaubensjuden), 71.126 „jüdische Mischlinge ersten Grades“ (darunter 6.600 mosaischen Bekenntnisses) und 41.454 „jüdische Mischlinge zweiten Grades“.[30]

Am 1. April 1943 lebten im Großreich offiziell nur noch 31.910 Juden. Ungefähr die Hälfte von ihnen musste den Judenstern tragen; hierzu waren auch die jüdischen Partner in „nichtprivilegierten Mischehen“ verpflichtet.

Nach der Reichskriminalstatistik des Jahres 1937 wurden 512 Männer wegen „Rassenschande“ verurteilt, darunter waren 355 Juden. Zwischen 1936 und 1940 wurden 1.911 Männer wegen „Rassenschande“ verurteilt. Die Auswertung der von 1936 bis 1943 in Hamburg gefällten Urteile ergibt, dass jüdische Männer deutlich schärfer bestraft wurden als „Deutschblütige“. Rund ein Drittel der jüdischen Justizopfer erhielt Zuchthausstrafen zwischen zwei und vier Jahren; knapp ein Viertel wurde noch strenger bestraft. Die Höchststrafe betrug 15 Jahre. In mindestens fünfzehn Fällen verhängten die Richter mit juristischen Kunstgriffen trotzdem Todesurteile, die auch vollstreckt wurden (z. B. gegen Leo Katzenberger und Werner Holländer).[31]

Am 23. Juni 1950 wurde mit dem Bundesgesetz über die Anerkennung freier Ehen rassisch und politisch Verfolgter (BGBl. 1950 S. 226), denen aufgrund nationalsozialistischer Gesetze die Eheschließung verweigert worden war, eine bundeseinheitliche Regelung getroffen: die Zuerkennung einzelner (nicht güterrechtlicher) Ehewirkungen und in diesem Fall in § 1 ausdrücklich auch eine Eheschließung „vor den Angehörigen oder auf andere Weise“ als vor einem Standesbeamten. Bis 1963 wurden 1.823 entsprechende Anträge gestellt, von denen 1.255 bewilligt wurden.[32]

Siehe auch

Literatur

  • Uwe Dietrich Adam: Judenpolitik im Dritten Reich. Düsseldorf 2003 (= Unveränd. Nachdruck von 1972) ISBN 3-7700-4063-5 (Entstehungsgeschichte der Nürnberger Gesetze).
  • Cornelia Essner: Die ‘Nürnberger Gesetze’ oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945. Paderborn 2002, ISBN 3-506-72260-3 (Diss./ Kritik an Selbstdarstellung Löseners und Mitwirkung der Staatsbürokratie).
  • Otto Dov Kulka: Die Nürnberger Rassengesetze und die deutsche Bevölkerung im Lichte geheimer NS-Lage- und Stimmungsberichte. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 32 (1984), S. 582–636.
  • Ian Kershaw: Hitler 1889–1936. Stuttgart 1998, ISBN 3-421-05131-3. (im 13. Kapitel, bes. S. 711, Belege für planvolle Vorbereitungen)
  • Hans Mommsen: Auschwitz, 17. Juli 1942. Der Weg zur europäischen „Endlösung der Judenfrage“. dtv 30605, München 2002, ISBN 3-423-30605-X. (detaillierte Darstellung im 3. Kapitel)
  • Jeremy Noakes: „Wohin gehören die ‘Judenmischlinge’?“ Die Entstehung der ersten Durchführungsverordnung zu den Nürnberger Gesetzen. In: Ursula Büttner u. a. (Hrsg.): Das Unrechtsregime …, Band 2: Verfolgung, Exil, Belasteter Neubeginn. Hamburg 1986, ISBN 3-7672-0963-2.
  • Hans Robinsohn: Justiz als politische Verfolgung. Die Rechtsprechung in „Rasseschandefällen“ beim Landgericht Hamburg 1936–1943. Stuttgart 1977, ISBN 3-421-01817-0.
  • John M. Steiner/Jobst F. von Cornberg: „Willkür in der Willkür. Befreiung von den antisemitischen Nürnberger Gesetzen.“ In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 143–187.

Weblinks

 Wikisource: Nürnberger Gesetze – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. Meyers Lexikon, 8. Aufl., Achter Band, Sp. 525, Leipzig 1940: „Nürnberger Gesetze, Bez. für zwei auf dem Reichsparteitag 1935 verkündete bedeutsame Gesetze des nat.-soz. Reiches: Blutschutzgesetz und Reichsbürgergesetz.“
  2. Lothar Gruchmann: „‚Blutschutzgesetz‘ und Justiz …“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), S. 441.
  3. Stuckart-Globke: Kommentare zur deutschen Rassengesetzgebung. Band 1, München und Berlin 1936 – 1b), Zitat S. 18/19.
  4. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939. München 2000, ISBN 3-406-43506-8, S. 170.
  5. Peter Longerich: „Davon haben wir nichts gewusst.“ München 2006, ISBN 3-88680-843-2, S. 76.
  6. Hans Robinsohn: Justiz als politische Verfolgung. Die Rechtsprechung in „Rassenschandefällen“ beim Landgericht Hamburg 1936–43. Stuttgart 1977, ISBN 3-7610-7223-6, S. 10.
  7. Text der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz (1935).
  8. Diese Bestimmung war bereits in einer Besprechung über die besondere Judengesetzgebung am 20. Dezember 1934 schriftlich fixiert: Wolf Gruner (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 1., Deutsches Reich 1933–1937. München 2008, ISBN 978-3-486-58480-6, Dok. 146, S. 392.
  9. 1933 bezüglich Martin Wronsky von der Lufthansa, siehe Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Frankfurt/M. 1999, ISBN 3-596-13589-3, S. 89. „Wer a Jud ist, bestimm i!“ wird auch Karl Lueger zugeschrieben; vgl. Brigitte Hamann: Hitlers Wien. München 1996, S. 417.
  10. John M. Steiner/Jobst F. v. Cornberg: „Willkür in der Willkür. Befreiung von den antisemitischen Nürnberger Gesetzen“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 149 bzw. 151 spricht von 6 % Erfolg. Beate Meyer: „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, Hamburg 1999, ISBN 3-933374-22-7, S. 105, 108 und 157; hält höhere Zahlen für wahrscheinlich.
  11. Beate Meyer: „Jüdische Mischlinge“, ISBN 3-933374-22-7, S. 231.
  12. Bryan Mark Rigg: Hitlers jüdische Soldaten. Paderborn 2003, ISBN 3-506-70115-0, bildet vor S. 1 als Dokument eine Liste „aktive[r] Offiziere, die selbst oder deren Ehefrau jüdische Mischlinge sind und vom Führer für deutschblütig erklärt wurden“ ab, bei der Ernennungen noch 1943 erfolgten.
  13. Uwe Dietrich Adam: Judenpolitik im Dritten Reich. Unveränd. Nachdruck von 1972, Düsseldorf 2003, ISBN 3-7700-4063-5, S. 233.
  14. Beate Meyer: „Jüdische Mischlinge“, ISBN 3-933374-22-7, S. 232 f.; nach nicht-repräsentativer Erhebung: 4 von 43.
  15. Uwe Dietrich Adam: Judenpolitik im Dritten Reich, unveränd. Nachdruck von 1972, Düsseldorf 2003, ISBN 3-7700-4063-5, S. 228–233; Bryan Mark Rigg: Hitlers jüdische Soldaten Paderborn 2003, ISBN 3-506-70115-0, S. 290.
  16. Enzyklopädie des Nationalsozialismus (hrsg. Wolfgang Benz u. a.), 5. Auflage München 2007, ISBN 978-3-423-34408-1, S. 483.
  17. Beate Meyer: „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945 2. Aufl., Hamburg 2002, ISBN 3-933374-22-7, S. 152.
  18. John M. Steiner/Jobst F. v. Cornberg: „Willkür in der Willkür. Befreiung von den antisemitischen Nürnberger Gesetzen“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 162 (PDF).
  19. Otto Dov Kulka: „Die Nürnberger Rassengesetze und die deutsche Bevölkerung im Lichte geheimer NS-Lage- und Stimmungsberichte“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 32 (1984), S. 602 f. Differenzierter bei Peter Longerich: „Davon haben wir nichts gewusst.“ München 2006, ISBN 3-88680-843-2, S. 85–92.
  20. Jeremy Noakes: Wohin gehören die „Judenmischlinge“? …, ISBN 3-7672-0963-2, S. 72/73.
  21. Deutschland-Berichte der Sopade. (Ausgabe Zweitausendeins) Salzhausen und Frankfurt/M. 1980, 2. Jg. 1935, S. 996.
  22. 22,0 22,1 Beispielhaft bei Uwe Dietrich Adam: Judenpolitik im dritten Reich. Düsseldorf 2003; erstmals 1972.
  23. Reinhard Rürup: Das Ende der Emanzipation. Die antijüdische Politik in Deutschland …, in: Arnold Paucker u. a. (Hrsg.): Die Juden im Nationalsozialistischen Deutschland. Tübingen 1986, ISBN 3-16-745103-3, S. 111 f.
  24. Saul Friedländer: Das Dritte Reich …, München 2000, ISBN 3-406-43506-8, S. 163, 171.
  25. Wolf Gruner (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 1., Deutsches Reich 1933–1937. München 2008, ISBN 978-3-486-58480-6, Dok. 27, S. 123–129.
  26. Michael Wildt: Gewaltpolitik. Volksgemeinschaft und Judenverfolgung in der deutschen Provinz, in: Werkstatt Geschichte 12 (2003) H. 35, S. 36 f.
  27. Saul Friedländer: Das Dritte Reich …, München 2000, ISBN 3-406-43506-8, S. 164.
  28. Peter Longerich: Politik der Vernichtung, München 1998, ISBN 3-492-03755-0, S. 104, sowie Günter Neliba: Wilhelm Frick: Der Legalist des Unrechtsstaates. Schöningh, Paderborn [u. a.] 1992, ISBN 3-506-77486-7.
  29. Jeremy Noakes: „Wohin gehören die ‘Judenmischlinge’?“ Die Entstehung der ersten Durchführungsverordnung zu den Nürnberger Gesetzen, in: Ursula Büttner u. a. (Hrsg.): Das Unrechtsregime …, Band 2: Verfolgung, Exil, Belasteter Neubeginn. Hamburg 1986, ISBN 3-7672-0963-2, S. 73.
  30. hier Summen im Gebietsstand vom 17. Mai 1939 (Deutschland, Österreich, Sudetendeutsche Gebiete, jedoch ohne Memelland) nach Die Juden und jüdischen Mischlinge im Deutschen Reich, in: Volkszählung. Die Bevölkerung des Deutschen Reiches nach den Ergebnissen der Volkszählung 1939. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 552, H. 4, Berlin 1944.
  31. Alexandra Przyrembel nennt in ihrem Buch »Rassenschande« – Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus (Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 414 ff.) für Berlin vier Todesurteile im Jahr 1943 sowie ein weiteres, dem zugrunde lag, dass ein als Sittlichkeitsverbrecher vorbestrafter Mann sich an einem 13jährigen Jungen vergriffen habe, für Leipzig je eines am 6. Juni 1942 und am 25. August 1942, je ein weiteres in Hamburg am 24. April 1941 und am 12. September 1942 sowie in Kassel, Nürnberg, Köln und Stettin, ferner in Hamburg am 2. August 1940, wobei es auch um Fälschung von Lebensmittelkarten ging, in Leipzig im März 1942 wegen Rassenschande und Fahrraddiebstahl sowie in Danzig im Januar 1940, wo die Todesstrafe damit begründet wurde, dass der Beschuldigte seine jüdische Identität zu verheimlichen gesucht und dazu Urkundenfälschung und Betrug begangen habe.
  32. Cornelia Essner/Edouard Conte: „Fernehe“, „Leichentrauung“ und „Totenscheidung“. Metamorphosen des Eherechts im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Jahrgang 44 (1996), Heft 2, S. 201–227 (PDF; 7 MB) / Zahlen s. Beate Meyer: „Jüdische Mischlinge“, Hamburg 2002, ISBN 3-933374-22-7, S. 469.
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