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Erfundene Tradition

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Der Kilt ist das berühmteste Beispiel der in The Invention of Tradition beschriebenen Vergangenheitskonstruktionen. Das seit dem 19. Jahrhundert als keltische Traditionstracht verstandene Kleidungsstück ist in Schottland nicht vor dem 17. Jahrhundert nachweisbar.

Erfundene Tradition (seltener Erfindung der Tradition, konstruierte Tradition oder neue Tradition) ist ein ideologiekritisches Konzept, das 1983 von Eric Hobsbawm und Terence Ranger mit der Aufsatzsammlung The Invention of Tradition eingeführt worden ist. Erfundene, d. h. in ihrer jeweiligen Gegenwart konstruierte, aber in eine bestimmte Vergangenheit zurückprojizierte Traditionen sollen als historische Fiktion dazu dienen, bestimmte Normen und Strukturen gegenüber einem gegenwärtigen Wandlungsdruck gesellschaftlich zu legitimieren und zu festigen. Das Konzept hat erheblich dazu beigetragen, kulturwissenschaftliche Methoden in der Geschichtswissenschaft zu verankern und zu verbreiten, und ist in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu einem Topos für Autoritätskonstruktionen geworden.

Konzept

Gemäß der Definition Hobsbawms in dessen einleitenden Beitrag zu The Invention of Tradition bedeutet erfundene Tradition „ein Bündel von Praktiken ritueller oder symbolischer Natur, die gewöhnlich von offen oder stillschweigend anerkannten Regeln bestimmt werden. Sie zielt darauf ab, bestimmte Verhaltenswerte und -weisen durch Wiederholung zu festigen, was von sich aus die Kontinuität mit der Vergangenheit beinhaltet. Tatsächlich wird wo immer möglich versucht, Kontinuität mit einer passenden Epoche herzustellen. […] Jedoch liegt die Eigenart der erfundenen Tradition darin, dass die Kontinuität mit der historischen Vergangenheit, auf die Bezug genommen wird, weithin künstlich ist. Kurzum handelt es sich um Antworten auf neuartige Umgebungen, deren Form sich auf alte Umgebungen bezieht oder die ihre eigene Vergangenheit schaffen mittels einer gleichsam zwingenden Wiederholung.“ [1]

Unterschieden werden drei Ausprägungen erfundener Tradition mit jeweils besonderer Funktion, wobei häufig unter der ersten die zwei anderen subsumiert sind:

Den Zweck der erfundenen Tradition sieht das Konzept darin, dass sie gegenüber historischem Wandel wenigstens einigen Teilen des gesellschaftlichen Lebens Struktur verleiht, indem dessen Wesen als unveränderlich und beständig gilt. Die neuartige Perspektive, wie Traditionen sich nicht bloß mit abnehmender Ausstrahlung in die Gegenwart erstrecken, sondern als Rückprojektionen ihre eigentliche Wirkung in der Gegenwart entfalten, hat dem Traditionsbegriff eine hohe sozialwissenschaftliche Relevanz verschafft. Das Konzept untersucht denn auch die Vergangenheit eher dahingehend, wie diese benutzt wird, nicht welchen Einfluss diese hat. Erfundene Tradition ist als methodischer Ansatz nicht auf die Geschichts- und Sozialwissenschaft beschränkt geblieben. Ethnologische und prähistorische Forschungen haben das Konzept für eigene Untersuchungen angewendet. So werden beispielsweise sehr viel spätere Sekundärbestattungen in jungsteinzeitlichen Grabhügeln oder deren bewusste Imitationen in diesem Sinn zu erklären versucht.[2] Jedoch wird erfundene Tradition, auch wenn sie allgegenwärtig sein dürfte, als eine spezifische Erscheinung von Zeiten beschleunigten, umfassenden und tiefgreifenden Wandels vermutet, also vergleichsweise prononciert seit Beginn der Moderne (ab dem 19. Jahrhundert).

Beispiele

Für erfundene Traditionen gibt es viele bekannte Beispiele:

  • Der Sirtaki, ein griechischer Tanz, welcher erst seit 1964 bekannt ist.
  • Die Vuvuzela, ein populäres südafrikanisches Blasinstrument aus den 1990er Jahren.
  • Die Vedische Mathematik, Rechenregeln, die von Bharati Krishna Tirthaji zwischen 1911 und 1918 angeblich aus dem Veda herausgearbeitet wurden.
  • Der balinesische Kecak-Tanz, dessen moderne Version der deutsche Künstler Walter Spies Anfang der 1930er Jahre für den Film Insel der Dämonen von Friedrich Dalsheim erfand.
  • Der Umzug anlässlich des "Día de los Muertos" in Mexico. Ursprünglich gab es zu diesem Feiertag keinen Umzug. Aber in dem James Bond-Film "Spectre" war ein solcher zu sehen. "Wir mussten einen Karneval zum Tag der Toten erfinden", so der mexikanische Tourismusminister Enrique de la Madrid. "Nach dem James-Bond-Film wären die Touristen sonst gekommen, um den Umzug zu sehen und hätten ihn nicht vorgefunden."[3]

Kritik und aktuelle Anwendung

Als problematisch wird dem Konzept vorgehalten, dass es mit einem partiell blickverengenden Gegensatz zwischen authentischen, aber bloß invariablen und eher technisch funktionierenden Sitten und konstruierter Tradition arbeite. Damit übergehe es – wenn auch aus aufklärerischer Haltung – die Frage, wie viel materielle und ideelle Vergangenheit tatsächlich in die Gegenwart einfließt. Ein anderer Kritikpunkt ist, dass gerade die Moderne sich eher durch Originalitätsbehauptungen beziehungsweise konstruierte Originalität (Invention of Innovation) auszeichne als durch erfundene Traditionen; diese seien in der Vormoderne nicht weniger zahlreich und wirksam als heute, was zeige dass die Erklärungsmuster des Konzepts insgesamt noch nicht ausgereift seien. [4]

Auffällig ist, dass Traditionen derzeit im Zuge der Globalisierung wieder an Bedeutung gewinnen. Sie scheinen als Ressource zur Konstruktion ethnisch oder religiös umschriebener sozialer Gruppen das generelle Konzept Hobsbawms und Rangers zu bestätigen. Erfundene Tradition wird beispielsweise als Begriff im Zusammenhang mit Erscheinungen des politischen Islams angewendet. [5]

In den Kulturwissenschaften wird „Tradition“ zunehmend durch „Gedächtnis“ als Gegenpol zu Geschichte als dem Gegenstand einer kritischen, positivistisch verstandenen Historiographie ersetzt. Allerdings weist Hobsbawm darauf hin, dass gerade geschichtswissenschaftliche Werke – angesichts der Nutzung von (erfundener) Tradition zur Handlungslegitimation – viel stärker als bisher auf ihre Wirkung im öffentlichen Raum geprüft werden müssten.

Literatur

  • Eric Hobsbawm und Terence Ranger: The Invention of Tradition. Cambridge University Press, Cambridge 1992, ISBN 0521437733.
  • Stefan Jordan (Hrsg.): Lexikon Geschichtswissenschaft – Hundert Grundbegriffe. Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-000503-5, S. 289–290.

Belege

  1. The Invention of Tradition, S. 1 f.: ‘Invented tradition’ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity with a suitable historic past. […] However, insofar as there is such reference to a historic past, the peculiarity of ‘invented’ traditions is that the continuity with it is largely factitious. In short, they are responses to novel situations which take the form of reference to old situations, or which establish their own past by quasi-obligatory repetition.
  2. Cornelius J. Holtorf: Monumental Past – The Life-histories of Megalithic Monuments in Mecklenburg-Vorpommern (Germany) (10. Juni 2006)
  3. Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF): Erstmals Umzug in Mexiko-Stadt: Mexiko feiert "Tag der Toten" - heute-Nachrichten. In: www.heute.de. Abgerufen am 30. Oktober 2016.
  4. Tagungsbericht Invention of Tradition – Invention of Innovation (10. Juni 2006)
  5. Daniel Bax: Die Muster der Differenz. die tageszeitung, 12. Januar 2004
Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Erfundene Tradition aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar.