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Herschel Grynszpan

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Herschel Feibel Grynszpan nach seiner Festnahme durch die französische Polizei

Herschel (Hermann) Feibel Grynszpan – gelegentlich auch Grünspan – (geb. 28. März 1921 in Hannover; gest. 1942 vermutlich im KZ Sachsenhausen) war ein in der Weimarer Republik geborener und aufgewachsener Jude polnischer Staatsangehörigkeit, der am 7. November 1938 in Paris ein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath verübte. Dem nationalsozialistischen Regime diente diese Tat als Vorwand, um unter dem Motto Rache für den Mord an vom Rath schon lange vorbereitete Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung durchzuführen.

Grynszpan war als 14-Jähriger im Jahr 1935 aus Deutschland nach Frankreich emigriert, weil es in Deutschland keine Zukunft für ihn gab. Als er Anfang November 1938 davon erfuhr, dass seine Eltern mit zehntausenden anderen Polen zwangsweise unter menschenunwürdigen Umständen nach Polen deportiert worden waren, schoss er mit einem Revolver auf vom Rath, der zwei Tage später seinen Verletzungen erlag. Herschel Grynszpan beging das Attentat, um die Demütigung und schlechte Behandlung seiner Eltern und seiner Verwandten und Freunde zu rächen. Wahrscheinlich im KZ Sachsenhausen wurde er 1942 von SS-Angehörigen ermordet.

Kindheit

Herschel Grynszpan wurde 1921 in Hannover als Sohn polnisch-jüdischer Eltern geboren und besaß die polnische Staatsangehörigkeit. Der Vater Sendel Grynszpan war Schneider und verheiratet mit Ryfka, geb. Silberberg. Grynszpan hatte zwei Geschwister: Markus (* 29. August 1919) und Esther Beile genannt Berta (* 31. Januar 1916). Die Familie war im April 1911 aus Russisch-Polen nach Hannover umgezogen und wohnte schließlich in der Burgstraße 36. Bis 1935 besuchte Herschel die Volksschule, ohne einen Abschluss zu machen.[1] In Hannover war er Mitglied der Zionistengruppe Misrachi und des Sportclubs Bar Kochba. Nach Ansicht seiner Lehrer war er überdurchschnittlich intelligent, hatte aber keine Lust zu arbeiten. Mit Unterstützung seiner Familie und der hannoverschen jüdischen Gemeinde besuchte Grynszpan die in der Christgasse gelegene rabbinische Lehranstalt (Jeschiwa) in Frankfurt am Main, um unter anderem Hebräisch zu lernen.[2] Offenbar sagte ihm diese auf fünf Jahre angelegte Ausbildung nicht zu, denn er brach sie nach elf Monaten wieder ab. Mittlerweile hatte die Diskriminierung der Juden in Deutschland mit dem „Judenboykott“, dem „Berufsbeamtengesetz“, dem Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen und weiteren antisemitischen Gesetzen schon sehr konkrete Formen angenommen, so dass Grynszpan keine Arbeit und keine Lehrstelle fand. Er bemühte sich dann, nach Palästina auszuwandern, erhielt jedoch aufgrund seines Alters einen vorläufig abschlägigen Bescheid; er sollte sich in einem Jahr wieder bewerben.

Frankreich

Im Juli 1936 reiste Grynszpan im Alter von 15 Jahren mit legalen Dokumenten – einem polnischen Pass und einem von Belgien geforderten Rückreisevisum nach Deutschland, das eine Wiedereinreise bis zum 1. April 1937 erlaubte – zu seinem Onkel Wolf Grynszpan nach Brüssel, ursprünglich um dort auf das Visum für die Einreise nach Palästina zu warten. Sein Onkel empfing ihn ziemlich kühl, als er feststellte, dass Herschel mittellos war. Er hatte nur 10 Mark ins Ausland mitnehmen dürfen und verfügte auch nicht über mehr Geld. Herschel nahm daher das Angebot seines anderen Onkels, Abraham Grynszpan, aus Paris an, zu diesem zu ziehen. Freunde von Wolf Grynszpan schmuggelten Herschel im September 1936 illegal über die Grenze nach Frankreich, da sie davon ausgehen mussten, dass ihm auf dem offiziellen Weg die Einreise verweigert würde.[3] Als er in Paris ankam, war er krank – er litt unter Magenschmerzen und häufigem Erbrechen. Grynszpan war von kleiner Statur, nur 1,54 m groß und wog nur etwa 45 kg.

Grynszpan war orthodoxer Jude und besuchte regelmäßig den Gottesdienst. Auch in der Umgebung der Familie seines Onkels lebten überwiegend Juden. Ihre Hauptsprache war Jiddisch, aber auch deutsch wurde gesprochen. Herschel Grynszpan unterstützte seinen Onkel gelegentlich bei der Arbeit, aber er ging keiner geregelten Beschäftigung nach. Er traf sich mit Freunden, ging häufig ins Kino und besuchte Lokale, die dem homosexuellen Milieu zugerechnet wurden. [4]

Grynszpan versuchte über zwei Jahre vergeblich, in Frankreich eine Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen. Bemühungen, dann wieder zu seiner Familie nach Hannover zurückzukehren, scheiterten am Widerspruch des hannoverschen Polizeipräsidenten, der sich weigerte, Grynszpan zurück nach Hannover reisen zu lassen, weil seine Papiere angeblich nicht in Ordnung seien. Der polnische Pass hatte auch Ende Januar 1938 seine Gültigkeit verloren. Im August 1938 wurde Grynszpan schließlich auch noch der Ausweisungsbefehl aus Frankreich zugestellt, so dass er sich in völlig auswegloser Lage befand. Grynszpan hätte bis zum 15. August Frankreich verlassen müssen, aber sein Onkel versteckte ihn in einer Mansarde in einem anderen Haus in Paris. Grynszpan hatte keine Arbeit, wurde von der Polizei gesucht und musste sich verstecken – eine ausweglose Situation.

Ausweisung polnischer Juden im Oktober 1938 aus Nürnberg, reichsweit wurden 15.000 Menschen als polnische Juden ausgewiesen.

Mittlerweile waren seine Eltern und Geschwister – die noch polnische Staatsbürger waren, obwohl die Familie schon seit 27 Jahren in Deutschland lebte – am 28./29. Oktober 1938 in einer reichsweiten gewaltsamen Aktion, der Polenaktion, verhaftet und gezwungen worden, ohne jegliche Vorbereitung sofort ihren Wohnsitz und ihre Existenz in Hannover aufzugeben. Man hatte sie deportiert und bei Bentschen über die deutsche Grenze Richtung Polen abgeschoben. Von dieser Massenabschiebung waren etwa 17.000 Juden betroffen. Die völlig unvorbereiteten Menschen wurden zuerst von Polen zurückgewiesen und hielten sich deshalb teilweise im Niemandsland zwischen der deutschen und polnischen Grenze im Freien auf. Andere wurden ohne Probleme ins Land gelassen. Darüber war auf der ganzen Welt und auch in der Pariser Presse berichtet worden.[5] Die abgeschobenen Menschen waren völlig hilflos. Nachdem die Grynszpans nach Polen gelangt waren, konnten sie eine Karte nach Paris schreiben. Grynszpan erhielt am 3. November eine Postkarte seiner Schwester Berta, in der sie ihm schilderte, wie die ganze Familie unter Zurücklassung von allem Hab und Gut, unvorbereitet und ohne jegliche Mittel von der Polizei zwangsweise und überfallartig abtransportiert worden war. Die Familie saß völlig mittellos in einem Lager im polnischen Zbąszyń (Bentschen). Berta bat ihren Bruder, ihnen Geld nach Polen zu schicken. Als Grynszpan die Karte seiner Schwester erhielt, war er völlig verzweifelt, denn er befand sich ja selbst in größter Not.

„Lieber Hermann,
Von unserem großen Unglück hast Du sicher gehört. Ich will Dir genau schildern, wie das vorgegangen ist....Donnerstag abend ist ein Sipo [Sicherheitspolizist] zu uns gekommen und sagte, wir müssten zur Polizei und die Pässe mitbringen. So wie wir standen, sind wir alle zusammen mit dem Sipo zur Polizei gegangen. Dort war schon unser ganzes Revier versammelt.

Von dort hat man uns alle im Polizeiauto nach dem Rusthaus [Ein Gasthaus] gebracht....Man hat zwar nicht gesagt, was los ist, aber wir haben gesehen, dass wir fertig sind. Jedem von uns hat man einen Ausweis [d. h. vermutlich Ausweisungsbefehl] in die Hand gedrückt bis zum 29. [Oktober] muss man das Land verlassen. Man hat uns nicht mehr nach Haus gelassen. Ich habe gebettelt, man soll mich nach Hause lassen wenigstens etwas Zeug zu holen. Bin dann mit einem Sipo gegangen und habe in einem Koffer die nötigsten Kleidungsstücke gepackt. Das ist alles was ich gerettet habe. Wir sind ohne Pfennig Geld. [Folgende Passage gestrichen, vermutlich: Kannst Du und Onkel nicht etwas nach Lodz schicken]?

Grüsse und Küsse von alle

Berta“

Berta Grynszpan[6]

Das Attentat auf Ernst vom Rath

Herschel Grynszpan nach seiner Festnahme

Nachdem Grynszpan die Karte seiner Schwester bekommen hatte, konnte er weitere dramatische Schilderungen der Deportationen am 4. November der in Paris erscheinenden jiddischen Zeitung Haynt (Journée Parisienne) entnehmen. Was er las, machte ihn noch mehr um seine Familie besorgt. Am 6. November bat er seinen Onkel darum, sofort Geld zu seinen Eltern zu schicken. Als Abraham zögerte, kam es zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf Grynszpan die Familie seines Onkels unter Mitnahme seiner Ersparnisse verließ.

Grynszpan übernachtete in einem billigen Hotel und schrieb einen Abschiedsbrief an seine Eltern, den er in seine Tasche steckte. Am 7. November 1938 kaufte er in einem Waffengeschäft einen Revolver[7] für 235 Franc. Danach suchte er die deutsche Botschaft im Palais Beauharnais auf und verlangte einen Botschaftssekretär zu sprechen. Ihn empfing Botschaftssekretär vom Rath, der jüngere der beiden zu diesem Zeitpunkt diensthabenden Beamten. Rath ließ ihn ohne Anmeldeformalitäten und ohne Zeugen in sein Amtszimmer treten. Der Historiker Hans-Jürgen Döscher schloss daraus, dass Rath und Grynszpan miteinander bekannt waren.[8] Grynszpan schoss mit seiner Waffe sofort fünfmal auf Rath und verletzte ihn so schwer, dass dieser zwei Tage später seinen Verletzungen erlag. Nach dem französischen Polizeiprotokoll beschimpfte er Rath dabei als „un sale boche“ („dreckigen Deutschen“) und rief aus, dass er im Namen von 12.000 verfolgten Juden handele. Ähnlich äußerte er sich in dem bei ihm gefundenen Abschiedsbrief an seine Eltern: Sein Herz habe geblutet, als er von ihrem Schicksal gehört habe, er müsse protestieren, so dass die ganze Welt davon erfahre. Grynszpan ließ sich ohne Fluchtversuch verhaften und begründete auch gegenüber dem französischen Untersuchungsrichter seine Tat in diesem Sinn. Da Grynszpan zum Tatzeitpunkt minderjährig war, wurde er in das Jugendgefängnis Fresnes bei Paris überstellt.[9]

Ernst vom Rath, geboren 1909, hatte Rechtswissenschaft studiert, im Frühjahr 1932 sein erstes juristisches Staatsexamen bestanden und danach sein Referendariat gemacht. Er war 1932 in die NSDAP eingetreten und im April 1933 in die SA. Im Jahr 1934 wurde er in den Auswärtigen Dienst aufgenommen. Ein Jahr des Vorbereitungsdienstes hatte er in Paris als persönlicher Sekretär seines Onkels Roland Köster, des deutschen Botschafters in Frankreich, absolviert. Im Juni 1936 hatte Rath die diplomatisch-konsularische Prüfung in Berlin bestanden. Danach hatte Rath ein Jahr an der deutschen Botschaft in Kalkutta verbracht, hatte aber wegen einer Krankheit nach Deutschland zurückkehren müssen. Diese Krankheit scheint Rectalgonorrhoe gewesen zu sein, die durch homosexuellen Verkehr erworben worden war. Zur Behandlung dieser Krankheit wählte er in Berlin jüdische Ärzte, vermutlich um die Wahrscheinlichkeit einer Meldung oder Denunziation zu verringern. Ab dem 13. Juli 1938 war Rath wieder an der deutschen Botschaft, wo er am 18. Oktober zum Legationssekretär ernannt wurde.[10]

Strafrechtliche Ahndung in Frankreich

Die französischen Behörden leiteten einen Prozess gegen Grynszpan ein; der Untersuchungsrichter Tesniere stellte am 7. November eine Klage gegen Grynszpan wegen eines Mordversuchs fertig. Nach dem Tode Raths am 9. November 1938 wurde die Anklage auf Mord mit Vorsatz erweitert.[11]

Auch von deutscher Seite bereitete man sich auf den Prozess vor. Goebbels ernannte schon am 8. November den Juristen Friedrich Grimm zum Vertreter des Deutschen Reiches, einen Rechtsberater des Reiches und Fachmann für Propagandaaufgaben, in denen gegen Juden gehetzt werden sollte. Grimm sollte die Interessen des Deutschen Reiches in der Mordsache vom Rath wahren.[12] Für den 11. November 1938 setzte Goebbels das Treffen einer Prozessplanungsgruppe im Propagandaministerium unter der Leitung des Regierungsrates Wolfgang Diewerge an. Teilnehmer waren Vertreter des Auswärtigen Amtes, der NSDAP/Auslands-Organisation sowie Friedrich Grimm. Grimm trug vor, dass eine Auslieferung Grynszpans nicht erwartet werden könne und der Prozess auf jeden Fall in Frankreich stattfinden werde. Auf der Sitzung wurde beschlossen, dass Grimm den Prozess beeinflussen solle und in Nebenklage die Interessen der Eltern und des Bruders vom Raths vertreten solle. Das war nur zusammen mit französischen Anwälten möglich, deren Auswahl man Grimm auftrug.

Goebbels hatte in dem Attentatsfall interveniert, da er aus diesem Prozess eine Propagandaschlacht für Deutschland machen wollte. Nachgewiesen werden sollte, dass eine jüdische Weltverschwörung gegen Deutschland Krieg führe und auch das Attentat organisiert habe. Die deutsche antijüdische Politik sollte als Abwehr des jüdischen Angriffs auf der ganzen Welt verstanden werden. So sollte in Deutschland und auch im Ausland Verständnis für die Vorgänge der Reichspogromnacht und die weitere Unterdrückung der Juden in Europa geweckt werden. Grynszpan sei von dieser „jüdischen Weltverschwörung“ gelenkt. Diese stand nach der Propaganda der Nationalsozialisten auch hinter der französischen liberalen demokratischen Presse, die den jugendlichen Grynszpan indoktriniert habe. Mit dem Attentat habe, so die nationalsozialistische Propaganda, auch das deutsch-französische Verhältnis beschädigt werden sollen. Zu dem Zeitpunkt war das Verhältnis beider Staaten gespannt, das Münchner Abkommen war gerade erst etwa einen Monat alt. Grimm fuhr umgehend nach Paris. Dort bekam er den Hinweis, dass der Verteidiger Grynszpans, Maître Vincent de Moro-Giafferi von der französischen Liga gegen den Antisemitismus, der Ligue Internationale Contre l'Antisémitisme (LICA), die Eltern Grynszpans aus Polen zum Prozess einladen wolle, um sie über die deutschen antijüdischen Aktionen aussagen zu lassen. Grimm intervenierte in Polen, so dass die polnische Regierung, selbst antisemitisch eingestellt, den Eltern die Ausreise untersagte. Grimm pendelte ständig zwischen Deutschland und Frankreich und nahm dort Einfluss auf die Vorbereitung des Prozesses.

Der Prozessbeginn verzögerte sich, bis mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 eine völlig neue Situation gegeben war. Wegen des Stimmungsumschwunges in der Bevölkerung Frankreichs hätte die dortige Justiz Grynszpan wohl freigesprochen, zumal Deutschland als Kriegsgegner nicht hätte am Prozess teilnehmen können. Grimm machte sich gegenüber dem Propagandaministerium aber anheischig, den Prozess vom neutralen Ausland aus zu manipulieren. Mit dieser Aufgabe betraut, begab er sich während des Sitzkrieges für einige Monate an die Deutsche Botschaft nach Bern und hielt über die Schweiz und den Anwalt Guinand Kontakt zu den französischen Untersuchungsbehörden. Zu diesem Zwecke wurde er sogar zum Generalkonsul des Deutschen Reiches ernannt. Trotz des Kriegszustandes gelang Grimm, beim französischen Generalkonsul in Bern ein Visum für Guinand und dessen Bestellung zum Vertreter des Deutschen Reiches im geplanten Prozess zu erhalten. Guinand wurde in Paris sogar auf Anweisung des selbst verhinderten Justizministers Bonnet vom stellvertretenden Justizminister empfangen. Ergebnis dieser Verhandlungen war, dass der Prozess sistiert wurde, aber Grynszpan im Gefängnis blieb.[13]

Das Attentat wurde in großen Teilen der jüdischen Gemeinschaft und auch in Frankreich missbilligt, nicht zuletzt wegen Befürchtungen, es würde von den Nationalsozialisten zum Vorwand für Vergeltung genommen werden, welche Befürchtungen durch die Ereignisse voll bestätigt wurden.[14] Man versuchte von jüdischer Seite, Grynszpan als Verrückten hinzustellen. Diese Darstellung wirkte lange nach und findet sich beispielsweise noch in einschlägigen Äußerungen von Hannah Arendt in ihrem Buch Eichmann in Jerusalem von 1963 wieder.

Auslieferung nach Deutschland

Grynszpan blieb trotz seiner Jugend ohne Prozess rund 20 Monate inhaftiert, bis zum deutschen Sieg über Frankreich. Die Franzosen hatten Grynszpans Gesuch abgelehnt, auf Seiten Frankreichs gegen die Deutschen kämpfen zu dürfen. Sobald der künftige Botschafter Otto Abetz mit seiner Mannschaft, zu der auch der Rechtsprofessor Friedrich Grimm gehörte, am 19. Juni 1940 mit den deutschen Truppen nach Paris eingetroffen war, wurde nach Grynszpan gefahndet, schon einen Tag vor Ankunft der Botschaftsmitarbeiter war eine Gestapoeinheit unter Dr. Helmut Knochen nach Paris gekommen. Ein Sturmbannführer dieser Einheit, Karl Bömelburg, war gleichzeitig Leiter einer Gruppe der Geheimen Feldpolizei. Bömelburg und Grimm hatten nun den Auftrag, Herschel Grynszpan gefangenzunehmen.[15] Dazu ließ Grimm am nächsten Tag die Geheime Feldpolizei Polizei- und Gerichtsdienststellen durchsuchen und alle Verfahrensakten beschlagnahmen. Alle jüdischen Organisationen und alle Anwaltskanzleien, die mit Grynszpan zu tun gehabt hatten, wurden durchsucht. Grimm eignete sich sogar die Handakten von Grynszpans Verteidiger Moro-Giafferis an.[16]

Am 19. Juni meldete Grimm an das Außenministerium, dass Grynszpan „illegal“ aus dem Gefängnis in Paris entfernt worden sei. In der Tat war Grynszpan mit anderen Gefangenen in den unbesetzten Süden geschickt worden und er kam bei einer Bombardierung des Zuges zunächst frei. Mittellos und ohne ausreichende Sprachkenntnisse, gelang ihm jedoch nicht unterzutauchen. Vielmehr stellte er sich erneut den französischen Behörden: zuerst im Gefängnis von Bourges, wo ihn ein Staatsanwalt laufen ließ, und dann in Toulouse.

Grimm machte Grynszpan in Südfrankreich ausfindig und ersuchte den französischen Justizminister um seine Auslieferung.[17] Gleichzeitig stellte das Auswärtige Amt einen Auslieferungsantrag bei der Waffenstillstandskommission. Am 18. Juli 1940 übergaben die Franzosen Grynszpan an der Grenze zwischen der unbesetzten und der deutschen Besatzungszone an die Deutschen, die ihn nach Berlin in das Gestapogefängnis im Reichssicherheitshauptamt in der Prinz-Albrecht-Straße 8 verbrachten. Diese Auslieferung verstieß gegen den Waffenstillstandsvertrag und gegen Bestimmungen des Völkerrechts, denn Grynszpan hatte keine deutsche Staatsbürgerschaft und die Tat war vor dem Einfall der Deutschen auf französischem Boden begangen worden.[18]

Nun sollte endlich ein politischer Schauprozess nach NS-Muster stattfinden. Seine Bühne sollte der Volksgerichtshof sein und das Reichspropagandaministerium unter Joseph Goebbels sollte bei ihm mitwirken. Bewiesen werden sollte die Existenz der „jüdischen Weltverschwörung“, die die Zerstörung Deutschlands im Sinne und den Weltkrieg verursacht habe. Mitplaner des Prozesses waren Rechtsanwalt Grimm und Wolfgang Diewerge. Grynszpan drohte jetzt allerdings auszusagen, sein Opfer vom Rath aus der Pariser Homosexuellenszene zu kennen.[19] Damit durchkreuzte er die Strategie der Nationalsozialisten. Möglicherweise bediente sich Grynszpan damit einer Verteidigungstaktik seines Pariser Anwalts. Die Ankläger mussten nämlich nun befürchten, dass Grynszpan im geplanten Prozess die angebliche Homosexualität vom Raths und eventuell anderer Nationalsozialisten in Paris zur Sprache bringen würde. Auch habe Grynszpan die „Rechtmäßigkeit seiner Auslieferung in Zweifel ziehen“[19] können. Auf Befehl Hitlers wurde der Prozess im Juli 1942 abgesetzt. Grynszpan kam zunächst ins KZ Sachsenhausen. Um den 26. September 1942 wurde er ins Zuchthaus Magdeburg verbracht.[20] Was im Einzelnen danach mit ihm geschah, ist nicht genau geklärt; jedenfalls wurde er – vermutlich noch 1942 oder Anfang 1943 – ermordet.[21]

Seine Eltern und sein Bruder überlebten den Holocaust. Nach ihrer Abschiebung 1938 nach Polen konnten sie späterhin in die Sowjetunion flüchten. Sie wanderten nach dem Krieg nach Israel aus. Grynszpans Vater und sein Bruder sagten 1961 im Eichmann-Prozess aus.[1]

Herschel Grynszpan wurde 1960 in der Bundesrepublik von einem Gericht auf Antrag der Eltern offiziell für tot erklärt. Zuvor war in einigen Zeitungsmeldungen[22] und in einer Untersuchung des Historikers Helmut Heiber zu lesen, Grynszpan habe den Krieg überlebt und lebe unter anderem Namen in Paris.[23] Im Jahr 1981 gab Heiber allerdings gegenüber dem Historiker Ron Roizen an, dass er mittlerweile vom Tod Grynszpans vor Ende des Krieges ausgehe. Grynszpans letzte Erwähnung in deutschen Akten datiert von September 1942.

Folgen des Attentats in Deutschland

Hauptartikel: Novemberpogrome 1938

Grynszpans Attentat war in Deutschland auf Geheiß von Joseph Goebbels Aufmacher in allen Zeitungen und diente als Vorwand für einige der schlimmsten bis dahin in Deutschland inszenierten Pogrome, die Novemberpogrome 1938 oder die so genannte „Reichskristallnacht“.[24] Einige Stunden nach Bekanntwerden des Todes vom Raths am Abend des 9. November gingen NSDAP und SA in einer vorbereiteten und konzertierten Aktion gegen jüdische Bürger und deren Besitztümer vor: Trupps von zivil gekleideten SA-Leuten und Parteiangehörigen waren unterwegs, ausgerüstet mit Stangen, Messern, Dolchen, Revolvern, Äxten, großen Hämmern und Brechstangen. Sie brachen in Synagogen ein, steckten sie in Brand und zerschlugen mit Stangen die Schaufenster jüdischer Läden. Dann brachen sie plündernd und zerstörend in die Geschäfte ein. In gleicher Brutalität gingen Schläger-Trupps gegen Juden in deren Wohnungen vor. Sie wurden, sofern nicht geöffnet wurde, gewaltsam aufgebrochen und verwüstet. Vorgefundenes Geld wurde konfisziert, Sparbücher und Wertpapiere wurden mitgenommen. Die Juden wurden misshandelt und gedemütigt, auch die Frauen und Kinder. Insgesamt wurden etwa 400 Menschen ermordet, hinzu kamen Selbsttötungen, ca. 30.000 männliche Juden wurden in KZs eingeliefert. Rund 7500 Geschäfte und fast alle Synagogen (ca. 1400) wurden niedergebrannt oder auf andere Weise zerstört. Zum Hohn für die Pogromopfer wurden die Juden in einer am 12. November 1938 erlassenen „Verordnung über die Sühneleistung“ auch noch gezwungen, zusätzlich eine „Kontributionszahlung“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark zu leisten.

Erinnerung und Bezüge zur Kunst

Herschel Grynszpan wurde in Hannover geboren und lebte bis 1936 in der Stadt. Sein Name findet sich unter den Tausenden von eingravierten Namen am Mahnmal für die deportierten jüdischen Bürger am Opernplatz in Hannover. Dort wird er als verschollen aufgeführt. Am 22. März 2010 verlegte Gunter Demnig in Hannover am letzten Wohnsitz der Familie Grynszpan in der Altstadt einen Stolperstein für Herschel Grynszpan und einen für dessen Schwester Esther. Das frühere Wohnhaus in der Burgstraße 36 gibt es heute nicht mehr, am Ort steht heute das Historische Museum.

Die Ereignisse um Herschel Grynszpan inspirierten den englischen Komponisten Michael Tippett zu seinem Oratorium A Child of Our Time.

Nachdem der Rat der Stadt Hannover Ende 2009 einen interfraktionellen Antrag zur Anbringung einer eigenen Stadttafel zur Erinnerung an Herschel Grünspan gestellt hatte,[25] enthüllte diese Hannovers Kultur- und Schuldezernentin Marlis Drevermann am 9. September 2013 am Historischen Museum Hannover, „etwa an der Stelle [...], wo sich das ehemalige Wohnhaus der Familie Grünspan befand“.[26]

Siehe auch

Literatur

Film

  • Das kurze, mutige Leben des Herschel Grünspan. (OT: Livrez-nous Grynszpan.) Dokumentation und Doku-Drama, Frankreich, 2007, 76 Min., Regie: Joël Calmettes, Produktion: arte, Produktion: Septembre, deutsche Erstausstrahlung: 29. Oktober 2008. Arte-Programmhinweis

Weblinks

 Commons: Herschel Grynszpan – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 Klaus Mlynek: Die „Reichskristallnacht“, in: Historisches Museum am Hohen Ufer (Hrsg.): Reichskristallnacht in Hannover. Eine Ausstellung zur 40. Wiederkehr des 9. November 1938, Hannover 1978, S. 58.
  2. Friedrich Karl Kaul, Der Fall des Herschel Grynszpan, … S. 12.
  3. Rita Thalmann, Emanuel Feinermann: Die Kristallnacht. Athenäum, Frankfurt 1988, Taschenbuch, ISBN 3-610-04708-9, S. 46 ff.
  4. Hans-Jürgen Döscher: „Reichskristallnacht“. Die Novemberpogrome 1938. Überarbeitete und erweiterte Taschenbuchausgabe, 3. Auflage. Econ, München 2000, ISBN 3-612-26753-1, S. 63 ff.
  5. Artikel Massenaustreibungen polnischer Juden aus Deutschland, in: Pariser Zeitung vom 29. Oktober 1938, S. 1, einsehbar in der Sammlung Exil der DNB.
  6. Hans-Jürgen Döscher: „Reichskristallnacht“. Die Novemberpogrome 1938. Erweiterte und überarbeitete Taschenbuchausgabe, 3. Auflage. Econ, München 2000, ISBN 3-612-26753-1, S. 60.
  7. Klaus Mlynek: Die „Reichskristallnacht“. In: Historisches Museum am Hohen Ufer (Hrsg.): Reichskristallnacht in Hannover. Eine Ausstellung zur 40. Wiederkehr des 9. November 1938, Hannover 1978, S. 59.
  8. Hans-Jürgen Döscher: „Reichskristallnacht“. Die Novemberpogrome 1938. Erweiterte und überarbeitete Taschenbuchausgabe, 3. Auflage. Econ, München 2000, ISBN 3-612-26753-1, S. 69 ff.
  9. Tabellarischer Lebenslauf von Ernst vom Rath im LeMO (DHM und HdG).
  10. Hans-Jürgen Döscher: „Reichskristallnacht“. Die Novemberpogrome 1938. Erweiterte und überarbeitete Taschenbuchausgabe, 3. Auflage. Econ, München 2000, ISBN 3-612-26753-1, S. 66 ff.
  11. Rita Thalmann, Emanuel Feinermann: Die Kristallnacht. Überarbeitete Ausgabe der Autorin. Taschenbuch, Frankfurt 1988, ISBN 3-610-04708-9, S. 58 ff.
  12. Friedrich Karl Kaul, Der Fall des Herschel Grynszpan, … S. 45.
  13. Friedrich Karl Kaul, Der Fall des Herschel Grynszpan, … S. 107 ff.
  14. David H. Weinberg: A community on trial: the jews of Paris in the 1930s, Chicago University Press 1977.
  15. Gerald Schwab: The Day The Holocaust began: The Odyssey of Herschel Grynszpan, New York 1990, S. 124 f.
  16. Friedrich Karl Kaul: Der Fall des Herschel Grynszpan, S. 59.
  17. Gerald Schwab: The Day The Holocaust began: The Odyssey of Herschel Grynszpan, New York 1990, S. 128.
  18. Hans-Jürgen Döscher: „Reichskristallnacht“. Die Novemberpogrome 1938. Erweiterte und überarbeitete Taschenbuchausgabe, 3. Auflage. Econ, München 2000, ISBN 3-612-26753-1, S. 162.
  19. 19,0 19,1 Hans-Jürgen Döscher: „Reichskristallnacht“. Die Novemberpogrome 1938. Erweiterte und überarbeitete Taschenbuchausgabe, 3. Auflage. Econ, München 2000, ISBN 3-612-26753-1, S. 165.
  20. Gerald Schwab: The Day The Holocaust began: The Odyssey of Herschel Grynszpan; New York 1990; S. 184.
  21. Siehe die in der Literaturliste angegebenen Untersuchungen von Döscher, Jonka, Roizen, Schwab und Urner u. a.
  22. Kurt R. Grossmann: Herschel Gruenspan lebt! In: Aufbau vom 10. Mai 1957, S. 1 u. 5 f.
  23. Heiber, Der Fall Grünspan (PDF; 1,8 MB), Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1957, Heft 2, S. 172.
  24. s. Pariser Tageszeitung vom 11. November 1938, Nr. 839, S. 1 als Beispiel einer deutschen Exil-Zeitung, online einsehbar in der Sammlung Exilarchiv in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt.
  25. Stadttafel für Herschel Grünspan (Grynszpan). Interfraktioneller Antrag vom 16. November 2009 auf der Seite der SPD-Ratsfraktion Hannover, abgerufen am 14. September 2013.
  26. Am Historischen Museum. Neue Stadttafel enthüllt. In: hannover.de, 9. September 2013, abgerufen am 14. September 2013.
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