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Pogrom von Kischinjow

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Leichen auf den Straßen

Das Pogrom von Kischinjow war ein antisemitisches Pogrom, das vom 6. Apriljul./ 19. Aprilgreg. bis 8.jul./ 21. April 1903greg. in Kischinjow, dem heutigen moldauischen Chișinău und damaliger Hauptstadt des Gouvernements Bessarabien im Russischen Kaiserreich, stattfand.[1] Während des Pogroms wurden 49 Juden getötet, 92 Menschen schwer und weitere 500 verletzt, mehrere jüdische Frauen vergewaltigt und 1.500 Häuser beschädigt.[2] Der Vorfall lenkte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Verfolgung der Juden in Russland[3] und veranlasste Theodor Herzl, das Uganda-Programm als vorübergehende Fluchtlösung für die Juden vorzuschlagen.[4] Amerikanischen Juden organisierten in großem Umfang finanzielle Hilfe und unterstützten die Auswanderung.[5]

Ein zweites Pogrom in der Stadt fand im Oktober 1905 statt.[6]

Geschichte

1818 wurde der Ansiedlungsrayon, in dem sich Juden im Russischen Kaiserreich niederlassen durften, auf Bessarabien ausgeweitet. Infolgedessen wuchs der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung in Kischinjow auf über vierzig Prozent um die Jahrhundertwende an.[7]

Die meist verbreitete Zeitung in Kischinjow, die russischsprachige antisemitische Zeitung Bessarabier (russisch Бессарабец Bessarabez), die von Pawel Kruschewan herausgegeben wurde, veröffentlichte regelmäßig Artikel mit Schlagzeilen wie „Tod den Juden!“ und „Kreuzzug gegen die verhasste Rasse!“. Als ein ukrainischer Junge, Michail Rybatschenko, in der Stadt Dubăsari, etwa 40 km nördlich von Kischinjow, ermordet aufgefunden wurde und ein Mädchen, das Selbstmord begangen hatte, indem es sich vergiftete, in einem jüdischen Krankenhaus für tot erklärt wurde, unterstellte die Zeitung, dass beide Kinder von der jüdischen Gemeinde ermordet worden waren, um ihr Blut für die Zubereitung von Matze zum Pessachfest zu verwenden. Eine andere Zeitung (russisch Свет Swet, deutsch ‚Licht‘) machte ähnliche Andeutungen.[8] Diese Anschuldigungen lösten das Pogrom aus.[6]

Das Pogrom begann am Ostersonntag. Nachdem die Kirchengänger aus den Gottesdiensten entlassen worden waren, begannen die Ausschreitungen. Das Magazin Time veröffentlichte eine gefälschte Depesche des Innenministers Wjatscheslaw von Plehwe an den Gouverneur von Bessarabien, in der er angeblich den Befehl gab, die Randalierer nicht zu stoppen.[9] Es gibt Belege, dass die Beamten in Kischinjow fahrlässig angesichts des Pogroms reagierten, hingegen die Behörden in Dubăsari versuchten, die Ausschreitungen zu beenden.[6][10]

Am 28. April druckte die New York Times einen aus Russland herausgeschmuggelten Bericht der Yiddish Daily News ab:[5]

„The mob was led by priests, and the general cry, ‘Kill the Jews’, was taken-up all over the city. The Jews were taken wholly unaware and were slaughtered like sheep. The dead number 120 and the injured about 500. The scenes of horror attending this massacre are beyond description. Babes were literally torn to pieces by the frenzied and bloodthirsty mob. The local police made no attempt to check the reign of terror. At sunset the streets were piled with corpses and wounded. Those who could make their escape fled in terror, and the city is now practically deserted of Jews.“

„Der Mob wurde von Priestern angeführt, und der allgemeine Ruf ‚Tötet die Juden‘ wurde in der ganzen Stadt vernommen. Die Juden wurden völlig unvorbereitet getroffen und wie Schafe abgeschlachtet. Die Zahl der Toten betrug 120, die der Verletzten etwa 500. Das Grauen, das sich bei diesem Massaker abspielte, ist unbeschreiblich. Säuglinge wurden von dem rasenden und blutrünstigen Mob buchstäblich in Stücke gerissen. Die örtliche Polizei unternahm keinen Versuch, die Schreckensherrschaft einzudämmen. Bei Sonnenuntergang waren die Straßen mit Leichen und Verwundeten übersät. Diejenigen, die entkommen konnten, flohen in Angst und Schrecken, und die Stadt ist jetzt praktisch menschenleer.“

The New York Times[11]

Das Pogrom von Kischinjow im Jahr 1903 erregte die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit und wurde in Ergänzung zur Monroe-Doktrin in der Roosevelt-Corollary als Beispiel für die Art von Menschenrechtsverletzungen genannt, die ein Engagement der Vereinigten Staaten in Lateinamerika rechtfertigen würden. Das Buch The Voice of America on Kishinev von 1904 enthält weitere Einzelheiten,[12] ebenso wie das Buch Russia at the Bar of the American People: A Memorial of Kishinef.[13]

Reaktion des Russischen Kaiserreichs

Karikatur von Präsident Theodore Roosevelt zu Zar Nikolaus II.: „Beenden Sie Ihre grausame Unterdrückung der Juden“

Der russische Botschafter in den Vereinigten Staaten, Arthur Cassini, charakterisierte das Pogrom von 1903 in einem Interview am 18. Mai als Reaktion finanziell bedrängter Bauern auf jüdische Gläubiger:

„The situation in Russia, so far as the Jews are concerned is just this: It is the peasant against the money lender, and not the Russians against the Jews. There is no feeling against the Jew in Russia because of religion. It is as I have said—the Jew ruins the peasants, with the result that conflicts occur when the latter have lost all their worldly possessions and have nothing to live upon. There are many good Jews in Russia, and they are respected. Jewish genius is appreciated in Russia, and the Jewish artist honoured. Jews also appear in the financial world in Russia. The Russian Government affords the same protection to the Jews that it does to any other of its citizens, and when a riot occurs and Jews are attacked the officials immediately take steps to apprehend those who began the riot, and visit severe punishment upon them.“

„Die Situation in Russland, soweit es die Juden betrifft, ist genau so: Es ist der Bauer gegen den Geldverleiher, und nicht die Russen gegen die Juden. In Russland gibt es keine Gefühle gegen den Juden der Religion wegen. Es ist so, wie ich gesagt habe – der Jude ruiniert die Bauern, so dass es zu Konflikten kommt, wenn letztere ihren ganzen weltlichen Besitz verloren haben und nichts mehr zum Leben haben. Es gibt viele gute Juden in Russland, und sie werden geachtet. Das jüdische Genie wird in Russland geschätzt und der jüdische Künstler geehrt. Auch in der Finanzwelt Russlands sind Juden vertreten. Die russische Regierung gewährt den Juden den gleichen Schutz wie jedem anderen ihrer Bürger, und wenn es zu einem Aufstand kommt und Juden angegriffen werden, ergreifen die Beamten sofort Maßnahmen, um diejenigen zu ergreifen, die den Aufstand begonnen haben, und bestrafen sie streng.“[14]

Folgen

Der amerikanische Medienmogul William Randolph Hearst, so der Historiker Steven Zipperstein, „machte sich Kischinjow zu einem Kreuzzug“ und schickte den irisch-nationalistischen Journalisten Michael Davitt als „Sonderbeauftragten für die Untersuchung der Judenmassaker“ nach Kischinjow, der als einer der ersten ausländischen Journalisten über das Pogrom berichtete.[15][16]

Wegen ihrer Beteiligung an dem Pogrom wurden zwei Männer zu fünf und sieben Jahren Haft und zweiundzwanzig weitere zu einem oder zwei Jahren verurteilt.

Dieses Pogrom trug maßgeblich dazu bei, Zehntausende russischer Juden davon zu überzeugen, in den Westen oder nach Palästina zu gehen. Als solches wurde es zu einem Sammelpunkt für die frühen Zionisten, insbesondere für den späteren revisionistischen Zionismus, der die ersten Selbstverteidigungsbündnisse unter Führern wie Wladimir Jabotinsky inspirierte.[6]

Pogrom 1905

Ein zweites Pogrom fand am 6. Oktoberjul./ 19. Oktobergreg. und 7.jul./ 20. Oktober 1905greg. in Kischinjow statt. Diesmal begannen die Unruhen als politische Proteste gegen den Zaren, wandelten sich aber zu einem Angriff auf Juden. 19 Juden wurden getötet, weitere 56 verletzt. Jüdische Selbstverteidigungsgruppen, die nach dem ersten Pogrom gegründet worden waren, konnten die Gewalt zwar teilweise eindämmen, waren aber nicht gänzlich erfolgreich.

Kulturelle Aufarbeitung

Russische Autoren wie Wladimir Korolenko schrieben in Haus 13 über das Pogrom, während Lew Tolstoi und Maxim Gorki Verurteilungen verfassten, in denen sie die russische Regierung beschuldigten – eine Veränderung gegenüber den früheren Pogromen in den 1880ern, als die meisten Mitglieder der russischen Intelligenz schwiegen. Tolstoi arbeitete mit Scholem Alejchem zusammen, um eine den Opfern gewidmete Anthologie herauszugeben, wobei alle Einnahmen des Verlags und des Autors in die Hilfsmaßnahmen flossen; daraus wurde das Werk Esarhaddon, König von Assyrien.[17][18] Alejchem schrieb später den Stoff für den berühmten Anatevka.

Auch auf die jüdische Kunst und Literatur hatte das Pogrom einen großen Einfluss. Nachdem er Überlebende des Pogroms von Kischinjow interviewt hatte, schrieb der hebräische Dichter Chaim Nachman Bialik In der Stadt des Gemetzels über die vermeintliche Passivität der Juden gegenüber dem Mob.[3] In Israel Zangwills Theaterstück Der Schmelztiegel von 1908 wandert der jüdische Held nach dem Pogrom von Kischinjow nach Amerika aus und stellt sich schließlich dem russischen Offizier, der die Aufständischen anführte.[19]

In jüngerer Zeit schildert Joann Sfar in seiner Serie von Graphic Novels mit dem Titel Klezmer das Leben in Odessa zu dieser Zeit; der fünfte Band Kishinev-des-fous betrifft das erste Pogrom die Charaktere.[20] Der Dramatiker Max Sparber hat das Pogrom von Kischinjow 1994 zum Thema eines seiner ersten Theaterstücke gemacht.[21] Der Roman Das Lazarus-Projekt von Aleksandar Hemon beschreibt das Pogrom anschaulich und schildert seine weitreichenden Folgen.[22]

In Brasilien schrieb der jüdische Schriftsteller Moacyr Scliar das belletristische und sozialsatirische Buch O Exército De Um Homem Só über Mayer Guinzburg, einen brasilianischen Juden und kommunistischen Aktivisten, dessen Familie vor dem Pogrom von Kischinjow geflohen ist.

Denkmal

Denkmal für die Opfer des Pogroms

Das Denkmal für die Opfer des Pogroms von Kischinjow (rumänisch Monumentul Victimelor Pogromului de la Chișinău) ist ein Gedenkstein für die Opfer des Pogroms, das 1993 im Alunelul-Park in Chișinău eingeweiht wurde.[23]

Einzelnachweise

  1. Monty Noam Penkower: The Kishinev Pogrom of 1903: A Turning Point in Jewish History. In: Modern Judaism. 24, Nr. 3, 2004-10-01 ISSN 0276-1114, S. 187–225, doi:10.1093/mj/kjh017.
  2. Chicago Jewish Cafe: Kishinev Pogrom – the Turning Point: Conversation with Prof. Steven J. Zipperstein. In: YouTube. 21. September 2018, abgerufen am 6. November 2023 (en-US, Video, Länge 1:05:35).
  3. 3,0 3,1 The pogrom that transformed 20th century Jewry. In: Harvard Gazette. 9. April 2009, abgerufen am 6. November 2023 (en-US).
  4. Ervin Birnbaum: In the Shadow of the Struggle. Gefen Publishing House Ltd, 1990, ISBN 978-965-229-037-3.
  5. 5,0 5,1 Philip Ernest Schoenberg: The American Reaction to the Kishinev Pogrom of 1903. In: American Jewish Historical Quarterly. 63, Nr. 3, 1974 ISSN 0002-9068, S. 262–283.
  6. 6,0 6,1 6,2 6,3 Herman Rosenthal, Max Rosenthal: Kishinef (Kishinev). In: The Jewish Encyclopedia. Funk & Wagnalls, New York City (https://www.jewishencyclopedia.com/articles/9350-kishinef-kishinev).
  7. Arnulf Baumann: Vor hundertfünfzehn Jahren: Das Pogrom von Kischinew. Bessarabiendeutscher Verein, 2018-04 (https://www.bessarabien.de/upload/Das_Pogrom_von_Kischinew.pdf).
  8. Michael Davitt: Within The Pale. Hurst & Blackett, London 1903, S. 98 ff..
  9. John Klier: Pogroms. In: YIVO. 11. Oktober 2010, abgerufen am 6. November 2023 (english).
  10. John Doyle Klier, Shlomo Lambroza: Pogroms: Anti-Jewish Violence in Modern Russian History. Cambridge University Press, 2004-02-12, ISBN 978-0-521-52851-1.
  11. Jewish Massacre Denounced. In: The New York Times. 1903-04-28 ISSN 0362-4331, S. 6 (https://www.nytimes.com/1903/04/28/archives/the-st-jamess-gazette-sold-boys-battle-with-runaways-little.html).
  12. Cyrus Adler: The voice of America on Kishineff, ed. by Cyrus Adler. Philadelphia, The Jewish publication society of America, 1904.
  13. Isidore Singer: Russia at the Bar of the American People: A Memorial of Kishinef. Funk & Wagnalls, 1904.
  14. Current Literature: A Magazine of Contemporary Record. In: Current Opinion. 35, New York City 1903-07-01, S. 16.
  15. Steven Zipperstein: Inside Kishinev’s Pogrom: Hayyim Nahman Bialik, Michael Davitt, and the Burdens of Truth. Brandeis University Press, Waltham 2015, ISBN 9781611687330.
  16. Aidan Beatty: Jews and the Irish nationalist imagination: between philo-Semitism and anti-Semitism. In: Journal of Jewish Studies. 68, Nr. 1, 2017 ISSN 0022-2097, S. 116 (https://www.academia.edu/19097039/Jews_and_the_Irish_Nationalist_Imagination_Between_Philosemitism_and_Antisemitism_Journal_of_Jewish_Studies_Vol_68_No_1_2017_).
  17. Reginald F. Christian, Lew Tolstoi: Tolstoy’s Diaries Volume 2: 1895–1910. Faber & Faber, 2015-02-19, ISBN 978-0-571-32406-4.
  18. Lew Tolstoi: Tolstoy on Shakespeare: A Critical Essay on Shakespeare. Funk & Wagnalls Company, 1906.
  19. Israel Zangwill: From the Ghetto to the Melting Pot: Israel Zangwill’s Jewish Plays: Three Playscripts. Wayne State University Press, 2006, ISBN 978-0-8143-2955-9.
  20. Michael Weingrad: Drawing Conclusions: Joann Sfar and the Jews of France. In: Jewish Review of Books. 9. September 2015, abgerufen am 6. November 2023 (en-US).
  21. Staged reading of play by Max Sparber: Kishinev. In: MeFi Events. 3. Dezember 2014, abgerufen am 6. November 2023 (english).
  22. Aleksandar Hemon: The Lazarus project. Riverhead Books, New York City 2008, ISBN 9781594489884.
  23. Chisinau. Monument to Pogrom Victims. In: JewishMemory. 2016-04-24 (https://jewishmemory.md/en/chisinau-monument-to-pogrom-victims/).
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