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Herkunftssage
Herkunftssage oder Ursprungsmythos bezeichnet eine Erzählung, mittels derer sich Einzelpersonen oder Familiengruppen, Clans oder Volksstämme an (sagenhafte) berühmte Vorfahren oder ganze Völker als deren vermeintliche Nachkommen oder Seitenlinien anschließen. Dafür werden umfangreiche Stammbäume entworfen oder übernommen („fiktive Genealogie“).[1] Soziale Gruppen konstruieren eine solche mythische Abstammung, um ihr Wir-Gefühl und ihren kulturellen Zusammenhalt zu stärken und sich anderen Gruppen und Kulturen gegenüber abzugrenzen und hervorzuheben. Die Geschichtswissenschaft und die Völkerkunde bezeichnen dieses Anhängen als Ansippung an eine andere Sippe. Die identitätsstiftenden Erzählungen können die Form einer Sage, einer Legende oder eines Mythos haben oder ein literarisches Motiv sein, auch einige ätiologische Legenden gehören dazu (Erklärungssagen).
Bekannte Beispiele sind die Vätergeschichte über Abraham und seine Nachkommen im 1. Buch Mose, die Herkunftslegende der Römer von den Trojanern (laut Vergils Aeneis), oder der Gründungsmythos der antiken griechischen Stadt Athen, das sich von der Göttin Athene herleitete. Als Einzelperson führte der römische Feldherr Julius Caesar seine Ahnenliste bis zur Göttin Venus zurück, als seiner Stammmutter durch ihren frei erfundenen Enkel Iulus.
Politische Mythen und Kontinuitätstheorien folgen oft vergleichbaren Mustern, beispielsweise im Nationalismus des 19. Jahrhunderts die Ableitung der „Herkunft“ der Deutschen, der Ungarn, der Griechen und anderer Völker. Solche Ideologien beziehen sich auf stimmige, jedoch nur teilhafte geschichtliche oder sprachwissenschaftliche Erkenntnisse und sind gekennzeichnet durch einen Absolutheitsanspruch bei gleichzeitiger „Immunisierung“ (nach Karl Popper) gegen widersprechende Forschungsergebnisse.
Geschichtliche Beispiele
- In der Antike war es üblich, sich Völker und Gruppen aus der Sagenwelt als Ahnen zu wählen, um sich auf eine ältere Vergangenheit zu berufen, als es der Wirklichkeit entsprach, ohne deshalb mit einem tatsächlichen geschichtlichen Volk in Konflikt zu geraten. Zahlreiche Origines wurden als Herkunftsgeschichten antiker oder mittelalterlicher Sippen (gens) verfasst (siehe Historische Funktion der Origines gentis). Verschiedene germanische Volksstämme wie die Goten, Langobarden, Angelsachsen und Franken konstruierten eigene Herkunftssagen, die anfangs mündlich überliefert und später schriftlich niedergelegt und mit Elementen antiken Bildungsguts angereichert wurden (siehe Herkunftssagen europäischer Völker und Deutsche Nationalmythen).
- Um die Abstammung des Jesus von Nazaret vom israelitischen König David zu behaupten (Ansippung), gestalteten das Lukas- und das Matthäus-Evangelium passende „Stammbäume Jesu“: strikt agnatische Stammlinien mit bis zu 73 Generationen in reiner Vater-Erbsohn-Abfolge. Die Absicht dieser Ahnenlisten war, Jesus als vom Gott JHWH selbst vorherbestimmten und voll erbberechtigten Angehörigen des ersterwählten Gottesvolks Israel zu verkünden, als Zielpunkt der ganzen biblischen Heilsgeschichte Israels und einzig möglichen Anwärter auf die Messiaswürde. Auch sollten damit Juden zur Annahme der christlichen Religion bewegt werden.
- Einige afghanische Stämme konstruierten nach ihrer Islamisierung vermeintlich jüdische oder arabische Stammbäume und wurden dadurch lange Zeit als arabisches Volk gesehen (siehe Paschtunische Herkunft).
Aktuelle politische Beispiele
- Auf dem Balkan mit seinen wechselnden und sehr umstrittenen politischen Grenzen gibt es zahlreiche konkurrierende Behauptungen mit hoher ideologische Sprengkraft. Im heutigen Griechenland wird die eigene Rückführung auf die antiken Hellenen (siehe Fallmerayers These) teilweise mit gegenwärtigen Ansprüchen verbunden und stößt auf Ansprüche konkurrierender Herkunftsbehauptungen. In Mazedonien wird gelegentlich die Legende einer Abstammung von den antiken Makedonen und ihrem berühmten König Alexander der Große gepflegt. In Bulgarien wird gerne eine Abstammung von den Thrakern behauptet. In Rumänien wurde vor 1990 eine kontinuierliche Abstammung von den Dakern konstruiert, eine teilweise bis heute aktuelle Debatte; diese dako-romanische Kontinuitätstheorie ist die bekannteste Kontinuitätstheorie, die bis heute in Europa vertreten wird.
- Vergleichbare Konflikte bestehen auf Grund einander ausschließender Herkunftssagen von Türken und Kurden. Die türkischen Seldschuken oder Oghusen konstruierten einerseits eine Abstammung des Oghusen-Vaters Oghuz Khan in direkter Linie vom biblischen Noah,[2] während andererseits die jungtürkische Bewegung im Panturanismus gemeintürkische Ansprüche (damals) auf Chiwa und die Bucharei erhoben und die Kurden zu „Bergtürken“ erklärten. Noch heute dehnen Nationalisten den türkischen Siedlungsraum unter Berufung auf die Ergenekon-Legende bis zum heute chinesischen Xinjiang aus. Die dadurch vereinnahmten Völker wie Aserbaidschaner oder Usbeken sind aber immerhin miteinander verwandt.
- Saddam Hussein, früherer Führer des Irak, ließ 1981 seinen Familienstammbaum auf eine Verwandtschaft sowohl mit den Abbasiden-Kalifen als auch mit Imam Ali (Cousin und Schwiegersohn des Propheten Mohammed) und dem Sultan Saladin umschreiben. Unter seiner Herrschaft wurde eine Kontinuität des Irak zum antiken Mesopotamien beschworen, er sah sich als tatsächlicher Nachfolger des Nebukadnezar II. (605–562 v. Chr., König von Babylon) und des neubabylonischen Reiches.
- Zwei der fünf großen Clanfamilien der nordafrikanischen Somali, die Isaaq und die Darod, führen sich noch heute mythologisch auf einen arabischen Scheich Isaaq als Stammvater zurück, der ein Nachfahre eines Schwiegersohns des Propheten Mohammed gewesen sein soll: Eine Widerspiegelung des tatsächlichen kulturellen Einflusses aus Arabien und der Bedeutung der islamischen Religion für die Somali.
Verwandte Themen
- Allgemein
- Kollektives Gedächtnis · Kulturelles Gedächtnis · Mythomotorik (kollektiv handlungsleitende Wirkung von Mythen) · Erinnerungskultur
- Herkunft
- Origo gentis (antike Sippenherkunftssagen) · Mythische Stammmütter · Herkunftssagen europäischer Völker · Geschichtsmythos
- Gründung
- Gründungsmythos · Eponymer Heros (mythischer Gründer) · Amazonen als Stadtgründerinnen
- Ursprung
- Ätiologie (Erklärungssage) · Theogonie (Entstehung der Götter) · Orphische Theogonie · Kosmogonie (Entstehung der Welt) · Afrikanische Kosmogonie
- Politik
- Politischer Mythos · Kontinuitätstheorie · Nationalepos · Deutsche Nationalmythen · Nationale Mythen der Schweiz · Nationalgeschichte · Nationalgefühl · Geschichtspolitik
Weblinks
- Klaus Graf: Ursprung und Herkommen. Funktionen vormoderner Gründungserzählungen. In: Archiv: Mediaevistik. 8. März 2000, abgerufen am 8. April 2014 (Referat über Identitätsstiftung durch Ursprungserzählungen auf der 3. Jahrestagung des SFB 541 „Identitäten und Alteritäten“ an der Uni Freiburg 2000).
Einzelnachweise
- ↑ Charlotte Seymour-Smith: Dictionary of Anthropology. Hall, Boston 1986, ISBN 0-8161-8817-3, S. 130: „Genealogical fiction: A phenomenon related to Genealogical Amnesia, whereby genealogies may be adjusted to suit better the requirements of the present-day social and kinship structure or the interests of the person or group concerned. Actual genealogical ties may be forgotten or suppressed and new ones substituted. This process of readjustment or reconstruction of genealogies reveals aspects of the interplay between the »ideal models« or kinship structure and the realities of relationships between persons and groups. (See Descent: Lineage Theory)“.
- ↑ Vergleiche Jacques Benoist-Méchin, Eric Baschet (Hrsg.): Die Türkei 1908–1938. Das Ende des Osmanischen Reiches. Eine historische Foto-Reportage. Swan, Kehl 1980, ISBN 3-89434-004-5.
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