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Private Waldschule Kaliski
Die Private Waldschule Kaliski war ein konfessionell ungebundenes, reformpädagogisch orientiertes, privates Tagesinternat (Ganztagsschule) für Mädchen und Jungen im Sinne der damals noch modernen Koedukation, das am 7. April 1932 in der Siedlung Eichkamp in Berlin-Westend gegründet wurde. Es zog schon 1933 nach Berlin-Grunewald und wurde 1936 nach Berlin-Dahlem verlegt. Seinen Namen erhielt es nach seiner Gründerin und Betreiberin Lotte Kaliski (1908–1995).
Geschichte
„Raus aus der Stadt – Lernen in der freien Natur, mit viel Bewegung und Sport.“ So lautete ein reformpädagogischer Ansatz der 1920er Jahre, der insbesondere so mancher privaten Schule den Kurs vorgab. Sie nannten sich folgerichtig „Waldschule“, um dies kenntlich zu machen.[1] Der Gründerin, der jungen Breslauer Mathematik- und Physik-Lehrerin Lotte Kaliski, bot dieser Ansatz eine berufliche Perspektive. Sie hätte wegen ihrer durch Kinderlähmung bedingten Gehbehinderung zur damaligen Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Anstellung an öffentlichen (staatlichen) Schulen gefunden.[2]
Ein Unterricht im Freien, geringe Klassengrößen für eine individuelle Betreuung, körperliche Betätigung inklusive Gartenpflege und die Lage in Waldnähe erschienen vielen Schülern und Eltern als attraktive Alternative zu einer staatlichen Schule im Häusermeer der Reichshauptstadt.
Westend, Eichkamp (SCC)
Die noch in der Weimarer Republik in kleinerem Rahmen mit 26 Schülern gestartete Private Waldschule Kaliski wurde quasi im letzten Moment gegründet. Schon im darauffolgenden Jahr wäre dies nicht mehr gelungen. Die Eigenwilligkeit und der Mut von Lotte Kaliski hatte dies ermöglicht, aber auch die Durchsetzungsfähigkeit und das Verhandlungsgeschick ihres Compagnons Heinrich Selver gegenüber den Behörden und deren vielen Dienststellen. Paul Jacob wiederum war zusammen mit einigen seiner Kollegen der soziale und emotionale Anker des Schulteams und galt den Schülern nicht zuletzt deshalb als wohl beliebtester aller Lehrer.[3]
Die noch kleine Schule durfte in den angemieteten Räumen des Sportclubs Charlottenburg im Eichkamp des Westends nicht lange unterrichten. Die Stadt Berlin kündigte 1933 der Waldschule Kaliski, um die von ihr genutzten Räume für das Theodor-Mommsen-Gymnasium zu nutzen.[4]
Grunewald, Bismarckallee 35/37
Die von den Schülern so genannte "PriWaKi" zog aus diesem Grund notgedrungen und kurzfristig zum Oktober 1933 in die Bismarckallee 35/37 nach Berlin-Grunewald um, in die Villa der 1931 emigrierten jüdischen Kaufmannsfamilie Hartog Frank, direkt gegenüber der Grunewaldkirche.[5] Villa und Grundstück waren von vornherein für Schulzwecke knapp bemessen, nur 270 Quadratmeter Wohnfläche hatte die Villa zu bieten. Für die Schüler hatte dies gegenüber den Verhältnissen im Eichkamp erhebliche Beschränkungen ihrer bis dahin großen Freiheiten zur Folge.[6]
Zu dieser Zeit bestand die Schülerschaft zu etwa fünfzig Prozent aus Kindern jüdischer Eltern, zu etwa fünfundzwanzig Prozent aus Kindern mit einem jüdischen Elternteil (in Nazi-Diktion war das Kind in diesen Fällen ein "jüdischer Mischling 1. Grades") und zu weiteren rund fünfundzwanzig Prozent aus Kindern mit nichtjüdischen Eltern.[7]
Durch die 1. Verordnung zum Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 25. April 1933 wurde die Zahl der Neuaufnahmen jüdischer Schüler an höheren Schulen (und Hochschulen) limitiert. Jüdische Schüler und Lehrkräfte wurden an den staatlichen Schulen generell ausgegrenzt, wodurch insbesondere Schulanfänger und jüngere Schüler stark betroffen waren, denn sie konnten dem für sie unbegreiflichen Geschehen noch nichts entgegensetzen. Eltern versuchten daher, ihre Kinder vor derart traumatischen Erfahrungen zu schützen, indem sie sie auf jüdische Schulen schickten, von denen es jedoch zunächst nicht genug gab bzw. deren Kapazität zunächst nicht ausreichte.
Die von den Nationalsozialisten als „arisch“ klassifizierten Schüler mussten die Schule auf Anordnung der Schulbehörde bis Ostern 1934 verlassen und sich in staatlichen Schulen anmelden. Die Schule musste aufgrund ihrer jüdischen Betreiberin als Private Jüdische Waldschule Kaliski neu firmieren und durfte demgemäß nur noch Schüler und Lehrer jüdischer Herkunft aufnehmen bzw. beschäftigen.[8][9] Ende 1934 wurden rund 100 Schüler an der Waldschule Kaliski unterrichtet.[10]
Die Unterrichtsinhalte veränderten sich, um den Anfeindungen von außen, denen die Schüler täglich ausgesetzt waren, ein identitätsstiftendes Element entgegensetzen zu können. Die zumeist aus säkularen oder zum Christentum konvertierten Familien stammenden deutschen Schüler jüdischer Herkunft sollten sich nun mit dem Judentum und jüdischen Festen auseinandersetzen. Der erhaltene Stundenplan einer Obertertia (Jahrgangsstufe 9) der Waldschule Kaliski von 1938 zeigt eine sehr ausgefüllte Unterrichtswoche der etwa 14–15jährigen Schüler von morgens 8:15 Uhr bis abends 18:00 Uhr, mit Mittags- und Kaffeepausen. Nur der Samstagnachmittag und der Sonntag waren frei.[11]
Vor dem Hintergrund einer möglichen Emigration der Schüler und ihrer Familien wurde später das Fach Palästinakunde eingeführt. Der Spracherwerb gewann an Bedeutung, Englisch und Hebräisch standen jetzt im Fokus, aber auch der Erwerb praktischer Alltagsfähigkeiten rund um die Haushaltsführung. [12][13]
Dahlem, Im Dol 2–6
1936 erfolgte ein weiterer Umzug der Waldschule Kaliski nach Berlin-Dahlem, in die Straße Im Dol 2–6.[14] Auslöser für diesen letzten Umzug war der ab 1934 zunehmend aktive Widerstand „arischer“ Grundstücksnachbarn gegen die „Judenschule“. Die deshalb und wegen der weitaus größeren Nutzfläche neu angemietete großbürgerliche Villa Im Dol 2–6 stand gerade leer, ihre jüdischen Besitzer, ein Ehepaar Valentin, waren bereits ins Ausland emigriert. Die Waldschule entwickelte sich im Dritten Reich zu einem Schutzraum in einer als zunehmend feindlich empfundenen Umwelt.[15] Dabei half das relativ abgeschirmte Ambiente: Hohe Bäume und dichte Büsche charakterisierten den weitläufigen Garten, es gab sogar ein Schwimmbecken darin. 1938 besuchten mehr als 400 Schüler die Waldschule Kaliski.[16]
Lotte Kaliski gelang im Spätsommer 1938 die Emigration in die Vereinigten Staaten. Sie hat Deutschland bis zu ihrem Tod nie mehr besucht. Ihr Vater Max Kaliski wurde von den Nazis deportiert und kam am 1. September 1942 im Ghetto Theresienstadt um.[17][18][19][20]
In der Pogromnacht vom 9. November 1938 blieb die Schule von nationalsozialistischen Übergriffen verschont.
Einem Runderlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, vom 15. November 1938 zufolge wurden sämtliche jüdischen Schüler infolge des Pogroms von den staatlichen Schulen verwiesen. Dadurch stieg die Schülerzahl der Privaten Jüdischen Waldschule Kaliski noch einmal an, auf bis zu 600 Schüler.
Im März 1939 musste die Schule auf Anordnung der Nationalsozialisten schließen. Unmittelbar darauf übernahm das Auswärtige Amt das Schulgelände.[21]
Auf dem ehemaligen Schulgelände Im Dol 2–6 richtete das Auswärtige Amt unter Minister Joachim von Ribbentrop zwischen 1939 und 1945 seine Nachrichtenzentrale mit Sende- und Empfangsstationen sowie Neubauten für »Sonderaufgaben« ein, darunter eine Chiffrier- und Dechiffrierstation.[22]
Irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg zog das Klinikum Steglitz der Freien Universität Berlin mit seiner Außenstelle Logopädie ein, wusste von der nachrichtendienstlichen NS-Vergangenheit des Geländes, deren Spuren noch heute sichtbar sind. Nur von der Waldschule war zu diesem Zeitpunkt längst nichts mehr erkennbar.
Heute ist die Adresse Sitz der Eurasien-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts. Als Bundesanstalt ist deren oberster Dienstherr das Auswärtige Amt. Eigentümerin der Liegenschaft ist die Bundesagentur für Immobilienangelegenheiten (BIMA), in Nachfolge der per 1. Januar 2005 aufgelösten Oberfinanzdirektion Berlin.[23]
Auf dem ehemaligen Schulgelände Bismarckallee 35/37 befindet sich heute der Neubaukomplex einer Einrichtung der Seniorenpflege.
Gedenktafel
Am 18. April 2001 wurde am Grundstück Im Dol 2–6 in Berlin-Dahlem in Anwesenheit ehemaliger Schüler eine privat initiierte und finanzierte Gedenktafel enthüllt. Ihr Text lautet: „Auf diesem Grundstück befand sich von 1936 bis 1939 die private jüdische Waldschule Kaliski. Ausgeschlossen aus den öffentlichen Schulen, fanden hier viele jüdische Schüler und Lehrer eine letzte Möglichkeit zu lernen und zu lehren. Im März 1939 musste die Schule zwangsweise schließen. Schüler und Lehrer flüchteten in alle Teile der Welt. 39 Schüler wurden Opfer der Shoah.“[24][25]
Bekannte Schüler
- Werner Michael Blumenthal, US-Finanzminister, Direktor Jüdisches Museum Berlin
- Herbert Samuel (später: Shmuel) Kneller, Direktor der Hebrew University High School in Jerusalem[26]
- Peter Landsberg, Physiker und Mathematiker
Schulleiter
- 1932 – Juni 1938 Heinrich Selver (geboren als Hersch Laib Zelwer * 1901 in Blaszki; † September 1957 in Paris)
- Juli 1938 – März 1939 Paul Abraham Jacob (* 1893 in Berlin, † 1965 in Israel)[27]
Literatur
- Michael Daxner: Die Private Jüdische Waldschule Kaliski in Berlin, 1932–1939. In: Arnold Paucker / Sylvia Gilchrist / Barbara Suchy: Die Juden im nationalsozialistischen Deutschland. Mohr Siebeck, Tübingen 1986. ISBN 3-16-745103-3
- Hertha Luise Busemann / Michael Daxner / Werner Fölling: Insel der Geborgenheit. Die Private Waldschule Kaliski. Berlin 1932 bis 1939. Metzler, Stuttgart 1992. ISBN 978-3476008459
- Werner Fölling: Zwischen deutscher und jüdischer Identität. Springer Fachmedien, Wiesbaden 1995. S. 99–136. ISBN 978-3-8100-1269-2
Filme
- Ingrid Oppermann: Eine Villa in Dahlem – Auf den Spuren der Jüdischen Waldschule Kaliski, Länge: 60 Minuten, Produktion: Sender Freies Berlin, 1999
- Ingrid Oppermann: Klassentreffen – eine jüdische Reformschule im Dritten Reich
Einzelnachweise
- ↑ Foto: Schulaufnäher Waldschule Kaliski (WK) für das Trikot beim Schulsport auf: jmberlin.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Werner Fölling: Zwischen deutscher und jüdischer Identität. S. 99/100
- ↑ Werner Fölling: Zwischen deutscher und jüdischer Identität. S. 191/192
- ↑ Werner Fölling: Zwischen deutscher und jüdischer Identität. S. 105/106
- ↑ Lotte-Kaliski-Schule In: Berliner Bezirkslexikon Charlottenburg-Wilmersdorf, auf: luise-berlin.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Werner Fölling: Zwischen deutscher und jüdischer Identität. S. 106
- ↑ Werner Fölling: Zwischen deutscher und jüdischer Identität. S. 103
- ↑ Kiezspaziergang 9. November 2002 – Vom Roseneck zum Hagenplatz, auf: berlin.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Kiezspaziergang 13. November 2004 – Vom Roseneck zum Hagenplatz, auf: berlin.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Werner Fölling: Zwischen deutscher und jüdischer Identität. S. 111
- ↑ Foto: Stundenplan Obertertia 1938, Waldschule Kaliski auf: jmberlin.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Schulalltag nach 1933. Kreuzzug gegen Kinder, auf: swr.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Jugend 1918–1945. Jüdische Jugend, auf: jugend1918-1945.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Foto (1938): Schulgebäude Im Dol 2–6, Berlin-Dahlem, auf: jmberlin.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Ein sicherer Ort In: Die Zeit, 7. Mai 1993, auf: zeit.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Hochbegabt trotz Handicap In: Jüdische Allgemeine, 16. März 2006, auf: juedische-allgemeine.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Todesfallanzeige Max Kaliski, Ghetto Theresienstadt auf: holocaust.cz, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Gedenktafel Waldschule Kaliski auf: gedenktafeln-in-berlin.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Werner Fölling: Zwischen deutscher und jüdischer Identität. S. 188
- ↑ Berliner jüdische Schulgeschichte: Die Kaliski-Schule auf: berlin-judentum.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Waldschule Kaliski: Erinnerung an eine Zuflucht In: Der Tagesspiegel, 18. April 2001, auf: tagesspiegel.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Die vergessene jüdische Waldschule In: Berliner Zeitung, 16. Juni 2000, auf: berliner-zeitung.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Auflösung der Berliner Oberfinanzdirektion Pressemitteilung vom 23. November 2004, auf: berlin.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Waldschule Kaliski: Erinnerung an eine Zuflucht In: Der Tagesspiegel, 18. April 2001, auf: tagesspiegel.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Foto: Gedenktafel Waldschule Kaliski auf: gedenktafeln-in-berlin.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Herbert Samuel Kneller auf: berlin.de, abgerufen am 20. Juli 2015
- ↑ Werner Fölling: Zwischen deutscher und jüdischer Identität. S. 189/190
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