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Urgesellschaft
Als Urgesellschaft wird allgemein das „ursprüngliche“ Zusammenleben der Menschen in vorgeschichtlicher Zeit bezeichnet, bevor die ersten schriftlichen Überlieferungen entstanden. Dabei kann unterschieden werden zwischen der Gattung des Homo sapiens als Menschen, die sich biologisch und intellektuell kaum vom heutigen Menschen unterschieden (wenngleich die Anthropologie hier Zweifel anmeldet), und anderen Vertretern der Gattung Homo wie dem Homo erectus oder dem Neandertaler.
Im Einzelnen ist diese lange Zeitperiode quellenmäßig nicht direkt erschließbar. Dennoch gibt es in der Archäologie durch die Erschließung alter materieller Kulturen verschiedene Möglichkeiten, Wissen über diesen Zeitraum zu erlangen, ebenso in der Soziobiologie der Phylogenese, in den Religionswissenschaften durch die Analyse der vielen Mythen über ein „Goldenes Zeitalter“ oder in der Sozialanthropologie und der Philosophie im Rahmen der „Philosophischen Anthropologie“.
Dauer
Die Urgesellschaft, oder angemessener: die Urgesellschaften umspannen in der bisherigen Geschichte der Menschheit den bei weitem längsten Zeitraum, mehr als drei Millionen Jahre, während andere Gesellschaftsformen im Vergleich dazu nur eine relativ kurze Zeitspanne bestanden und bestehen (weniger als 1 Prozent des Zeitraums).
Aus der Archäologie stammt der Begriff „Steinzeit“ für die Zeit der Urgesellschaften, weil Steinwerkzeuge (Faustkeile) die ältesten zeitlich einordbaren und grob datierbaren Funde sind. Andere, gar ältere Werkzeuge und Gegenstände aus Natur- oder Tiermaterialien (Holz, Knochen, Fellen) zerfielen und blieben nicht erhalten. In diese Steinzeit fällt noch die Entwicklung nicht mehr urgesellschaftlicher Sozialstrukturen vor rund 20.000 bis 6.000 Jahren. Allgemein wird das Aufkommen von Ackerbau und Viehhaltung als Übergang zur Jungsteinzeit und als Ende der Urgesellschaft betrachtet. Die so genannte „Neolithische Revolution“ lag lange vor der „Bronzezeit“ (rund 2200 bis 800 v. Chr.).
Theoretische Annahmen
Die „Gesellschaftlichkeit“ bildete sich durch gemeinschaftlich handelnde soziale Gruppen unterschiedlicher Größe. Zu erdgeschichtlich verschiedenen Zeiten sowie in unterschiedlichen Klima- und Ökozonen waren die Urgesellschaften durchaus unterschiedlich ausgeprägt. Allgemein wird die Behauptung (vor allem des Marxismus) abgelehnt, dass es nur eine überall gültige Form der Urgesellschaft gegeben habe (Urkommunismus).
Die nur allmählichen Ausbreitungen der frühen Menschengruppen (geschätzte 1 bis 10 Kilometer pro Jahr) stellten keine Anforderungen an sie und ihre Generationenfolge – sie nahmen keine Veränderungen wahr, besonders in äquatorialen Gegenden. Allerdings bewirkten einschneidende Umweltveränderungen wie Eis- und Warmzeiten, denen die Wanderer im Zielgebiet ausgesetzt wurden, neue Formen der Anpassung mit entsprechenden sozialen Strukturen. Nahrungsgewinnung und Witterungsschutz sowie die Anwendung des Feuers waren sozial erfolgreich. Eine hohe soziale Differenzierung urgesellschaftlicher Organisationsformen ist aber nicht vorauszusetzen. Die ersten fassbaren Gesellschaften sowie ähnliche gegenwärtige Gruppen erscheinen relativ gleichgestellt (egalitär).
Die Isoliertheit der Eiszeiten führte zu Traditionen und auch zu rassischen Merkmalen. Die vergleichsweise seltenen Kontakte wurden von einer fußläufigen, insgesamt stationären Gesellschaft im nächsten Umkreis gefunden. Ob die Exogamie (Außenheirat) darauf hindeutet, dass den Menschen die Fortpflanzungsbiologie bewusst wurde (Zeugung), wird bezweifelt; Exogamie wird soziologisch eher als sich bewährende Sicherung der (Re-)Integration auseinanderstrebender Gruppierungen angesehen (beispielsweise bei Lineage- oder Clan-Allianzen mit gegenseitigen Eheschließungen).
Religiöse Überlieferungen sprechen von einer Urgesellschaft und meinen damit die über alle Jägergruppierungen verbreiteten Vorformen späterer Religionen, die sich aus der gesellschaftlichen Praxis ihrer Mitglieder ableiten. In den Schriftkulturen wird die bis heute bestehende Unterscheidung zwischen dem Hirten und dem Bauern erkennbar, beispielsweise in der biblischen Geschichte von Kain und Abel. Noch in neuzeitlichen makrosoziologischen Theorien bestehen ausgefeilte Annahmen zu gemeinsamen Zügen einer Urgesellschaft, etwa bei Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau oder Friedrich Engels.
Ob die frühen Menschen in politischer Hinsicht herrschaftsfrei oder anarchisch waren oder schon gefestigte Führungspositionen ausbildeten (Häuptlinge), ist jeweils nur eine begründbare Annahme. Ebenfalls ob sie sich als soziale Horden organisierten, religiöse Kulte pflegten (mit Ahnenkult oder Totemismus?) und kulturell schon Erzähler oder familiär schon die Kernfamilie kannten. Wirtschaftlich wird dieser Gesellschaft eine auf je nach erdgeschichtlicher Zeit oder Vegetationszone unterschiedliche Selbstversorgung zugeschrieben (Subsistenzwirtschaft): ein Leben als Jäger, Fischer und Sammler (Wildbeuter). Während der Eiszeit lag deren Schwerpunkt beispielsweise in Mitteleuropa und Nordamerika auf der Jagd, während anderswo auch Sammeln und Fischfang große Bedeutung erlangten, so in Mitteleuropa nach dem Abwandern der Großtierfauna in der Mittelsteinzeit (vergleiche skandinavische Køkkenmøddinger).
In der marxistischen Theorie über die gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit, insbesondere im historischen Materialismus, wird diese Urgesellschaft auch als klassenloser „Urkommunismus“ bezeichnet, weil es ebenso wie in dem auf den Kapitalismus folgenden „Kommunismus“ kein Geld gab und kein Privateigentum an gesellschaftlichen Produktionsmitteln (Werkzeugen und Produktionsstätten).
Siehe auch
- Lewis Henry Morgan: Die Urgesellschaft (Ancient Society, USA 1877)
Literatur
- Dieter Claessens: Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie. Suhrkamp, Frankfurt 1993, ISBN 3-518-28708-7.
- Friedrich Engels: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. SAV, Berlin 2009 (original: 1876).
- Lewis Henry Morgan: Die Urgesellschaft oder Untersuchung über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation. 1891 (Nachdruck: Achenbach, Lahn 1979; US-Original 1877: Ancient Society, Or: Researches in the lines of human progress from savagery through barbarism to civilisation).
- Hansjürgen Müller-Beck: Die Steinzeit. Der Weg der Menschen in die Geschichte. 4., durchgesehene und aktualisierte Ausgabe. Beck, München 2004, ISBN 978-3-406-47719-5.
- Joachim Herrmann, Irmgard Sellnow (Hrsg.): Produktivkräfte und Gesellschaftsformationen in vorkapitalistischer Zeit. Akademie, Berlin 1982 (= Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR. Band 12).
Weblinks
- Wolfgang Currlin: Steinzeit. In: Geschichtszentrum – Lernumgebung für webbasierten Präsenzunterricht. Friedrichshafen, 13. Februar 2013, abgerufen am 21. April 2014 (mehrteiliges Tutorial).
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