Jewiki unterstützen. Jewiki, die größte Online-Enzyklopädie zum Judentum.
Helfen Sie Jewiki mit einer kleinen oder auch größeren Spende. Einmalig oder regelmäßig, damit die Zukunft von Jewiki gesichert bleibt ... Vielen Dank für Ihr Engagement! (→ Spendenkonten) |
How to read Jewiki in your desired language · Comment lire Jewiki dans votre langue préférée · Cómo leer Jewiki en su idioma preferido · בשפה הרצויה Jewiki כיצד לקרוא · Как читать Jewiki на предпочитаемом вами языке · كيف تقرأ Jewiki باللغة التي تريدها · Como ler o Jewiki na sua língua preferida |
Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz
Das Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz ist eine österreichische Gedenkstätte für Deserteure des NS-Regimes und befindet sich am Ballhausplatz im 1. Wiener Gemeindebezirk Innere Stadt. Die Errichtung wurde vom ehemaligen Deserteur Richard Wadani und dem Personenkomitee Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz angeregt. Umgesetzt wurde ein Entwurf des deutschen Konzeptkünstlers Olaf Nicolai nach einem Gedicht des schottischen Schriftstellers Ian Hamilton Finlay. Am 24. Oktober 2014 wurde das Mahnmal von Bundespräsident Heinz Fischer der Öffentlichkeit übergeben.[1]
Denkmalsetzerin ist die Stadt Wien.
Deserteure, „Wehrkraftzersetzer“, Kriegsdienstverweigerer
Die nationalsozialistische Militärjustiz verhängte während des Zweiten Weltkrieges mehr als 30.000 Todesurteile, die meisten gegen Deserteure, Selbstverstümmeler, sogenannte „Wehrkraftzersetzer“ und Kriegsdienstverweigerer. Mehr als die Hälfte dieser Urteile wurden auch tatsächlich vollstreckt, rund 1.500 davon betrafen Österreicher. Hitler diktierte: „An der Front kann man sterben, als Deserteur muß man sterben!“
„Es waren nicht die Schlechtesten, sondern oft sogar die Besten, die sich dem Dienst in der Deutschen Wehrmacht entzogen haben: [Dazu gehörten] der Dichter H. C. Artmann, der Komponist Friedrich Cerha, der Schauspieler und TV-Moderator Dietmar Schönherr und der Schauspieler Oskar Werner.“
Zu weiteren namhaften österreichischen Deserteuren, die das NS-Regime überlebten, zählen die Schriftsteller Michael Guttenbrunner und Hans Lebert, der ÖVP-Politiker Otto Keimel, der Verleger Fritz Molden, der Schauspieler Fritz Muliar, der Maler Hugo-Damian Schönborn und der spätere Bankdirektor Heinrich Treichl.[2][3] Von der politischen Rechten wird Deserteuren Feigheit vor dem Feind vorgeworfen, Christa Zöchling vom Profil kam nach Recherchen für das Nachrichtenmagazin zum gegenteiligen Schluss: „Wären Deserteure „feige“ gewesen, wären sie geblieben. Ihre Überlebenschance war nicht groß. Und jeder von ihnen kämpfte sein Leben lang mit seinen traumatischen Erinnerungen.“[3] Zu den Opfern der NS-Militärjustiz zählen auch die Kriegsdienstverweigerer, deren prominentestes Beispiel Franz Jägerstätter im August 1943 vom NS-Regime durch das Fallbeil hingerichtet und im Jahr 2007 von der Römisch-katholischen Kirche in Linz selig gesprochen wurde.
Entstehung
Im Jahr 1990 führte eine Gruppe um die damalige Grüne Bezirksrätin in der Leopoldstadt, Friedrun Huemer, eine Aktion für die Deserteure der Wehrmacht in Wien durch. Wesentlichen Anteil an der Durchsetzung der legistischen Anerkennung der Deserteure und am Entschluss für ein Denkmal hatte der ehemalige Deserteur Richard Wadani, der dafür im Jahr 2002 das Personenkomitee »Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz« gründete, welches 2008 als Verein konstituiert wurde. Den Durchbruch erzielte Wadani 2009, als sich die damalige Nationalratspräsidentin Barbara Prammer dieser Sache annahm und im Oktober desselben Jahres ein Gesetzesentwurf von SPÖ, ÖVP und Grünen vorgestellt wurde.[4][5] Am 21. Oktober 2009 beschloss der österreichische Nationalrat mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP und Grünen die Rehabilitation aller Opfer der Verfolgung durch die Wehrmachtsgerichte, 2010 einigte sich die neue Rot-grüne Koalition in Wien in ihrem Regierungsabkommen auf die Errichtung eines Mahnmals zum Gedenken an die Deserteure.
Die Aufhebung der Urteile gegen Deserteure erfolgte in Österreich später als in der Bundesrepublik Deutschland, wo die Aufhebung der Unrechtsurteile bereits im Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998 erfolgte.
Personenkomitee
Unmittelbar nach der Verabschiedung des Rehabilitationsgesetzes im Jahr 2009 begann das Personenkomitee Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz mit der Lobby-Arbeit für ein Denkmal an zentraler Stelle in Wien. Dafür konnte das Personenkomitee eine Reihe namhafter Persönlichkeiten aus Politik, Kunst und Kultur, sowie der österreichischen Zivilgesellschaft gewinnen, darunter: der Literaturwissenschaftler Klaus Amann, die Widerstandsforscher Brigitte Bailer, Walter Manoschek und Wolfgang Neugebauer, die Rektorin Eva Blimlinger, Bischof Michael Bünker, Verteidigungsminister Norbert Darabos, die Grünen-Politiker David Ellensohn, Eva Glawischnig und Albert Steinhauser, der Pädagoge Peter Gstettner, der Kabarettist Josef Hader, die Journalistin Elfriede Hammerl, André Heller, die Menschenrechtsaktivistin Friedrun Huemer, der Richter Clemens Jabloner, die SPÖ-Vertreter Johannes Jarolim und Albrecht Konecny, die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, der Militärhistoriker Manfred Messerschmidt, die ÖVP-Politiker Andreas Khol und Fritz Neugebauer, der Liberale Volker Kier, der Strafrechtler Reinhard Moos, der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Ariel Muzicant, der Politikwissenschaftler Anton Pelinka, die Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, der Schriftsteller Doron Rabinovici, die Leiterin der Nationalbibliothek Johanna Rachinger, der Zeitgeschichtler Oliver Rathkolb, der Metropolit der Wiener Kirchenprovinz Christoph Kardinal Schönborn, der Schauspieler Otto Tausig, sowie Andreas Wabl.
Wettbewerb
Die Kosten für das Denkmal wurden mit 200.000 Euro budgetiert, die zur Gänze vom Kulturamt der Stadt Wien übernommen wurden.[6] Die Organisation von Ausschreibung und Realisierung des Denkmals wurde der Institution Kunst im öffentlichen Raum Wien übertragen. Der Wettbewerb wurde als einstufiges, geladenes Verfahren durchgeführt. Der Vorsitz der Jury oblag dem Architekten Martin Kohlbauer, der Jury gehörten u.a. an die Künstlerin Anna Jermolaeva, die Kuratorin Lilli Hollein, der Kunsthistoriker Dirk Luckow, der Historiker Peter Pirker und die Historikerin Heidemarie Uhl. Neben dem Sieger Nicolai nahmen sieben weitere Projekte teil: der deutsch-uruguayanische Künstler Luis Camnitzer, das französische Kollektiv Claire Fontaine, die slowakisch-kanadische Documenta-Teilnehmerin Vera Frenkel, sowie aus Österreich das Duo Helmut und Johanna Kandl, Ernst Logar, die Preisträger des Kardinal-König-Kunstpreises 2007, Nicole Six/Paul Petritsch, und Heimo Zobernig. [7]
Skulptur
Das Denkmal stellt ein überdimensionales, liegendes X dar, ist in leicht bläulichem Beton gegossen und als begehbares bzw. erkletterbares Monument konzipiert. Vom Straßenniveau aus ist die Inschrift nicht zu entziffern. „Nach der Projektbeschreibung ist das X ein "Zeichen der Anonymisierung, der der Einzelne unterworfen ist und die ihn zum Zeichen in einer Liste, zum X" in einem Akt werden lasse. Andererseits sei das X auch ein "Statement selbstbewusster Setzung". Man möge dabei an den schwarzen Bürgerrechtler Malcolm X denken.“[8] Olaf Nicolai „greift die klassischen Elemente eines Mahnmals „Sockel“ und „Inschrift“ auf, arrangiert diese aber völlig anders als traditionelle Kriegerdenkmäler.“[9] Der Sockel ist dreistufig, in dessen dritte Ebene ist die nur von oben lesbare Inschrift eingelassen.[1] Die Inschrift, bestehend aus den Worten „all“ und „alone“, beruht auf einem Gedicht des schottischen Künstlers Ian Hamilton Finlay (1925–2006), wo bei das Wort „alone“ nur einmal – an der Kreuzung der beiden Striche − wiedergegeben ist, das Wort „all“ hingegen 32mal. „Das Zusammenspiel von Sockel und Inschrift inszeniert die Situation des Einzelnen in und gegenüber gesellschaftlichen Ordnungs- und Machtverhältnissen.“[9]
„Die Entscheidung des Deserteurs, sich alleine zu stellen, sich außerhalb eines Gefüges, einer Gemeinschaft zu stellen, das erfordert einen ziemlichen persönlichen Mut. Ich selbst kenne aus meiner Biografie Situationen, wo ich erlebt habe, wie Menschen solche Entscheidungen getroffen haben.“
Die Intention des Künstlers entspricht somit dem Auftrag: „Die Skulptur erweist denjenigen Respekt, die eine eigene Entscheidung treffen, sich der Fremdbestimmung widersetzen und sich durch ihr eigenständiges Handeln gegen das geltende System stellen.“[9] „Die ursprüngliche Überlegung, das Denkmal blau zu lackieren, wurde wieder verworfen, stattdessen wurde die Farbe in den Beton gemischt. Das erinnert laut KÖR an ein „verwaschenes Jeansblau“, eine Farbe, mit der der Künstler den Romanhelden aus Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ assoziiert - ein Aussteiger, der sich verweigert.“[10]
Eröffnung
Mehrere hundert geladene Gäste sowie zahlreiche Interessierte versammelten sich am 24. Oktober 2014 am Ballhausplatz zur Eröffnungsfeier. Die zentralen Reden wurden von David Ellensohn, Klubobmann der Grünen in Wien, dem Deserteur (und Initiator von Gesetz und Denkmal) Richard Wadani, der Schriftstellerin Kathrin Röggla[11] und Kulturminister Josef Ostermayer (SPÖ) gehalten, bevor Bundespräsident Heinz Fischer die Eröffnung vornahm:
„Jeder soll wissen, dass es ehrenhaft ist, in der Auseinandersetzung mit einer brutalen und menschenverachtenden Diktatur seinem Gewissen zu folgen und auf der richtigen Seite zu stehen.“
David Ellensohn betonte: „Desertion ist immer eine Friedenstat.“ Michael Häupl stellte fest, dass sich nunmehr endlich durchgesetzt habe, dass Deserteure „Teil des antifaschistischen Widerstands“ seien. „Fast 70 Jahre hat es gedauert“,[12] fasste der Politikwissenschaftler Walter Manoschek in seiner Rede zusammen. „Ein Schatten bleibt, nur wenige Betroffene können diese umfassende Rehabilitierung heute noch erleben.“ Davor, dazwischen und danach gab es künstlerische Elemente – eine Tanzperformance von Mikael Marklund, Auszüge aus Friedrich Cerhas Spiegel VI (vom Band) sowie das Lied Sag Nein!, ein Auszug aus der Ode an den Deserteur von Frederic Rzewski nach Texten von Wolfgang Borchert und Kurt Tucholsky. Es sang der Chor Gegenstimmen.
Bei der Inauguration des Denkmals waren weitere Deserteure der Wehrmacht als Ehrengäste anwesend, darunter Friedrich Cerha, Josef Stachl und Paul Vodicka, Verteidigungs- und Sportminister Gerald Klug und zahlreiche Vertreter des Bundesheeres in Uniform, zwei Mitglieder der Wiener Landesregierung, Michael Häupl und Andreas Mailath-Pokorny, sowie zahlreiche prominente Vertreter der österreichischen Zivilgesellschaft, darunter der Holocaust-Überlebende Rudolf Gelbard, der frühere Vorsitzende der Grünen, Alexander Van der Bellen und die Menschenrechtsaktivisten Bruno Aigner, Nikolaus Kunrath und Christian Michelides.
Resonanz
Die lange Dauer der Anerkennung dieser Opfergruppe wurde allgemein als schmerzhaft empfunden. Norbert Mappes-Niediek bezog sich in seinem Artikel in der Frankfurter Rundschau auf die lange Verzögerung der Anerkennung: Früh gewehrt, spät geehrt lautete der Titel.[8]
Kritik
Der Österreichische Kameradschaftsbund protestierte gegen die in Wien beabsichtigte Errichtung eines Denkmales für Deserteure auf Kosten der Steuerzahler, da Desertion in allen Rechtsstaaten ein Strafdelikt sei und ein Denkmal daher das Andenken an gefallene Soldaten desavouiere.[13]
Die FPÖ stimmte im Nationalrat gegen die gesetzliche Anerkennung der Deserteure als Opfergruppe und protestierte gegen die Errichtung eines Mahnmals am Standort Ballhausplatz.[14]
Am Österreichischen Nationalfeiertag meldete sich Michael Prüller in der Presse zu Wort: „Desertion schädigt auch nicht nur den Unrechtsstaat, sondern oft auch die Überlebensfähigkeit der kleinen Einheit. Ich verstehe, dass alte Kameraden mit einer Ehrung des Deserteurs auch das Infragestellung des Soldatischen an sich mit seinen Grundtugenden des Diensteifers und des Gehorsams fürchten. Also: Ich finde es nicht gut, dass es ein Deserteursdenkmal gibt. Aber ich finde es gut, dass es, wie es offiziell heißt, ein Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärgerichtsbarkeit gibt.“ Und weiter: „Wenn man dann noch weiß, dass die Nazis wegen Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung 25.000 Todesurteile vollstreckt haben, die Amerikaner in derselben Zeit jedoch nur ein einziges und die Briten 40 – dann erscheint mir jedenfalls eine Unrechtsjustiz, eine ungerechte Verfolgung, am Werk gewesen zu sein. Und es ist angemessen, der Verfolgten zu gedenken.“[15]
Weblinks
- Deserteursdenkmal, Website mit umfassendem Pressespiegel zur Entstehung des Denkmals
- Wien bekommt ein Deserteursdenkmal, Website des Personenkomitees »Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz«
- Bauablauf des Denkmals in Bildern, Website des Presse- und Informationsdienstes der Stadt Wien
- cultural broadcasting archiv, Aufzeichnung der Reden anlässlich der Eröffnung des Denkmals
- Interview mit dem Künstler Olaf Nicolai: Gedanken über das Denkmal und warum er den englischen Text aus einem Gedicht von Ian Hamilton Finkey auswählte. Nachzulesen in Art Magazin, dem Onlineauftritt des Kunstmagazins Art vom 30. Oktober 2014 [1].
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 Denkmal für Verfolgte der NS-Militärjustiz eröffnet, Seite auf wien.gv.at, eingesehen am 24. Oktober 2014
- ↑ ORF science: NS-Deserteure: Kritik an Verzögerung der Rehabilitierung, abgerufen am 25. Oktober 2014
- ↑ 3,0 3,1 Christa Zöchling: Die wahren Kriegshelden: Wie prominente Österreicher dem NS-Terror widersetzten, Profil, 29. August 2009
- ↑ Prammer für "lückenlose Rehabilitation", Artikel des Standard vom 1. September 2009
- ↑ Wiener Deserteursdenkmal wird eröffnet, Artikel des Standard bzw. der APA vom 23. Oktober 2014
- ↑ Wiener Deserteursdenkmal am Ballhausplatz geplant, Artikel der Salzburger Nachrichten/APA vom 13. Oktober 2012
- ↑ Deserteure - "Täter im positiven Sinn", Artikel der Presse vom 14. Februar 2014
- ↑ 8,0 8,1 Norbert Mappes-Niediek: Früh gewehrt, spät geehrt, Frankfurter Rundschau, 25. Oktober 2014
- ↑ 9,0 9,1 9,2 Kunst im öffentlichen Raum Wien (KÖR): Olaf Nicolai: Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz, eingesehen am 24. Oktober 2014
- ↑ 10,0 10,1 Die Presse: "Tag der Genugtuung": Deserteursdenkmal in Wien eröffnet, 24. Oktober 2014
- ↑ Kathrin Röggla: "Der Deserteur hat derzeit eine schlechte Konjunktur", Der Standard, 24. Oktober 2014
- ↑ cultural broadcasting archive, abgerufen am 24. Oktober 2014
- ↑ Streit um Wiener Deserteursdenkmal, Artikel auf ORF.at vom 7. März 2012, eingesehen am 25. Oktober 2014
- ↑ FPÖ protestiert gegen NS-Deserteursdenkmal, Artikel der Presse vom 13. Oktober 2012
- ↑ Michael Prüller: [Culture Clash], Die Presse, 26. Oktober 2014
Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar. |