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Schutzhaft
Unter dem Euphemismus Schutzhaft wurden in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland Regimegegner und andere missliebige Personen willkürlich inhaftiert und in Konzentrationslager verschleppt.
Der Begriff „Schutzhaft“ darf aber weder mit der Schutzhaft im Königreich Preußen noch mit heutigen Begriffen des rechtsstaatlichen Polizei- und Ordnungsrechts verwechselt werden. Zu diesen verwechslungsfähigen Begriffen gehören der Schutzgewahrsam, der Polizeigewahrsam, auch der Unterbindungsgewahrsam oder die Sicherungsverwahrung. Diesen Begriffen ist gemein, dass es sich um Rechtsinstitute mit gesetzlich geregelten Vorgaben handelt, insbesondere einer richterlichen Überprüfung und dem Recht auf anwaltlichen Beistand.
Im Gegensatz dazu wurden diese Verfahrensrechte den in „Schutzhaft“ genommenen Personen vorenthalten.
Überblick
Wichtige Artikel mit Freiheitsrechten, die in der Weimarer Reichsverfassung verbrieft waren, wurden „bis auf weiteres” durch die Reichstagsbrandverordnung, der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 aufgehoben:
- Artikel 114 Verbot von Beschränkungen der persönlichen Freiheit
- Artikel 115 Unverletzlichkeit der Wohnung
- Artikel 117 Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis
- Artikel 118 Meinungsfreiheit
- Artikel 123 Versammlungsfreiheit
- Artikel 124 Vereinigungsfreiheit
- Artikel 153 Recht auf Eigentum
In § 2 wurde die Reichsregierung ermächtigt, alle zur „Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen” zu treffen.
Die ausufernde Willkür unterschiedlicher Partei- und Staatsorgane sollte mit der Anordnung Schutzhaft des Reichsminister des Innern an die Landesregierungen und Reichsstatthalter vom 12. April 1934 grundsätzlich auf politisch gewollten Terror eingegrenzt werden. Die Justiz sollte für normale Zivil-, Arbeitsrechts- und Strafverfahren nicht ausgeschaltet werden. Rechtsanwälte wurden für die Wahrnehmung der Rechte ihrer Mandanten von der Schutzhaft ausgeschlossen.[1] Ausdrücklich nicht befugt zur Inschutzhaftnahme waren Stellen der NSDAP und der SA – einschließlich Gauleiter. Es war vorgesehen, die Schutzhaft nur in staatlichen Gefangenenanstalten oder Konzentrationslagern zu vollstrecken. Wenn diese Verhaftung vorgenommen wurde, war die Oberste Landesbehörde zu unterrichten, es sei denn, diese hätte sie veranlasst. Sofern die Oberste Landesbehörde die Schutzhaft nicht angeordnet hatte, und nicht ausdrücklich bestätigt hatte, war der Häftling innerhalb von 8 Tagen nach der Verhaftung zu entlassen. Andernfalls sollte alle 3 Monate eine Überprüfung erfolgen.[2] Verschärft wurden die Regelungen mit dem Schutzhafterlaß vom 25. Januar 1938.
Im Nationalsozialismus wurde von diesem Instrument, das in den Händen von SA, Gestapo und SS lag, massenhaft Gebrauch gemacht. Es diente nicht irgendwelchen Schutzzwecken, schon gar nicht, wie oft behauptet wurde, dem Schutz der Betroffenen vor dem „Volkszorn”, sondern der Verfolgung politisch und anderweitig missliebig gewordener Personen. Zunächst wurden vor allem Mitglieder linker Organisationen (vor allem von KPD und SPD) Opfer der „Schutzhaft“, daneben andere Menschen, die sich mit ihren politischen und weltanschaulichen Überzeugungen gegen das Regime exponierten, etwa einzelne Angehörige der christlichen Konfessionen und Gemeinschaften (z. B. die Gruppe die Ernsten Bibelforscher bzw. Zeugen Jehovas). Es folgten die Angehörigen der aus ethnisch-rassistischen Motiven verfolgten Minderheiten der Juden, der Roma, darunter der deutschen Sinti und Roma -, die zugleich aus sozialrassistischen Gründen als „Asoziale“ exkludiert wurden. Als „asozial“ bzw. „gemeinschaftsfremd“ war eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher, „deutschblütiger“ sozialer und psycho-sozialer Minderheiten etikettiert (so z. B. Alkoholiker, Prostituierte, Unterstützungsempfänger, „Landfahrer“, „Bummelanten“, Homosexuelle). Sie alle unterlagen der Gefahr, im individuellen Zugriff oder im Zuge umfangreicher Razzien wie der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ in „Schutzhaft“ zu geraten.
Eine wichtige Funktion hatte die „Schutzhaft“ auch als Ergänzung des Strafrechts: Wer aus der Untersuchungs- oder Strafhaft entlassen wurde, entweder weil er die Freiheitsstrafe abgesessen hatte oder weil er freigesprochen worden war und den staatlichen Organen als politisch nicht zuverlässig erschien oder nach deren Meinung aus anderen Gründen aus der Öffentlichkeit entfernt werden musste, wurde von der Gestapo oder der Kripo in ein Konzentrationslager eingewiesen. Hitler misstraute der Justiz und wollte sich ein weiteres Terrorinstrument bewahren, obwohl ihm mit den 1933 zeitgleich eingerichteten Sondergerichten auch seitens der Justiz ein solches zur Verfügung gestellt worden war.
Historische Entwicklung
Die Zahl der in „Schutzhaft“ genommenen Personen schwankte stark.
Die erste Welle, vor allem gegen Kommunisten gerichtet, fiel in die Monate März und April 1933. In diesen beiden Monaten wurden allein in Preußen mindestens 25.000 Personen von staatlichen Organen gefangen genommen. Hinzu kamen die damals noch „wilden”, d. h. nichtstaatlichen Verhaftungen durch SA und SS. Da die staatlichen Machtorgane durch Himmlers SS alsbald übernommen wurden, sind in der Folgezeit sämtliche Inhaftierungen als staatliche Verfolgungsmaßnahmen zu werten.
Die frühen Konzentrationslager unterstanden meist der „Parteiarmee“ SA, wodurch sich im Volk eine gewisse Furcht vor der SA ausbreitete. Die Hoffnung der bürgerlichen Schichten, die Entmachtung der SA – die ebenfalls durch willkürliche Ermordung der SA-Führungsschicht und ohne jegliche Gerichtsverfahren stattfand – möge ein Ende der Willkür bringen, erfüllte sich nicht. Statt Röhms SA gelangte nun Himmlers SS zur Möglichkeit, neue KZ im systematischen Stil errichten.
Auch diente die „Schutzhaft“ nicht mehr, wie man an sich der angegebenen Rechtsgrundlage – nämlich der Reichstagsbrandverordnung – entnehmen sollte, nur der Verfolgung der Kommunisten, sondern auch anderer Gruppen. Das Kammergericht wertete am 8. Dezember 1935 die Inhaftierung von Mitgliedern der katholischen Jugendbewegung ebenfalls als Kommunistenbekämpfung.
Theodor Eicke nahm in Himmlers Auftrag eine Neugliederung der Konzentrationslager vor und systematisierte Willkür und Terror. Seine allgemeinverbindlich gewordene „Disziplinar- und Strafordnung für das Gefangenenlager” vom 1. Oktober 1933 ging von dem Grundsatz aus, dass der Häftling mit äußerster, aber unpersönlicher und disziplinierter Härte zu behandeln war (vgl. Lagerordnung). In ihr wurde auch eine brutale Prügelstrafe eingeführt. In der sogenannten Postenpflicht war festgehalten, Wachposten hätten bei Anzeichen von Flucht sofort und ohne warnenden Aufruf von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, Warnschüsse waren verboten, Mord im KZ war straffrei geworden. „Der Posten, der in Ausübung seiner Pflicht einen Gefangenen erschossen hat, geht straffrei aus.“ Diese Postenpflicht wurde für die zahlreichen Todesfälle herangezogen, Häftlinge wären angeblich „auf der Flucht erschossen“ worden.
1935 gab es sieben Lager: KZ Dachau, KZ Esterwegen, KZ Lichtenburg, KZ Sachsenburg, KZ Columbia-Haus in Berlin, KZ Oranienburg und KZ Fuhlsbüttel. In ihnen wurden etwa 7.000 bis 9.000 Gefangene festgehalten.
1936/1937 war der niedrigste Stand mit etwa 7.500 Gefangenen erreicht.
Im Februar 1937 begannen sich die Lager wieder zu füllen. Himmler hatte sich entschlossen, die Lager zu Erziehungs- und vor allem aber zu Produktionsstätten umzufunktionieren. 1938 wurde hierzu die SS-Firma Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH (DEST) gegründet, die Ziegelwerke errichtete und Steinbrüche ausbeutete. Zunächst wurden nach freier Auswahl durch die Polizei 2.000 bislang in Strafhaft befindliche „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher” eingeliefert. Anfang 1938 kamen erstmals in einem reichsweiten Zugriff festgenommene so genannte asoziale und „arbeitsscheue Elemente” hinzu. Die Lagerinsassen wurden damit zu Zwangsarbeitern.
Im Jahr 1938 wurden nach der Reichspogromnacht etwa 35.000 Juden zur Einschüchterung und um sie zur Aufgabe ihres Eigentums und zur Auswanderung zu veranlassen, vorübergehend eingeliefert. Kurze Zeit später kamen die meisten wieder frei.
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges weitete sich das System der Arbeitslager qualitativ und quantitativ sprunghaft aus. Die Zwangsarbeit trat immer mehr in den Vordergrund. Insassen der Konzentrationslager waren nunmehr vor allem Angehörige anderer Staaten, aber auch Vertreter der Kirchen, da Heydrich und Bormann im Kriegsbeginn die Gelegenheit sahen, den Kirchenkampf aufzunehmen.
Ab Kriegsbeginn nahm die Polizei in nennenswertem Umfang auch Personen wegen Arbeitsvertragsbruch, insbesondere Arbeitsniederlegung in Schutzhaft.
Ab Mitte 1941 wurden durch Vermittlung der Arbeitsämter sowjetische Zivilarbeiter in Schutzhaft genommen.
Allein im Oktober 1941 nahm die Gestapo 15.000 Personen in „Schutzhaft“. Insgesamt befanden sich im März 1942 100.000 Gefangene in „Schutzhaft“. August 1943 waren es 224.000. Ein Drittel davon waren im KZ Auschwitz (Stammlager, Birkenau und Monowitz). August 1944 befanden sich 524.000 Personen in „Schutzhaft“, Januar 1945 waren es 714.000. Die Stärke der Wachmannschaften betrug damals 40.000.
Die Sterbequote war hoch (60 % aller Lagerinsassen in der zweiten Hälfte des Jahres 1942). Von den gegen Ende des Regimes vorhandenen 700.000 Insassen kamen mindestens noch ein Drittel auf Todesmärschen um.
Die Gesamtzahl der in den Konzentrationslagern durch Entkräftung und Krankheiten umgekommenen Personen beläuft sich auf mindestens 500.000.
Verhältnis Justiz und Polizei/SS
Bereits im Mai 1933 ordnete der preußische Justizminister Hanns Kerrl an, dass Personen, die wegen Verdachts auf staatsfeindliches Verhalten (von der Justiz) festgenommen worden waren, aber nicht mehr unter dringendem Tatverdacht standen (was Voraussetzung für die gerichtliche Anordnung von Untersuchungshaft war und ist), nicht ohne Zustimmung der politischen Polizei aus der Untersuchungshaft entlassen werden durften.
Reichsjustizminister Franz Gürtner verpflichtete 1935 die Gerichte, die Gestapo unverzüglich zu benachrichtigen, wenn sie den Haftbefehl gegen eine Person, die eines politischen Delikt verdächtigt wurde, aufzuheben oder gar nicht erst zu erlassen beabsichtigte.
Nach dem 1. September 1939
Mit Kriegsbeginn nahm die Justiz in weiten Bereichen ihren Anspruch, allein zuständig zu sein, zurück.
Auslieferung Strafgefangener
Am 18. September 1942 kamen Himmler und der Reichsjustizminister Thierack überein, dass „asoziale Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer-SS zur Vernichtung durch Arbeit ausgeliefert werden. Es werden restlos ausgeliefert die Sicherungsverwahrten, Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer (…). Es besteht Übereinstimmung darüber, dass in Rücksicht auf die von der Staatsführung für die Bereinigung der Ostfragen beabsichtigten Ziele in Zukunft Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer nicht mehr von den ordentlichen Gerichten (…) abgeurteilt werden, sondern durch den Reichsführer SS erledigt werden”.
Die Vereinbarung vom 18. September 1942 führte dazu, dass allein in der Zeit vom 1. November 1942 bis 30. April 1943 14.700 Strafgefangene in Konzentrationslager abtransportiert wurden. Schon am 1. April 1943 waren hiervon 5.900 zumeist in Epidemien „verstorben”.
Verfolgung „Fremdvölkischer”
Noch deutlicher formulierte dies Thierack in einem Schreiben vom 13. Oktober 1942 an Martin Bormann: „(..)beabsichtige ich, die Strafverfolgung gegen Polen, Russen, Juden und Zigeuner dem Reichsführer SS zu überlassen. Ich gehe hierbei davon aus, daß die Justiz nur im kleinen Umfang dazu beitragen kann, Angehörige dieses Volkstums auszurotten.” In einer Besprechung mit den Präsidenten der Oberlandesgerichte am 29. September 1942 erklärte Thierack die Aufgabe des richterlichen Kompetenzanspruchs damit, dass nur die Polizei diese Aufgabe erledigen könne, zumal sie bereits entsprechende Erfahrungen gesammelt habe. Die Richter hingegen würden innerlich zerbrechen, wenn man von ihnen verlangte, dass jedes Verfahren gegen einen Fremdvölkischen mit dem Todesurteil zu enden habe.
Bei einer Besprechung mit den Oberlandesgerichtspräsidenten am 10./11. Februar 1943 äußerte Thierack, wenn ein höherer Polizeioffizier es für notwendig halte, einen Polen ohne Gerichtsverfahren zur Abschreckung zu erhängen, werde er auch in Zukunft nicht intervenieren, da der Polizeioffizier nur seine Pflicht tue.
Im Sinne des nationalsozialistischen Strafrechts straffällig gewordene so genannte „Asoziale” und „Fremdvölkische” durften nach einem geheimen Runderlass des RSHA von 1943 an die Justiz übergeben werden, wenn „ein öffentliches Gerichtsverfahren stimmungspolitisch sinnvoll schien und sichergestellt war, dass das Verfahren mit der Todesstrafe enden würde”. Ansonsten kamen diese Personen sofort in Schutzhaft. Ermittlungsvorgänge gegen Polen wurden ohnehin, trotz der in der so genannten Polenstrafrechtsverordnung grundsätzlich vorgesehenen Todesstrafe, schon seit Januar 1942 nur noch in Ausnahmefällen an die Justiz abgegeben.
Polnische und russische Zwangsarbeiter wurden, was der häufigste Exekutionsfall war, umstandslos von der Polizei erschossen, wenn sie mit deutschen Frauen ein Liebesverhältnis bzw. mit ihnen Geschlechtsverkehr ausgeübt hatten. Auf dieselbe Weise wurden „Arbeitsvertrag”sbruch beispielsweise durch Verlassen des (Zwangs)Arbeitsplatzes geahndet.
Zur Rechtlosigkeit des Gefangenen
Gerichtlicher Schutz gegen die Inhaftierung stand dem Gefangenen nicht zu. § 7 des preußischen Gesetzes über die Geheime Staatspolizei (Gestapo) vom 10. Februar 1936 ordnete ausdrücklich an, dass Verfügungen und Angelegenheiten der Gestapo nicht der Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte unterliegen.
Aber auch gegen die in der „Schutzhaft“ regelmäßigen Misshandlungen bis hin zum Tod bestand kein Rechtsschutz.
Vereinzelte Einwirkungsversuche der Justiz
Der Gestapoführung unter Heinrich Himmler gelang es, durch Einschaltung höherer politischer Entscheidungsträger, durch Sabotage der von der Justiz eingeleiteten Ermittlungsverfahren, durch Einschüchterung bis hin zur Drohung von Verhängung von Schutzhaft gegenüber den ermittelnden Beamten alsbald einen rechtsfreien Raum zu schaffen. Diese Entwicklung fand einen gewissen Abschluss in einer „Verordnung über eine Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für die Angehörigen der Polizeiverbände bei besonderem Einsatz” vom 17. Oktober 1939. Mit dieser von Heinrich Himmler bei Hitler erwirkten Verordnung kontrollierte die für die Bewachung der Lager zuständige SS und deren SS-Totenkopfverbände sich selbst. Das Ergebnis war damit vorhersehbar.
Hinzu kamen verschiedene Amnestiegesetze, von denen zugunsten der Täter, sofern die Justiz überhaupt die Taten aufgegriffen hatte, großzügigst Gebrauch gemacht wurde.
Ermittlungen der Justiz waren, sofern die Opfer überhaupt noch lebten, bereits dadurch erschwert, dass die Betroffenen bei Entlassung aus dem KZ eine Erklärung unterschreiben mussten, mit der sie sich zu absolutem Schweigen über die Verhältnisse im Lager verpflichteten. Die Drohung mit erneuter „Schutzhaft“ bewirkte, dass misshandelte Häftlinge nur ganz selten überhaupt bereit waren, als Zeugen zur Verfügung zu stehen.
Nur die hohen Todeszahlen sprachen für sich. Die Justiz war zumindest anfänglich mit diesen Todesfällen befasst, weil die Staatsanwaltschaft nach § 159 StPO bei allen Fällen eines nicht natürlichen Todes einzuschalten war (und ist).
Anhand zweier typischer Einzelfälle aus der Anfangszeit sei die Behandlung der Gefangenen und die strafrechtliche Aufarbeitung des begangenen Unrechts geschildert:
Der Fall des Kaufmanns Schloß im KZ Dachau
Am 16. Mai 1933 meldete der Lagerkommandant SS-Oberführer Hilmar Wäckerle, dass der Nürnberger Kaufmann Schloß sich in der Einzelhaftzelle erhängt hätte. Tatsächlich wies die Leiche ausgedehnte Blutunterlaufungen auf, der Tote war erst nach Ermordung aufgehängt worden, um einen Suizid vorzutäuschen. Am 17., 24. und 25. Mai 1933 wurden drei weitere unnatürliche Todesfälle aus dem KZ Dachau gemeldet. In einem der Fälle war der Betroffene angeblich auf der Flucht erschossen worden. Dies sollte künftig eine häufig gewählte Begründung für Todesfälle in den Konzentrationslagern werden. Erschießen auf der Flucht kam praktisch der Verhängung der Todesstrafe durch die SS gleich, eine Strafe ohne Rechtsgrundlage und ohne Gerichtsverfahren.
Die Arbeitsbedingungen der Justiz waren bereits damals so schwierig geworden, dass der zuständige Staatsanwalt die Anträge im geschilderten Fall des Kaufmanns Schloß nur einer ihm zuverlässig erscheinenden Schreibkraft nach Dienstschluss diktieren konnte und selbst zum Untersuchungsrichter bringen musste, weil er befürchtete, die Anträge würden sonst auf dem Dienstweg verschwinden. Der Untersuchungsrichter wollte so, wie es sonst üblich und gesetzlich geregelt war, die Verhaftung der Angeschuldigten mit Hilfe der Mordkommission der Münchener Polizeidirektion durchführen. Dort wurde ihm „lächelnd” bedeutet, dafür sei allein die Gestapo zuständig. Am selben Tag schaltete sich auf Betreiben des Leitenden Oberstaatsanwaltes das bayerische Justizministerium ein. Ergebnis war, dass der Oberstaatsanwalt angewiesen wurde, die genannten Fälle mit Heinrich Himmler, dem Chef der Organisation, die für die Morde verantwortlich war, zu besprechen. Eine Mitwirkung oder ein Mitspracherecht Himmlers war allerdings vom Gesetz nicht vorgesehen. Himmler sicherte zwar Kooperation bei der Aufklärung der Straftaten zu, sorgte jedoch dafür, dass die Akten, die er sich über Justiz- und Innenministerium besorgt hatte, in seiner Organisation verschwanden. Die Fälle wurden nicht aufgeklärt.
Die SS war sich bereits damals ihrer Macht so sicher, dass der Lagerkommandant Hilmar Wäckerle eine Lagerordnung verfassen und der Justiz präsentieren konnte, wonach über das Lager das Standrecht verhängt sei und als Lagerstrafe vom Kommandanten sowie von ihm ausgewählten Offizieren gegen denjenigen die Todesstrafe verhängt werden durfte, der den Gehorsam verweigerte. Eine Rechtsgrundlage gab es hierfür nicht. Wäckerle berief sich nur auf eine Genehmigung durch Heinrich Himmler.
Der neue Lagerkommandant Theodor Eicke erließ am 1. Oktober 1933 eine „Disziplinar- und Strafordnung”, wonach „kraft revolutionären Rechts” als Aufwiegler gehängt werden solle, der „wahre oder unwahre Nachrichten zum Zwecke der gegnerischen Greuelpropaganda über das Konzentrationslager (…) hinausschmuggelt”. Staatsanwaltschaft und Gericht wurde mitgeteilt, dass sie bis auf Weiteres keinen Zugang mehr zum Lager erhielten.
Straftaten im KZ Kemna
In diesem bereits Anfang 1934 wieder aufgelösten KZ Kemna wurden Gefangene zur Vernehmung nackt auf besonderen Prügelbänken festgehalten und mit Gummiknüppeln, Peitschen und Stöcken blutig geschlagen. Sie wurden anschließend in einen engen Verschlag gesteckt, in dem sie weder stehen noch sitzen konnten. Zuvor hatten sie noch ungewässerte mit Staufferfett oder Kot beschmierte Salzheringe essen müssen und waren bei Erbrechen gezwungen worden, das Erbrochene aufzulecken. Mit den frischen Verletzungen wurden sie dann in die im Winter eiskalte Wupper getrieben und mussten die nassen Kleider anbehalten. Zwei Häftlinge starben nach Verlegung aus dem Konzentrationslager, einer davon in der Irrenanstalt Galkhausen.
Diese Vorgänge waren auch der Staatsanwaltschaft bekannt geworden, die sich jedoch erst nach der Entmachtung der SA entschloss, in dieser Sache etwas zu unternehmen. Sie konnte sich dabei auf Informanten aus dem Kreis der SA stützen. Obwohl der im Justizministerium zuständige Beamte den Informanten regelrechte Schutzbriefe ausgestellt hatte, wurde einer von ihnen, sobald die Ermittlungen bekannt geworden waren, vom Kreisleiter der NSDAP in Schutzhaft genommen. Erst durch Intervention auf Ministeriumsebene kam dieser Informant nach fünf Tagen wieder frei. Die Gauleitung der NSDAP entfesselte gegen den ermittelnden Staatsanwalt ein Kesseltreiben, zog ihn, der selbst Parteigenosse war, gar vor das Parteigericht und erreichte bei dem Parteigenossen und Staatssekretär im Preußischen Justizministerium Freisler, dass die Ermittlungsakten an die Gauleitung abgegeben wurden. Damit war das Ermittlungsverfahren zunächst zerschlagen.
Nach einer durch eine Vorsprache von örtlichen Parteiangehörigen beim persönlichen Adjutanten von Hermann Göring erzwungenen Wiederaufnahme des Verfahrens entledigte sich die Partei der Sache durch die Einleitung eines Verfahrens vor dem obersten Parteigericht gegen die in dieser Sache Hauptbeschuldigten. Das Gericht verhängte gegen sie am 1. April 1935 eine äußerst milde, kaum als solche zu bezeichnende Strafe, nämlich nur eine „Verwarnung”. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass die bisherigen Ermittlungen höchst einseitig geführt worden seien; man habe nur unglaubwürdige Staatsfeinde angehört. Zwar seien die Angeschuldigten über das „zur Brechung des Widerstandes erforderliche Maß hinausgegangen” und hätten „damit gegen den vom Führer gegebenen Befehl, daß der nationalsozialistische Staat seine Gegner wohl unschädlich zu machen weiß, darüber hinaus aber auf jede Rache verzichtet, verstoßen” (…). Es sei jedoch zu berücksichtigen, dass es die SA im Wuppertaler Industriegebiet mit besonders hartnäckigen kommunistischen Gegnern zu tun gehabt habe, die sich auch nach der Machtergreifung immer wieder illegal zu organisieren versucht hätten. Gerade das Verhalten der Staatsanwaltschaft habe diesen Elementen wieder Auftrieb gegeben.
Damit war das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren praktisch kaltgestellt. Der ermittelnde Staatsanwalt wurde in der Folgezeit persönlich bedroht und nächtlich angerempelt und musste sich nach einem anderen Ort versetzen lassen. Den Schlusspunkt setzte Hitler mit einem Niederschlagungsbeschluss vom 10. Februar 1936.
Ergebnis
Mit Einführung der „Schutzhaft“ kam ein Prozess der völligen Ausschaltung der Gerichte in Gang, der lediglich durch das vom NS-Regime nicht geplante Ende unterbrochen wurde. Die staatliche Gewalt lag allein in der Hand der Gestapo und der SS. Diese Machtträger hatten freie Hand, das System der Unterdrückung Andersdenkender zu verschärfen und ihre nationalsozialistische Ideologie zu verwirklichen. Damit hatte im Sinne der grundlegenden – und bereits zeitgenössisch getroffenen – Unterscheidung von Ernst Fraenkel der Maßnahmenstaat auch in diesem Bereich über den Normenstaat gesiegt.
Siehe auch
Literatur
- Martin Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945 in: Anatomie des SS-Staates Band 2 ISBN 3-423-02916-1 (grundlegend)
- Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, 1933-1940, 3. Auflage 2001, ISBN 3-486-53833-0 S. 353-362, 521-658.
- Alexander Sperk, Schutzhaft und Justiz im „Dritten Reich“ auf dem Gebiet des heutigen Landes Sachsen-Anhalt, in: Justiz im Nationalsozialismus. Über Verbrechen im Namen des Deutschen Volkes – Sachsen-Anhalt, Begleitband zur Wanderausstellung, Magdeburg 2008, ISBN 978-3-9812681-1-9, S. 16-27
- Ralph Angermund, Deutsche Richterschaft 1919-1945, 1990, ISBN 3-596-10238-3
Weblinks
Einzelnachweise
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