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Strukturelle Gewalt

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Strukturelle Gewalt bezeichnet ein Konzept, das den klassischen Gewaltbegriff umfassend erweitert und 1969 vom norwegischen Friedensforscher Johan Galtung formuliert wurde.[1]

Der Ansatz von Galtung

Johan Galtung ergänzte den traditionellen Begriff der Gewalt, der vorsätzlich destruktives Handeln eines Täters oder einer Tätergruppe bezeichnet, um die strukturelle Dimension:

„Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist.“

Diesem erweiterten Gewaltbegriff zufolge ist das Zurückbleiben der aktuellen Selbstverwirklichung hinter der in einer Gesellschaft möglichen Selbstverwirklichung eine Form von Gewalt. Wenn Menschen im Mittelalter an Tuberkulose stürben, wäre dies nicht unbedingt Gewalt, weil die Medizin noch nicht weit genug entwickelt war. Wenn heute Menschen an Tuberkulose sterben, kann dies hingegen auf strukturelle Gewalt zurückgeführt werden.[2] Unter Strukturelle Gewalt fallen nicht nur alle Formen der Diskriminierung, sondern auch die ungleiche Verteilung von Einkommen, Bildungschancen und Lebenserwartungen, sowie das Wohlstandsgefälle zwischen der ersten und der Dritten Welt. Selbst eingeschränkte Lebenschancen auf Grund von Umweltverschmutzung oder die Behinderung emanzipatorischer Bestrebungen werden hierunter subsumiert.

Gewalt kann in dieser umfassenden Definition, die allein die Effekte benennt, nicht mehr konkreten, personalen Akteuren zugerechnet werden.[3] Sie basiert nurmehr auf Strukturen einer bestehenden Gesellschaftsformation, insbesondere auf gesellschaftlichen Strukturen wie Werten, Normen, Institutionen oder Diskursen sowie Macht­verhältnissen. Diese Begriffsbestimmung verzichtet auch auf die Voraussetzung, dass, um von Gewalt sprechen zu können, eine Person oder Gruppe subjektiv Gewalt empfinden muss. Strukturelle Gewalt werde von den Opfern oft nicht einmal wahrgenommen, da die eingeschränkten Lebensnormen bereits internalisiert seien. 1996 fügte er die strukturelle Gewalt als neben personaler und kultureller Gewalt als einen der drei Pole in sein Konzept eines interdependenten Gewaltdreiecks ein.

Galtungs Ansatz wurde in den 1970er und 1980er Jahren verschiedentlich herangezogen, etwa zur Analyse des Imperialismus und des Nord-Süd-Konflikts.[4]

Vorgeschichte

Der Gewaltbegriff wandelte sich von einem reinen Handlungsbegriff auch zu einem (gesellschaftlichen) Strukturprinzip; den gesellschaftlichen Systemen und Subsystemen sei Gewalt inhärent. Das ist keineswegs eine neue Position. Eine klassische Formulierung dazu geht dabei wohl auf den im 5. Jahrhundert vor Christus lebenden chinesischen Philosophen Me-Ti zurück. Hier in der Interpretation von Bertolt Brecht aus dem Werk „Me-Ti. Buch der Wendungen“:

„Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“

Dieser Gedanke, dass Gewalt auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst begründet sein kann, findet sich auch bei Karl Marx. Die Kritische Theorie hob diesen Ansatz hervor. Dabei ist vor allem Herbert Marcuse und sein 1964 erschienenes Werk Der eindimensionale Mensch zu nennen. Hier werden die pluralistischen Demokratien der westlichen Welt als repressive, ja „totalitäre“ Gesellschaften beschrieben, die sich auf Indoktrination, Manipulation, Ausbeutung und Krieg gründeten. Kritik bleibe fruchtlos, da sie in das „eindimensionale“ System von Politik, Wirtschaft und Kulturindustrie integriert würde. Die in der Tradition der kritischen Theorie stehenden Postmarxisten Michael Hardt und Antonio Negri schreiben in ihrem globalisierungskritischen Manifest Multitude das Konzept der strukturellen Gewalt Karl Marx zu:

„Die Theorie der Ausbeutung muss die tägliche strukturelle Gewalt des Kapitals gegen die Arbeiter erkennen lassen, die diesen Antagonismus hervorbringen, und dient umgekehrt den Arbeitern als Grundlage, um sich zu organisieren und sich der kapitalistischen Kontrolle zu verweigern.[5]

Der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault, dessen Anfang der 1970er Jahre entstandene Diskurs-Theorie strukturalistisch und apersonal geprägt ist, entwickelte in seinem Werk Überwachen und Strafen (1975) ebenfalls sozialkritische Gedanken, die auf strukturelle Gewalt abzielen. Auf Foucaults Theorie der Gouvernementalität beziehen sich heute zahlreiche Philosophen, so auch Giorgio Agamben.

Strukturelle Gewalt als Legitimation für Gegengewalt

Der umfassende, nicht trennscharfe und personal nicht zurechenbare Gewaltbegriff wurde zu einem klassischen Topos, um insbesondere gewalttätigen politischen Widerstand theoretisch zu legitimieren. So urteilt etwa Albert Fuchs, Mitglied des Instituts für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung:

„Bei Galtung geht es um die Skandalisierung herrschender Verhältnisse, Diskreditierung ihrer Repräsentation und Agenten und Rechtfertigung von Widerstand gegen diese Verhältnisse.“[6]

So argumentierte auch Herbert Marcuse, wenn er betonte, dass es für unterdrückte Minderheiten ein Naturrecht auf Widerstand gebe: Wenn diese Minderheiten Gewalt anwendeten, so begönnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrächen die etablierte. Hierin wird deutlich, dass der Begriff der institutionalisierten Gewalt impliziert, dass eine Überwindung der beschriebenen Zustände im Wege der inneren Reform nicht möglich ist. Wenn die strukturelle Gewalt den kritisierten Gesellschaftsformen wesenshaft inhärent ist, so bedarf es eines revolutionären Prozesses, um sie aufzubrechen.

Dies war beispielsweise auch eine zentrale Legitimationsstrategie der RAF, die revolutionäre Gewalttaten stets mit der vorgängigen „Gewalt des Systems“ rechtfertigte, wobei sie selbst definierte, was als „Gewalt des Systems“ zu gelten habe.

Ulrike Meinhof hatte in dem Gründungsmanifest der RAF, Das Konzept Stadtguerilla, 1971 geschrieben:

„Stadtguerilla ist bewaffneter Kampf […]. Stadtguerillla heißt, sich von der Gewalt des Systems nicht demoralisieren zu lassen. […] Stadtguerilla setzt die Organisierung eines illegalen Apparates voraus, das sind Wohnungen, Waffen, Munition, Autos, Papiere. Was dabei im Einzelnen zu beachten ist, hat Marighela in seinem 'Minihandbuch der Stadtguerilla' beschrieben. […] Die Parole der Anarchisten ‚Macht kaputt, was Euch kaputt macht‘ zielt auf die direkte Mobilisierung der Basis, der Jugendlichen in Gefängnissen und Heimen, in Schulen und in der Ausbildung, richtet sich an die, denen es am dreckigsten geht, zielt auf spontanes Verständnis, ist die Aufforderung zum direkten Widerstand. Die Black Power-Parole von Stokely Carmichael: ‚Vertrau deiner eigenen Erfahrung!‘ meinte eben das. Die Parole geht von der Einsicht aus, daß es im Kapitalismus nichts, aber auch nichts gibt, das einen bedrückt, quält, hindert, belastet, was seinen Ursprung nicht in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen hätte, daß jeder Unterdrücker, in welcher Gestalt auch immer er auftritt, ein Vertreter des Klasseninteresses des Kapitals ist, das heißt: Klassenfeind. Insofern ist die Parole der Anarchisten richtig, proletarisch, klassenkämpferisch. Sie ist falsch, soweit sie das falsche Bewußtsein vermittelt, man brauchte bloß zuzuschlagen, denen in die Fresse zu schlagen, Organisierung sei zweitrangig, Disziplin bürgerlich, die Klassenanalyse überflüssig. Schutzlos der verschärften Repression, die auf ihre Aktionen folgt, ausgesetzt, ohne die Dialektik von Legalität und Illegalität organisatorisch beachtet zu haben, werden sie legal verhaftet.“[7]

Illegale Gewalt wurde also mit dem Verweis auf die vorgängige Gewalt des Systems gerechtfertigt, welche auf den Bestand der kapitalistischen Produktionsverhältnisse abziele. Der Vordenker der Studentenbewegung Rudi Dutschke hatte, nachdem die Repressionen bei Demonstrationen (Schah-Besuch 1967, Erschießung von Benno Ohnesorg) einen Höhepunkt erreichten, erklärt:

„Alles politische Handeln hier steht und fällt jetzt im Kontext der internationalen revolutionären Bewegungen. […] Der Staat hat gezeigt, zu welchen Mitteln er greift, wenn eine Bewegung auf ihr Recht, das Recht auf Widerstand pocht. Da haben wir da die richtige Antwort nicht gefunden, wir dürfen aber von vornherein nicht auf eigene Gewalt verzichten, denn das würde nur ein Freibrief für die organisierte Gewalt des Systems bedeuten.“

Kritik

Dass viele Richtungen der Soziologie und Politikwissenschaft zögerten, den Begriff zu übernehmen, kann einerseits auf den Verdacht seiner ideologischen Verwendung zurückgeführt werden, andererseits darauf, dass man fürchtet, dass er von dem eingeführten und wohldefinierten Begriff „Herrschaft“ fast ununterscheidbar sei.

Der Staatsrechtler Josef Isensee sah in der „Lehre von struktureller Gewalt, die von der neomarxistischen Richtung der sog. Friedensforschung vertreten wird“, ein „Legitimationsschema zum Bürgerkrieg gegen das ‚kapitalistische‘ System“:

{{Zitat|‚Frieden‘ und (sozialistisch verstandene) soziale Gerechtigkeit werden in eins gesetzt. Soziale Ungerechtigkeit gilt als (strukturelle) Gewalt, gegen die (physische) Gegengewalt gerechtfertigt wird (vgl. J. Galtung, Strukturelle Gewalt, dt. Ausgabe 1975). Die begriffliche Identifikation verschiedener staatsethischer Ziele liefert das Legitimationsschema zum Bürgerkrieg gegen das ‚kapitalistische‘ System.|ref=[8]

Die Soziologin Nina Degele urteilt:

„Ohne Zweifel stellten die Aktionen der RAF einen gewaltsamen Angriff auf die bestehende Ordnung dar, mit dem Ziel diese umzuwerfen, als notwendiger Schritt auf dem Weg zur befreiten Gesellschaft. Dem Verständnis der RAF nach stellte diese Gewalt eine legitime Gegenwehr gegen die direkte und strukturelle Gewalt des kapitalistischen Systems dar. Nicht von der RAF ging die Gewalt aus, sondern von Staat und Ökonomie. Der Kampf gegen ein System, das täglich das Leben unzähliger Menschen kostet, legitimierte auch den Tod derjenigen, die in diesem Kampf ums Leben kamen.“[9]

.

Gustav Däniker, ehemaliger Stellvertretender Chef des Generalstabs der Schweizer Armee, schrieb in einer Analyse des Terrorismus im Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik:

„Nährboden waren insbesondere auch die Theorien systemkritischer Denker betreffend die sogenannte strukturelle Gewalt innerhalb demokratisch verfaßter Staaten, die es zu brechen gelte. Vom Schlachtruf: Macht kaputt, was Euch kaputt macht bis zum Slogan: Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht übten Kampfparolen eine Faszination aus, die durch den verbleibenden neomarxistischen und neotrotzkistischen harten Kern der 68-er Generation als Freipaß für die letzte befreiende Tat interpretiert wurden.“[10]

Auch heute werden laut dem Soziologen Helmut Willems[11]linksextremistisch motivierte Gewalttaten“ mit Verweis auf eine „strukturelle Gewalt des Systems“ gerechtfertigt:

„Das Bundesamt für Verfassungsschutz schätzt das Gewaltpotential der Linksextremisten als erheblich ein. Die Mehrzahl aller gewalttätigen militanten Aktionen im linken Spektrum geht weiterhin von den ‚anarchistisch orientierten autonomen Szenen‘ aus. […] Sie orientieren sich an oftmals diffusen kommunistischen oder anarchistischen Ideologiebestandteilen, stellen jedoch keine einheitliche Bewegung mit einem gemeinsamen ideologischen oder strategischen Konzept dar. […] Konsens und Gemeinsamkeit gibt es lediglich hinsichtlich der ‚antifaschistischen, antikapitalistischen und antipatriarchalen Grundhaltung‘ (in der Tradition der Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre) sowie im Hinblick auf die grundsätzliche Akzeptanz von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele. Dabei wird die eigene Gewalthandlung häufig als legitime Gegengewalt gegen die strukturelle Gewalt des Systems gerechtfertigt.“[12]

Der Politikwissenschaftler Dieter Nohlen kritisiert, dass der Begriff schwammig bleibe, da Galtung selbst sich dagegen gewehrt habe, ihn präzise zu explizieren. Seine Inhalte blieben daher fließend. Mehr als dass strukturelle Gewalt schlecht sei, bewusst gemacht und so überwunden werden müsse, sage der Begriff letztlich nicht aus.[13]

Siehe auch

Literatur

  • Johan Galtung: Gewalt, Frieden und Friedensforschung. in: Dieter Senghaas (Hrsg.), Kritische Friedensforschung, Frankfurt 1971 (auch in: Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek bei Hamburg 1975)
  • Dieter Senghaas (Hrsg.), Imperialismus und strukturelle Gewalt. Analysen über abhängige Reproduktion, 1976, ISBN 3-518-10563-9
  • Michael Roth, Strukturelle und personale Gewalt. Probleme der Operationalisierung des Gewaltbegriffs von Johan Galtung, 1988, ISBN 3-926197-36-6
  • Klaus Horn, Sozialisation und strukturelle Gewalt. Schriften zur kritischen Theorie des Subjekts, 1998, ISBN 3-930096-59-5
  • Josef Isensee, Grundrecht auf Sicherheit - Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983, ISBN 3-11-009816-4
  • Michael Riekenberg, Auf dem Holzweg? Über Johan Galtungs Begriff der „strukturellen Gewalt“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 172-177.

Einzelnachweise

  1. vgl. Johan Galtung: „Violence, peace and peace research“ in: Journal of Peace Research, Vol. 6, No. 3 (1969), pp. 167-191
  2. Galtung: Violence, Peace and Peace Research, S. 168; siehe hierzu und zum Folgenden Arno Waschkuhn: Gewalt als Thema der Politikwissenschaft. In: Michael Klein (Hrsg.) Gewalt – interdisziplinär. LIT Verlag, Münster 2002, ISBN 3-8258-6272-0, S. 111–132, hier S. 113f.
  3. Peter Waldmann: Politik und Gewalt. In: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik, Band 1: Politische Theorien. Directmedia, Berlin 2004, S. 431.
  4. Dieter Senghaas (Hrsg.): Imperialismus und strukturelle Gewalt. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987 (erste Auflage 1972).
  5. Negri/Hardt: Multitude, 2004, S. 270 (Online in der Google Buchsuche)
  6. Albert Fuchs: Wider die Entwertung des Gewaltbegriffes.
  7. (BRD - RAF) Das Konzept Stadtguerilla
  8. Isensee: Grundrecht Auf Sicherheit, 1983, Online in der Google Buchsuche}}
  9. Die RAF
  10. Däniker: Die 'neue' Dimension des Terrorismus - Ein strategisches Problem (PDF; 195 kB), in: Erich Reiter (Hrsg.), Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 1999, S. 79
  11. Forschungsverbund Desintegration: Projektleiter: Dr. Helmut Willems
  12. Helmut Willems: Strukturen und Entwicklungen politisch motivierter Kriminalität in Deutschland, 2001
  13. Dieter Nohlen: Strukturelle Gewalt. In: derselbe (Hrsg.): Lexikon der Politik. Band 7: Politische Begriffe. Directmedia, Berlin 2004, S. 626 f.

Weblinks

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