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Gisèle Freund

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Selbstporträt Gisèle Freund mit Kamera, Mexico City, 1950
Gisèle Freund (unten) und Anita Neugebauer (Basel 1996)

Gisèle Freund (gebürtig Gisela Freund; geb. 19. Dezember 1908 in Schöneberg (Berlin); gest. 31. März 2000 in Paris) war eine deutsch-französische Fotografin und Fotohistorikerin. Vor ihrem Tod wurde sie französische Staatsbürgerin.

Leben

Sie wuchs in einer wohlhabenden jüdischen Familie im Bayerischen Viertel von Berlin-Schöneberg auf. Ihr Vater, der Kunstsammler Julius Freund, weckte früh ihr Verständnis für Bilder und schenkte der Amateurfotografin zum Abitur eine Leica. Sie studierte ab 1929 in Freiburg im Breisgau, dann ab 1930 bei Karl Mannheim in Frankfurt am Main Soziologie. Am benachbarten Institut für Sozialforschung nahm sie auch an Seminaren von Max Horkheimer teil. Als Mitglied der Roten Studentengruppe stand sie der KPD nahe.

Ihr Mentor Norbert Elias, damals Assistent von Karl Mannheim, riet ihr, die Anfänge der Fotografie in Frankreich in einer soziologisch-ästhetischen Doktorarbeit zu untersuchen. Sie hielt sich deshalb für Forschungen seit 1931 überwiegend in Paris auf. Als im April 1933 die jüdischen Professoren in Deutschland durch ein nationalsozialistisches Gesetz in den Ruhestand versetzt wurden und Karl Mannheim nach London emigrierte, entschied sich auch Freund für die Emigration und beendete in Paris ihre Dissertation.

Der Vater Julius Freund, Porträt von Max Slevogt, 1925

Wesentliche Unterstützung erfuhr sie dabei durch die Buchhändlerin und Schriftstellerin Adrienne Monnier, mit der sie eine sehr enge Freundschaft verband. Monnier übersetzte die Doktorarbeit ins Französische und publizierte sie zur Promotion an der Sorbonne 1936 im Verlag ihrer Buchhandlung. La Photographie en France au dix-neuvième siecle war der erste Versuch, das Aufkommen der Porträtfotografie materialistisch zu erklären. Die Arbeit ist ein Meilenstein in der Erforschung der modernen Bildkultur. Das deutsche Original erschien erst 1968 unter dem Titel Photographie und bürgerliche Gesellschaft. Eine kunstsoziologische Studie.

Noch als Studentin begann Freund, fotojournalistisch zu arbeiten. Ihre erste bedeutende Reportage schilderte das Leben der Arbeitslosen im nordenglischen Industrierevier und erschien 1935 in Weekly Illustrated, ein Jahr später als Nachdruck in der neu gegründeten Life. Im Zusammenhang einer Reportage über den von Moskau gesteuerten Internationalen Schriftsteller-Kongress, der 1935 in Paris stattfand, gelang ihr ein Porträt von André Malraux, das durch seine schnappschußartige Beiläufigkeit und grafische Brillanz einen romantisch-revolutionären Helden der Zeit zur Ikone erhob.

Als 1938 der Agfacolor-Diapositivfilm in Frankreich auf den Markt kam, begann Freund, eine Sammlung von Farbporträts von Schriftstellern anzulegen. Sie fotografierte die Autoren, die sie meist durch Monnier kennengelernt hatte, in regelrechten Porträtsitzungen bei Lampenlicht. Die Bilder bekamen dadurch eine ruhige ästhetische Einheit, die an die Konzeption der Galerie contemporaine von Nadar und anderen Fotografen des Second Empire erinnerte. In etwa eineinhalb Jahren nahm sie in Paris und London über achtzig Schriftsteller auf, von denen später viele zu den wichtigen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts gezählt wurden: Aragon, Breton, Benjamin, Cocteau, Colette, Eliot, Éluard, Gide, Joyce, Koestler, Montherlant, Rolland, Shaw, Valéry, Wilder, Woolf, Zweig u. a.

Dieses einzigartige Farbporträt-Werk wurde erst viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg publiziert und begründet heute Freunds Berühmtheit als Porträtistin des Geistes. In manchen Fällen – Joyce, Malraux und Woolf – ist Freunds Bildnis so stark ins öffentliche Bewusstsein eingegangen, dass es kanonisch für die Figur selbst steht. Als François Mitterrand 1981 französischer Staatspräsident wurde, kannte er diese Ahnengalerie, und er bat Freund, sein offizielles Porträt aufzunehmen. Sie setzte ihn wie die Schriftsteller von einst ins Lampenlicht. Ein Jahr darauf wurde sie mit dem Orden der Légion d‘honneur ausgezeichnet und erhielt ihren französischen Personalausweis.

Kurz vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris 1940 floh Freund in das Departement Lot und verbrachte ein Jahr bei Bauern in der freien Zone. Sie hatte zwar 1936 Pierre Blum, den Freund eines Cousins von Adrienne Monnier, geheiratet, um französische Staatsbürgerin zu werden. Aber sie zweifelte nicht daran, dass sie im besetzten Frankreich in Lebensgefahr war. Durch die Hilfe der vermögenden argentinischen Literatin Victoria Ocampo gelang ihr die Flucht nach Buenos Aires. Diese Stadt blieb ihre Lebensbasis bis zum Kriegsende. Die Ehe mit Blum wurde 1948 einvernehmlich geschieden.

Die erzwungenen südamerikanischen Jahre waren für Freund eine glückliche und produktive Zeit. Sie reiste durch Patagonien und fotografierte dort und in den Andenstaaten mit der Neugier einer Ethnografin. In Chile gehörte sie 1945 als Regieassistentin und Standfotografin zu einer französischen Schauspieltruppe, die unter der Regie von Jacques Rémy den Spielfilm La Fruta mordida realisierte. Als Robert Capa und andere ehemalige Kriegsfotografen 1947 die Fotoagentur Magnum gründeten, wurde Freund ein assoziiertes Mitglied. Sie lebte überwiegend in Mexiko-Stadt, gehörte zum Freundeskreis um Frida Kahlo und Diego Rivera, und fotografierte in ganz Mittel- und Südamerika.

Magnum verkaufte ihre Reportagen und Porträts international an Magazine, darunter auch 1950 eine Bilderserie über Evita Perón, die zu ihren besten journalistischen Arbeiten zählt. Wenig später kam es zum Bruch mit der Agentur. Freund arbeitete ab 1952 von Paris aus und erweiterte ihre Porträtsammlung um Schriftsteller der Nachkriegszeit: Beauvoir und Sartre, Beckett, Duras, Ionesco, Leiris, Michaux, Sarraute u.a. wurden von ihr nun in einem diskret-beobachtenden Stil und meist in schwarzweiß erfasst. Mitte der sechziger Jahre endete ihre aktive Zeit als Fotografin. Sie lebte jetzt von ihrem umfangreichen Porträtarchiv, auf das Magazine, Buchverlage und das Fernsehen zurückgriffen.

Eine erste große Einzelausstellung ihrer Porträts zeigte 1968 das Musée d'art moderne de la ville de Paris. Zwei Jahre später veröffentlichte Freund eine Autobiografie Le Monde et ma camera, die mit der Schilderung ihrer dramatischen Flucht im Nachtzug aus Hitler-Deutschland einsetzte. Damit begann die Legendenbildung um ihre Person, die sie in den Jahren ihrer Berühmtheit mit vielen Interviews nährte. Die Entdeckung ihres Werks und ihre besondere Beliebtheit in Deutschland setzten Mitte der siebziger Jahre ein, parallel zur Frauenbewegung und zur Trennung von Fotografie und Fotokunst durch den Kunstbetrieb. Als die documenta in Kassel 1977 ein für den Kunsthandel hergestelltes Portfolio mit zehn ihrer frühen Farbporträts zeigte, war aus der Fotografin Freund eine Fotokünstlerin geworden.

Alle 180 Bilder einer Freund-Werkschau der Sidney Janis Gallery in New York wurden 1979 vom Center for Creative Photography in Tucson erworben. Bildbände und mehrere Fernsehfilme machten ihr Leben und Werk vor allem in Frankreich und Deutschland bekannt. Auf dem Höhepunkt ihrer Berühmtheit richtete das Centre Georges Pompidou 1991 Freund eine große Retrospektive aus, die von 400.000 Menschen besucht wurde. Die 250 Werke dieser Schau gingen als Geschenk von Freund in die Sammlung des Musée National d’Art Moderne ein.

Am 31. März 2000 starb Gisèle Freund im Alter von 91 Jahren in Paris an Herzversagen. Sie hat keine Nachkommen. Die Agence Nina Beskow, von ihrer letzten Mitarbeiterin und Freundin gegründet, betreut in Paris ihr fotografisches Werk. Ihr Grab befindet sich auf dem Montparnasse-Friedhof in Paris.

Leistungen

Gisèle Freund gilt heute als eine Künstlerin, die durch ihre Fotografien und durch ihre Biografie wirkte. Sie hat ihr Werk immer an die Erzählung ihres bewegten Lebens, an ihre Liebe zur Literatur und zu den Literaten, an ihre oft radikalen Ansichten gebunden. Die Frau mit der Kamera – wie eines ihrer letzten Bücher hieß – war eine der großen Frauen des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihre kunstsoziologische Studie Photographie und bürgerliche Gesellschaft thematisiert auf Basis einer materialistischen Gesellschaftstheorie den Zusammenhänge zwischen französischer Portraitfotografie und dem Aufstieg von Bürgertum und Kleinbürgertum, hatte bleibenden Einfluss auf die kritische Analyse der Photographie. Dabei kritisiert sie insbesondere die Scheinobjektivität des Mediums.[1]

Werke

Einzelausstellungen

  • 2011: Kunsthalle Jesuitenkirche, Aschaffenburg
  • 2009: Focke Museum, Bremen
  • 2008: Versicherungskammer Bayern, München
  • 2002: Centre de Cultura Contemporania, Barcelona
  • 1996: Galerie Nationale du Jeu de Paume, Paris
  • 1996: Sprengel Museum, Hannover
  • 1996: Berliner Festwochen
  • 1995: Museum für moderne Kunst, Frankfurt am Main
  • 1994: Museum für Photographie, Braunschweig
  • 1992: Hammoniale, Hamburg
  • 1991: Centre Georges Pompidou, Paris
  • 1990: Akademie der Künste, Berlin
  • 1989: Galerie de France, Paris
  • 1988: Werkbund-Archiv, Berlin
  • 1987: Galerie Zur Stockeregg, Zürich
  • 1984: Fotografie Forum, Frankfurt am Main
  • 1983: Stanford University Museum
  • 1982: Koplin Gallery, Los Angeles
  • 1981: Center for Creative Photography, Tucson, Arizona
  • 1980: Galerie Agathe Gaillard, Paris
  • 1979: Sidney Janis Gallery, New York
  • 1978: Harcus Krakow Gallery, Boston
  • 1977: Rheinisches Landesmuseum, Bonn
  • 1977: Galerie Lange-Irschl, München
  • 1975: Robert Schoelkopf Gallery, New York
  • 1968: Musée d'art moderne de la ville de Paris
  • 1963: Bibliothèque Nationale, Paris

Monografien

  • 2001: en face. Gisèle Freund photographiert von Tom Fecht. Berlin (Ausstellungskatalog)
  • 1996: Malraux sous le regard de Gisèle Freund. Paris (Ausstellungskatalog)
  • 1996: Berlin-Frankfurt-Paris. Fotografien 1929-1962. Berlin (Ausstellungskatalog)
  • 1996: Gesichter der Sprache. Schriftsteller um Adrienne Monnier. Fotografien zwischen 1935 und 1940. Hannover (Ausstellungskatalog)
  • 1995: Fotografien zum 1. Mai 1932. Frankfurt am Main (Ausstellungskatalog. Die Fotos entstanden ausnahmslos vor 1932)
  • 1994: Zwei Reportagen. Braunschweig (Ausstellungskatalog)
  • 1992: Die Frau mit der Kamera. München (zugleich als Ausstellungskatalog Hamburg)
  • 1992: Gisèle Freund Portrait. Entretiens avec Rauda Jamis. Paris (dt. Ausgabe: Gespräche mit Rauda Jamis. München 1993)
  • 1991: Catalogue de l'œuvre photographique Gisèle Freund. Paris (Ausstellungskatalog)
  • 1989: Porträts von Schriftstellern und Künstlern. München
  • 1988: Gisèle Freund. Berlin (Ausstellungskatalog; mehrere unterschiedliche Auflagen)
  • 1985: Photographien. München (bis heute die maßgebliche Monografie; mehrere Auflagen und engl. und franz. Lizenzausgaben)
  • 1982: Trois jours avec Joyce. Paris (dt. Ausgabe: Drei Tage mit James Joyce. Frankfurt am Main 1983)
  • 1977: Mémoires de l'œil. Paris (dt. Ausgabe: Memoiren des Auges. Frankfurt am Main 1977)
  • 1977: Fotografien 1932-1977. Bonn (Ausstellungskatalog)
  • 1976: Photographie und Gesellschaft. München (deutsche Ausgabe von * 1974; mehrere Auflagen und Ausgaben)
  • 1975: The World In My Camera. New York (um viele Abbildungen erweiterte engl. Ausgabe von * 1970)
  • 1974: Photographie et société. Paris (völlig veränderte und erweiterte Fassung von * 1968)
  • 1970: Le Monde et ma camera. Paris
  • 1968: Photographie und bürgerliche Gesellschaft. München (deutsche Ausgabe von * 1936)
  • 1968: Au pays des visages 1938-1968. Paris (Ausstellungskatalog)
  • 1965: James Joyce in Paris. New York
  • 1954: Mexique Précolombien. Neuchâtel
  • 1936: La Photographie en France au dix-neuvième siècle. Paris

Hörbuch

  • 2000: Ein Leben für die Leica. Gisèle Freund im Gespräch. o.O. (SWR-Sendung von 1983)

Einzelnachweise

  1. Sigrun Brox: Bilder sind Schüsse ins Gehirn: das Bild in der Werbefotografie der 90er Jahre, www.verlag-ludwig.de, 2003, ISBN 3-933598-73-7, S. 40

Literatur

  • Bettina de Cosnac: Gisèle Freund. Ein Leben. Arche Verlag, Zürich/Hamburg 2008.
  • Christina Lieb: Gisèle Freund: Die farbigen Schriftstellerporträts der Jahre 1938–40. Magisterarbeit Universität Freiburg i.Br. 1999.
  • Nina Toepfer: Chronik von Leben und Werk. In: „du“, März 1993, S.61–71.

Weblinks

Siehe auch

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