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Vertreibung

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Dieser Artikel erläutert Vertreibungen von Menschen bzw. Menschengruppen zu allen Zeiten in allen Ländern. Zu der Vertreibung der Deutschen von 1944 bis 1950 vgl. Heimatvertriebene.
Vertreibung von Serben durch das Ustascha-Regime, 1941
Vertreibung von Deutschen aus Schlesien 1945
Flüchtlingslager in Zaire in Folge des Völkermords in Ruanda, 1994

Der Begriff Vertreibung ist ein Oberbegriff für staatliche Maßnahmen gegenüber einer ethnischen, religiösen, sozialen oder politischen Gruppe, die diese zum Verlassen der Herkunftsregion zwingen.

Definitionen und Abgrenzungen

Der Begriff der Vertreibung ist weder juristisch noch historisch klar und unmissverständlich definiert, es ist vielmehr ein Terminus der politischen Sprache.

Flucht ist das ungeordnete, teilweise panische Zurückweichen vor einem Feind, Angreifer, einer Gefahr oder einer Katastrophe. Häufig werden beide Begriffe zusammen – in der Formulierung „Flucht und Vertreibung“ – verwendet.

Darüber hinaus werden zahlreiche Begriffe verwendet, die weitgehend synonym sind, aber bestimmte Konnotationen haben:

  • Vertreibung beinhaltet erzwungenes Verlassen eines Ortes oder Gebiets aufgrund von Ausweisung oder (staatlicher) Verfolgung. Da es neben massiver Verfolgung politische und gesellschaftliche Diskriminierungen oder rein ökonomisch begründeten Druck unterschiedlichsten Grades gegeben hat und gibt, ist es ohne Nachweis einer Ausweisung oder Gewaltandrohung oft schwer, Vertreibung gegenüber freiwilliger Auswanderung oder auch freiwilligem großräumigem Ortswechsel innerhalb eines Staates abzugrenzen.
  • Deportation (lat. deportare „wegbringen“, „fortschaffen“): Ein Staat transportiert Menschen zwangsweise in andere Gebiete. Die Deportierten sind oft politische Gegner oder ethnische Minderheitn. Die Deportation ist somit die staatliche Verbringung von Menschen in andere Gebiete, die in der Regel aufgrund eines Gesetzes oder Erlasses, mitunter auch willkürlich zum Zwecke kollektiver Strafmaßnahmen, zwangsweiser Unterdrückung oder Isolation ausgesprochen wird.
  • Ausweisung ist ein Verwaltungsakt mit dem Ziel, die Anwesenheit des Betroffenen in einem Land zu beenden und ihm Wiedereinreise und weiteren Aufenthalt zu verwehren. Ausweisungen stellen grundsätzlich Interessen eines Staates oder einer Gemeinschaft über das Wohl des Ausgewiesenen.
  • Abschiebung ist der behördliche Vollzug einer in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellten Ausreisepflicht (Ausweisung).
  • Flüchtlinge verlassen ihre Heimat nicht auf behördliche Anordnung, sondern um einer – möglicherweise lebensbedrohenden – Gefahr zu entgehen. Im Unterschied zu Vertriebenen werden sie nicht unmittelbar zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen. Falls Flüchtlingen oder Ausgewiesenen die Rückkehr in ihre Heimat verwehrt wird, unterscheidet sich ihre Lage nicht mehr von der Lage von Vertriebenen.
  • Ethnische Säuberung etablierte sich mit der Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts bei Juristen und Historikern (und später auch in Medien und der Öffentlichkeit) als Begriff für Maßnahmen, die das Ziel haben, Bevölkerungsgruppen zu entfernen, die der Vorstellung der Behörden oder einer mächtigen Bevölkerungsgruppe von der sprachlichen oder kulturellen Zusammensetzung ihres Gemeinwesens widersprechen. Von den Methoden ist der Genozid mit Abstand die verbrecherischste, die Vertreibung aber auch hochgradig inhuman.
  • Staatlich erzwungene Umsiedlung hat in Imperien auch häufig dem Zweck gedient, verschiedene Bevölkerungsgruppen zu mischen, um dadurch separatistischen Aktivitäten vorzubeugen.
  • Neben vorrangig staatspolitisch motivierten Vertreibungen gab und gibt es auch immer wieder vorrangig wirtschaftlich motivierte im Rahmen großräumiger Änderungen der Flächennutzung. Beispiele sind große Staudammprojekte, in jüngerer Zeit etwa in der Volksrepublik China und in der Türkei, Tagebaue (etwa Ostdeutschland oder die Ville) sowie die Anlage von Großfarmen in Gebieten mit bisher traditionellen Wirtschaftsformen, etwa in Indonesien. Längst nicht immer sind die Behörden willens und in der Lage, Einwohnern, die diesen Projekten weichen müssen, angemessene Entschädigungen und attraktive neue Siedlungsgebiete zur Verfügung zu stellen.

In Deutschland und Österreich verbindet man den Begriff „Vertreibung“ im Alltagsverständnis vor allem mit der Flucht, Ausweisung und Zwangsumsiedlung von Deutschen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches sowie aus dem Sudetenland, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Ergebnis alliierter Übereinkunft unter die Verwaltung der Volksrepublik Polen und der Sowjetunion gefallen waren beziehungsweise wieder Teil der Tschechoslowakei wurden.

In der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR war „Umsiedler“ die offizielle Bezeichnung. Der Begriff „Vertriebene“ wurde vermieden.

Vertreibungen in der Antike

Als Babylonisches Exil wird die Epoche der Geschichte Israels bezeichnet, die 598 v. Chr. mit der Eroberung Jerusalems durch den babylonischen König Nebukadnezar II. begann und bis zur Eroberung Babylons 539 v. Chr. durch den Perserkönig Kyros II. dauerte. Ein Großteil der Bevölkerung, vor allem die Oberschicht, wurde nach Babylon exiliert und dort zwangsangesiedelt.

Zu den bekanntesten Vertreibungen im Römischen Reich gehört die Vertreibung der Juden aus Palaestina nach der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes von 132 bis 135 n. Chr.

Die Urchristen wurden im Imperium Romanum Opfer tödlicher Verfolgungen, nicht aber von Vertreibungen, mit Ausnahme ihrer Vertreibung aus Judäa als jüdische Sekte (siehe Christenverfolgungen im Römischen Reich).

Vertreibungen im Mittelalter

  • Karl der Große (747–814):
    • Umsiedlung von Friesen ins Binnenland zu deren besserer Kontrolle
    • Vertreibung der Sachsen aus Ostholstein um 811, als er dieses den bei der Unterwerfung der Sachsen verbündeten slawischen Wagriern überließ.
  • Friedrich I., genannt „Barbarossa“:
    • 1162 Vertreibung der Einwohner Mailands aus ihrer Stadt, die sie lange Jahre nicht betreten und wieder aufbauen durften.

Vertreibungen in der Neuzeit (bis Anfang 20. Jahrhundert)

  • Österreich:
    • 16. Jahrhundert: Tötung und Vertreibung tausender Hutterer (Anhänger von Jakob Hutter) sowie weiterer Täufer und Protestanten. 1540 wurden ungefähr 80 männliche Hutterer, die ihrem Glauben und gemeinschaftlichen Leben abzusagen nicht bereit waren, in ihrer Siedlung bei Steinabrunn in Niederösterreich verhaftet, später gefoltert und getrennt von ihren Familien lebenslänglich als Rudersklaven auf den kaiserlichen Galeeren verurteilt. Kaiser Ferdinand II. (1619–1637) erklärte, „lieber über eine Wüste als über ein ketzerisches Land herrschen zu wollen.“ Nach der Niederlage der evangelischen Stände Böhmens in der Schlacht am Weißen Berg (1620) wurden Tausende zur Auswanderung aus den tschechischsprachigen Kronländern gezwungen, darunter Jan Amos Komensky (Philosoph, Erzieher und Bischof der Brüder-Unität).
    • Erst Kaiser Joseph II. gewährte durch das Toleranzpatent vom 13. Oktober 1781 den Vertretern des Augsburger und Helvetischen Bekenntnisses (Lutheranern und Reformierten) sowie den nichtunierten Griechen (Orthodoxe) ohne Rücksicht auf den bisherigen Rechtsstand ein ihrer Religion gemäßes Privatexercitium und gewisse bürgerliche Rechte, die auf beschränkte bürgerliche Gleichberechtigung mit den Katholiken hinausliefen und somit vor Vertreibung schützten. Trotz des 1781 durch den römisch-deutschen Kaiser erlassenen Toleranzpatentes für die Evangelischen wurden beispielsweise 1834 noch 440 Zillertaler aus Tirol ausgewiesen.
  • Schottland: Seit etwa 1780 wurden während der Highland Clearances etwa 500.000 großenteils Gälisch sprechende Einwohner aus dem schottischen Hochland vertrieben, in manchen Gegenden über 90 % der Bevölkerung. Die vordergründig wirtschaftlich begründete Maßnahme (lukrative extensive Schafzucht) erfüllte auch einen politischen Zweck, da die Highländer an mehreren Aufständen gegen die englische Krone teilgenommen hatten.
  • Afrika: Bereits vor der europäischen Kolonialherrschaft, die überwiegend im 19. Jahrhundert begann, haben sich Völker in Afrika gegenseitig bekriegt, wobei es auch zu Vertreibungen kam; dies setzte sich während und nach der Kolonialzeit fort, so zum Beispiel in Ruanda in den 1990er-Jahren.

Vertreibungen während und nach dem Ersten Weltkrieg

  • Türkei: Vertreibung und Völkermord an zahlreichen Armeniern und Griechen 1915. Den Armeniern wurde Untreue gegenüber dem Osmanischen Reich vorgeworfen. Mehrere Hunderttausend Menschen wurden ermordet und vertrieben.
  • Zweite Polnische Republik: 1918/19 bis 1939 verließen rund 1,5 Millionen Deutsche die gemäß dem Versailler Vertrag polnisch gewordenen gemischten Siedlungsgebiete (u. a. im Polnischen Korridor), wobei in Oberschlesien Deutsche wie Polen in großer Zahl aus ihrem bisherigen Wohnort in den Staat ihrer Wahl zogen.
  • Nordschleswig: Abwanderung von ca. 12.000 Deutschen von 1920 an, nur teilweise infolge Ausweisung. In Dänemark konnten die Deutschen weiterhin ihre Kultur pflegen, können es dort bis heute.
  • Elsaß-Lothringen: Ausweisung von ca. 132.000 Deutschen nach 1918. Die Franzosen führten ein Klassifizierungs-System ein: Nach 1871 zugezogene Deutsche (niedrigste von vier Stufen) wurden grundsätzlich vertrieben. Etwa 200.000 Personen mussten nach Deutschland übersiedeln. Etwa die Hälfte davon konnte in den folgenden Monaten wieder nach Elsaß-Lothringen zurückkehren, nachdem US-Präsident Woodrow Wilson auf die Regierung in Paris Druck ausgeübt hatte.
  • Memelland: Vertreibung von ca. 16.000 Deutschen nach 1923 durch den litauischen Staat.
  • Saargebiet: Die Abwanderung von ca. 37.000 Deutschen ist keinesfalls als Vertreibung zu bezeichnen.
  • Griechenland und Türkei: Griechenverfolgungen im Osmanischen Reich 1914–1923 und Vertreibung der jeweiligen Minderheiten als Folge des Ersten Weltkrieges und des Griechisch-Türkischen Krieges. Beginnend 1920 wurden mehrere Hunderttausend Menschen umgesiedelt und größtenteils vertrieben, davon ungefähr dreimal so viele Griechen wie Türken. Die Vertreibungen wurden von zahlreichen Massakern begleitet. Es handelte sich um den ersten umfangreichen, zwischen zwei Staaten abgemachten „Bevölkerungsaustausch“ in der Weltgeschichte. Er war Bestandteil des Vertrags von Lausanne.[1]

Vertreibungen während des Zweiten Weltkriegs

Zwangsumsiedlung von Polen aus dem Wartheland durch das nationalsozialistische Deutschland (1939)

Die Vertreibung eines großen Teils der jüdischen Deutschen durch immer weitergehende Formen der Entrechtung und Verfolgung seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war ein Zwischenschritt bis zur Judenvernichtung, aus NS-Sicht „Endlösung der Judenfrage“, ab 1941; dabei wird sowohl von dem individuellen Erleben aus Sicht der Opfer (Zwang zum Gang ins Exil) gesprochen wie auch von einer Vertreibung ganzer Gruppen von Intellektuellen, Künstlern (z. B. Filmschaffende oder „Verstummte Stimmen – die Vertreibung der ‚Juden‘ aus der Oper 1933 bis 1945“ (Wanderausstellung)), Medizinern oder Juristen und anderen durch Gesetzgebung und Maßnahmen im Geschäftsleben oder privaten Umfeld.

Zu den Maßnahmen nationalsozialistischer Rassen-, Großraum-, Siedlungs- und Bevölkerungspolitik gehörten groß angelegte Planungen und Umsiedlungsprojekte im Vorfeld und während des deutschen Krieges gegen die Sowjetunion. Dabei kam es zu brutalen Vertreibungen und Deportationen:

  • die Deportationen unter sowjetischer Herrschaft, unter anderem im Baltikum 1940 sowie die Auflösung der Wolgarepublik der deutschen Minderheit als ein ethnischer Risikoträger und die Aussiedlung ihrer Bewohner nach Kasachstan und in andere Teile der Sowjetunion nach dem deutschen Angriff 1941;
  • die deutsche Zwangsbesiedlung von zuvor ganz oder teilweise polnischen Gebieten im Zweiten Weltkrieg (Warthegau) und die vorangegangene Vertreibung von rund 650.000 Polen aus ihrer westpreußischen Heimat in das so genannte Generalgouvernement im Jahr 1941. Eine weitere Vertreibungsaktion betraf 110.000 Polen im Raum der südostpolnischen Stadt Zamość, dt. Zamosch, die Aktion Zamosc. (Beide Zahlen stammen aus offizieller polnischer Quelle von 2004.) In beiden Regionen wurden Deutsche aus Osteuropa angesiedelt.

Der Generalplan Ost, Grundlage der Maßnahmen in Polen, war das 1941 und 1942 vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) der SS ausgearbeitete Vorhaben, nach der Vernichtung der europäischen Juden weitere von den Nationalsozialisten als „minderwertig“ bezeichnete Rassen (vor allem slawische Völker) langsam nach Ostrussland und Sibirien zu vertreiben. Voraussetzung war der Sieg gegen die Sowjetunion. Der Internationale Militärgerichtshof („Nürnberger Kriegsverbrechertribunal“) hat diese Vertreibungen im Prozess Rasse- und Siedlungshauptamt der SS 1948 eindeutig als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewertet und geahndet. Auch die Neuansiedlungen wurden als Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung bestraft (vgl. Vertreibung und Völkerrecht). Dazu gehörten:

  • die von Adolf Hitler und Benito Mussolini 1939 vereinbarte Umsiedlung der Südtiroler, die so genannte Option. Dabei wurden Südtiroler gezwungen, zwischen der Aufgabe ihrer Heimat und der Aufgabe ihrer deutschen Sprache und Kultur zu wählen. Wer sein Volkstum behalten wollte, musste Südtirol verlassen. Unter dem Eindruck der intensiven Propaganda der beiden Diktatoren entschieden sich rund 86 Prozent für das Verlassen der Heimat. Mehr als 76.000 (ein Drittel) musste Südtirol dann tatsächlich verlassen, wenig mehr als 20.000 kehrten nach Kriegsende zurück;[2]
  • zwischen Hitler und Mussolini wurde 1939 ebenfalls vereinbart, im Rahmen der beabsichtigten Aufteilung Jugoslawiens in deutsche und italienische Interessenssphären die Gottscheer aus ihrer seit 600 Jahren besiedelten Heimat im Süden des heutigen Sloweniens auszusiedeln. Unter erheblichem propagandistischen Druck entschieden sich nach der Besetzung Jugoslawiens 1941 12.000 der 13.000 Gottscheer für die Option der Umsiedlung in das „Ranner Dreieck“ genannte Gebiet der Untersteiermark südlich der Save um Brežice, wo sie sich „an der Südostgrenze des Deutschen Reiches zu bewähren“ hätten (Heinrich Himmler am 20. April 1941 bei einer Vorsprache von Gottscheern im Hotel Bauer in Bruck/Mur);
  • die von Hitler und Stalin 1939 vereinbarte Aussiedlung von Deutschen aus Gebieten unter sowjetischer Herrschaft, insbesondere aus Estland und Lettland sowie aus Bessarabien; die meisten von ihnen wurden in polnischen Gebieten (südliches Westpreußen, Posener Land oder Warthegau, vereinzelt auch in anderen Teilen Polens) angesiedelt.

Flucht und Vertreibung der Deutschen von 1944 bis 1950

Hauptartikel: Heimatvertriebene
Odsun: Vertriebene Sudetendeutsche warten mit Handgepäck auf ihren Abtransport

Der Flucht und der Vertreibung von Deutschen aus den Ländern östlich von Oder und Lausitzer Neiße ging die Massendeportation und die Ermordung von Juden, Polen und Russen in den im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht eroberten Gebieten voraus. Millionen von Menschen wurden zur Zwangsarbeit in das Deutsche Reich verbracht. Volksdeutsche aus Südtirol und Russlanddeutsche wurden in den eroberten Gebieten im Osten der Reichsgrenze neu angesiedelt und sollten dort neue „deutsche Siedlungsinseln“ bilden.

Bereits ab Sommer 1941 forderten die polnische und die tschechoslowakische Exilregierung in London Grenzkorrekturen nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland. Dies sollte ausdrücklich die Entfernung der deutschen Bevölkerung aus diesen Gebieten und auch aus dem übrigen Staatsgebiet einschließen. Die Motive für diese Forderung waren vielfältig: Außer Macht- und Besitzstreben sollten die geforderten Gebiete eine Entschädigung für die Verluste an Gütern und Menschen während der Besatzungszeit sein. Dies forderte vor allem die polnische Exilregierung in London und verwies auf die Verbrechen der Nationalsozialisten im Generalgouvernement. Zum anderen zielte insbesondere die Sowjetunion auf eine Verkürzung ihrer Westgrenze, um sie – im Falle eines neuerlichen Angriffs – leichter gegen das nationalsozialistische Deutschland verteidigen zu können. Neben diesem militärstrategischen Argument konnte die Sowjetunion darauf hoffen, mit der Vertreibung und Enteignung von Millionen Deutschen gegenüber Polen und der Tschechoslowakei dauerhaft als Garantiemacht eines neuen Status quo auftreten zu können. Mit diesem Kalkül hatten das zaristische Russland und später die Sowjetunion bereits im Nordkaukasus Vertreibungen als Mittel der Politik angewandt. 1944 ließ Stalin einige Bergvölker (Balkaren, Tschetschenen, Inguschen und andere) nach Mittelasien deportieren.

Die geforderte Vertreibung der Deutschen wurde mit einem Verweis auf das Verhalten der deutschen Besatzer zu legitimieren versucht. Hinzu kamen, insbesondere in Polen, sozioökonomische Ziele. Weite Gebiete Ostmitteleuropas galten damals als überbevölkert.

Flucht und Vertreibung aus der Tschechoslowakei

Odsun (speziell im sudetendeutschen Sprachgebrauch: „Abschub“[3], auch „Abtransport“) ist die tschechische Bezeichnung für die durch die Beneš-Dekrete veranlasste Vertreibung bis zu drei Millionen Sudetendeutscher in den Jahren 1945 und 1946. Der Vorgang richtete sich in geringerer Intensität auch gegen die Ungarn in der Südslowakei.

Flucht und Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten

Kinder aus den unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten kommen in einer der westalliierten Besatzungszonen an. (August 1948)

Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 setzte die Sowjetunion die Abtrennung der bereits 1939 bis 1941 sowjetisch besetzten polnischen Ostgebiete an die Sowjetunion durch, die ihrerseits im Ergebnis des polnisch-sowjetischen Krieges 1920–1921 von Polen annektiert worden waren. Mit dem polnisch-sowjetischen Geheimvertrag vom 27. Juli 1944 hatte die sowjetische Regierung anerkannt, dass „die Grenze zwischen Polen und Deutschland auf einer Linie westlich von Swinemünde zur Oder, wobei Stettin auf polnischer Seite bleibt, weiter den Lauf der Oder aufwärts zur Mündung der Neiße und von hier an der Neiße bis zur tschechoslowakischen Grenze festgelegt werden soll“; auch der zweite Grenzvertrag vom 16. August 1945 mit der Regierung der nationalen Einheit enthielt diese Festlegung. Eine verbreitete Annahme lautet, die Übergabe der Ostgebiete des Deutschen Reiches an Polen sei von Anfang an als ein Ausgleich für den Verlust im Osten gedacht gewesen. Doch diese Erklärung wurde erst später Teil der sowjetischen Begründung. Die polnischen Ostgebiete waren – ähnlich beachtlichen Teilen der deutschen Ostgebiete, jedoch mit geringerem Anteil des Staatsvolkes – ethnisch heterogen, wobei in den Großstädten wie Lwów (Lemberg) und Wilna (Vilnius) die Polen dominierten, auf dem Land außer in der Gegend um Wilna Weißrussen, Ukrainer oder Litauer. Polen, Weißrussen und Ukrainer stellten die größten Volksgruppen, wobei um Wilna die Polen, zwischen Njemen (Memel) und Pripjet die Weißrussen, südlich des Pripjet die Ukrainer die Mehrheit stellten.[4]

Tatsächlich forderten seit 1939 nicht nur die polnischen Kommunisten erhebliche deutsche Gebiete ohne ihre angestammte Bevölkerung, sondern auch die bürgerlich-polnische Exilregierung in London, wenn auch zunächst in wesentlich geringerem Umfang (es ging um Teile Ostpreußens und Schlesiens). Die Forderung einer Oder-Neiße-Linie hatte eine bis 1917 zurückreichende Geschichte[5] und erhielt Nahrung durch das Versprechen Stalins von 1941 gegenüber Władysław Sikorski, dass die künftige Westgrenze Polens die Oder sein werde.[6] In der polnischen Westforschung waren diese Vorstellungen in Entgegnung auf die deutsche Ostforschung auf eine bis ins 10. Jahrhundert zurückreichende Argumentationsbasis gestellt worden. Daraus ergab sich bei Kriegsende die Einrichtung des bis 1949 bestehenden „Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete“.[7]

Potsdamer Beschlüsse – Grenzfragen

Außenministerium der Vereinigten Staaten, Potsdamer Konferenz: das mögliche Vertreibungsgebiet mit Bevölkerung

Auf der Potsdamer Konferenz 1945 wurden die neuen Staatsgrenzen in Ostmitteleuropa von den Alliierten der Form nach erst vorläufig festgeschrieben, als die deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße polnischer und sowjetischer Verwaltung unterstellt wurden. Von einer „endgültigen Übergabe“ – an die Sowjetunion – „vorbehaltlich der endgültigen Bestimmung der territorialen Fragen bei der Friedensregelung“ ist explizit nur für die „(Abschnitt VI.) Stadt Königsberg und das anliegende Gebiet“ die Rede. Laut Protokoll erklärten die Regierungen der USA und Großbritanniens, bei einer kommenden Friedenskonferenz den sowjetischen Anspruch auf das Gebiet um Königsberg (nördliches Ostpreußen) unterstützen zu wollen, während eine derartige Erklärung zugunsten Polens nicht dokumentiert ist.
In Abschnitt IX.b (Polen) wird bestimmt, dass „die früher deutschen Gebiete […] einschließlich des Teiles Ostpreußens, der nicht unter die Verwaltung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken […] gestellt wird, und einschließlich des Gebietes der früheren Freien Stadt Danzig unter die Verwaltung des polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen“, wobei „die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zu der Friedenskonferenz zurückgestellt werden soll“.
Bereits einige Wochen zuvor hatte die Sowjetunion die Verwaltungshoheit dieser Gebiete an Polen übertragen.
Sie sind in der „Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin“ deutlich von den vier Besatzungszonen unterschieden, die in Abschnitt III. als „ganz Deutschland“ bezeichnet werden, das (III.B.14.) „als eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten“ sei. III.A.2.: „Soweit dieses praktisch durchführbar ist, muß die Behandlung der deutschen Bevölkerung in ganz Deutschland gleich sein.“ Dazu gehört auch in Abschnitt „XIII. Ordnungsmäßige Überführung deutscher Bevölkerungsteile“, dass die „Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind“, vorübergehend unterbrochen werden soll und „der alliierte Kontrollrat in Deutschland zunächst das Problem unter besonderer Berücksichtigung der Frage einer gerechten Verteilung dieser Deutschen auf die einzelnen Besatzungszonen prüfen soll“.

Die Knappheit der Formulierungen wurde ab dem Frühjahr 1946 zu der Behauptung genutzt, die Abtrennung sei nicht endgültig gemeint gewesen, da die Regelung von Gebietsfragen, wie der „final delimitation of the western frontier of Poland“ einer Friedensregelung vorbehalten wurde.[8] Versuchen der Sowjetunion, die Potsdamer Beschlüsse insoweit als endgültige Entscheidung zu werten, waren die Vereinigten Staaten entgegengetreten[9] und die bereits laufende Vertreibung ist nicht durch das Abkommen akzeptiert worden.

Potsdamer Beschlüsse – Umsiedlungen

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Die Umsiedlungen sollten in einer „humanen Art“ geschehen; tatsächlich führte die internationale Kontrolle dazu, dass die Zwangsaussiedlung ab Anfang 1946 in wesentlich geordneterer Form vor sich ging als in den wilden Vertreibungen in den Wochen und Monaten vor und noch unmittelbar nach der Konferenz. Dennoch kam es auch danach noch zu zahlreichen Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung und sehr vielen Todesfällen in den Internierungslagern und Gefängnissen.

Beispiel eines Befehls zur sofortigen „Umsiedlung“ (auf Veranlassung der Regierung der Volksrepublik Polen am 14. Juli 1945 ab 6 Uhr morgens als Druckschrift an die deutsche Bevölkerung von Bad Salzbrunn, Niederschlesien, verteilter Sonderbefehl des polnischen Abschnittskommandanten Zinkowski).

Bei den Vertreibungsgebieten handelte es sich um:

  • an Polen durch die Alliierten zuerkannte Teile des Deutschen Reiches wie das südliche Ostpreußen, Danzig-Westpreußen, das östliche Pommern und die Neumark Brandenburg sowie Schlesien;
  • den nördlichen Teil Ostpreußens, der entsprechend dem Potsdamer Abkommen der Sowjetunion zugeschlagen und in die russische Teilrepublik (RSFSR) eingegliedert worden war;
  • das zwischen Deutschland und Litauen lange umstrittene Memelland;
  • Gebiete, die seit 1919 dem Deutschen Reich abgesprochen wurden, in denen aber nach wie vor viele Deutsche lebten (beispielsweise Westpreußen und das östliche Oberschlesien);
  • weitere deutsche Siedlungsgebiete in den baltischen Staaten (bereits 1939/40 mit der Sowjetunion vertraglich vereinbart);
  • das Sudetenland sowie Südböhmen und Südmähren, also die nördlichen, südlichen und westlichen Randgebiete der Tschechoslowakei;
  • Prag und die deutschen Sprachinseln in Zentral-Böhmen und -Mähren;
  • Gebiete der Sowjetunion, neben einer weitläufigen Streubesiedlung vor allem die von deutschstämmigen Staatsangehörigen besiedelte „Wolga-Republik“ (Vertreibung 1941 nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion);
  • mehrere Regionen in Südosteuropa, vor allem in Ungarn, Rumänien (Siebenbürgen, Banat), Kroatien (Slawonien), Serbien (Wojwodina) und Slowenien (Maribor (Marburg a. d. Drau), Ljubljana (Laibach), Cilli, Gottschee, siehe auch Jugoslawien).

Zahlen zu Flucht und Vertreibung

Etwa 12 bis 14 Millionen Deutsche und deutschstämmige Angehörige verschiedener Staaten zwischen 1944/45 und 1950 waren von Flucht und Vertreibung betroffen.[10][11] Mehrere hunderttausend Menschen wurden in Lagern inhaftiert oder mussten – teilweise jahrelang – Zwangsarbeit leisten.

Gebiet Flüchtlinge und Vertriebene Tote und Vermisste in der Heimat Verbliebene
Ostgebiete des Deutschen Reiches 6.944.000 1.225.000 1.101.000
Tschechoslowakei 2.921.000 267.000 250.000
andere Länder 1.865.000 619.000 1.294.000
Insgesamt 11.730.000 2.111.000 2.645.000

Flucht und Vertreibung der Deutschen.[12]
(Andere Länder, geordnet nach Gesamtzahl der deutschen Bevölkerung bei Kriegsende: Polen (Posen, Westpreußen), Rumänien (Siebenbürgen), Ungarn, Jugoslawien (Banat), Baltische Staaten und Memelland.)

Gebiet Flüchtlinge und Vertriebene Anteil an der Gesamtbevölkerung
Sowjetische Besatzungszone 4.379.000 24,3 %
Amerikanische Besatzungszone 2.957.000 17,7 %
Britische Besatzungszone 3.320.000 14,5 %
Französische Besatzungszone 60.000 1,0 %

Aufnahme in den Besatzungszonen in Deutschland, Stand: Dezember 1947.[13]

Ob nicht nur die Menschen als Vertreibungsopfer anzusehen sind, die Verbrechen zum Opfer fielen, sondern auch diejenigen, die die Vertreibung aus vielfältigen Gründen nicht oder nur ein paar Jahre lang überlebten, ist umstritten. Man ging unter dem Einfluss der Vertriebenenverbände und nicht zuletzt, um Rückgabeansprüche besser begründen zu können, lange von rund 2,1 Millionen Todesfällen aus. Dabei wurden alle unaufgeklärten Fälle als Todesfälle und alle Todesfälle als vertreibungsbedingt gedeutet. Da die Grundlage die rechnerische Differenz zwischen den statistischen Angaben von 1939 und Angaben von 1948 bildete, enthielt diese Differenz auch die in den Vernichtungslagern getöteten ostdeutschen Juden.[14] Einige neuere Schätzungen sprechen lediglich von bis zu 600.000 bestätigten Todesopfern zwischen 1944 und 1947[15], während der Bund der Vertriebenen weiterhin von etwa zwei Millionen ausgeht.[16] Eine große Zahl von Frauen aller Altersgruppen wurde vergewaltigt (Schätzungen beziffern die Zahl auf ca. zwei Millionen), es gab etwa 240.000 Todesopfer in Folge von Vergewaltigungen.[17] Das gesamte private Eigentum der Ost- und Sudetendeutschen wurde entschädigungslos konfisziert, auch das öffentliche und kirchliche deutsche Eigentum in diesen Gebieten wurde enteignet. Zu den 14 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen kamen vor allem ab Ende der 1950er-Jahre über vier Millionen deutsche oder deutschstämmige Aussiedler.

Das Statistische Bundesamt ermittelte 1950 eine Gesamtzahl von etwa zwölf Millionen Vertriebenen in den beiden deutschen Staaten. Aufgrund der Differenz zwischen der Wohnbevölkerung der Vertreibungsgebiete Ende 1944 und den 1950 erfassten Vertriebenen ermittelte das Statistische Bundesamt 2,2 Millionen „ungeklärte Fälle“, die als „Vertreibungsverluste“ oft mit Todesopfern gleichgesetzt werden. Das Bundesarchiv berichtete 1974 von mindestens 600.000 bestätigten Toten in unmittelbarer Folge der Verbrechen im Zusammenhang mit der Vertreibung.[18] Problematisch ist dabei, dass z. B. für die Tschechoslowakei 130.000 Todesopfer angegeben werden, wohingegen die Deutsch-Tschechische Historikerkommission „nur“ 15.000–30.000 Vertreibungsopfer anführt.[19] Bei den genannten Zahlen wurden jedoch die Menschen nicht mitgezählt, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf den Fluchtwanderungen oder in den Notunterkünften in Deutschland oder bei Deportationen in die Sowjetunion aufgrund von Erschöpfung und Entkräftung, mangelnder Hygiene, unzureichender Ernährung oder mangelndem Heizmaterial starben. Die Frage, inwieweit diese Todesopfer in der Gesamtzahl der Vertreibungsopfer berücksichtigt werden soll, ist umstritten. Während z. B. der Berliner Historiker Ingo Haar[20] dem Bund der Vertriebenen[21] vorwirft, bewusst mit überhöhten Opferzahlen zu argumentieren, bemängelt der Freiburger Historiker Rüdiger Overmans[22] einerseits eine politische Instrumentalisierung der Zahlen und andererseits, dass die Fachwissenschaftler bisher der Zahlendiskussion aus dem Weg gegangen seien.

Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen im Westen

Etwa zwölf Millionen Ost- und Sudetendeutsche wurden bis 1950 in der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und Österreich aufgenommen. Sowohl im Westen als auch im Osten verlangte dies von allen Beteiligten in den 1940er-, 1950er- und 1960er-Jahren eine große Integrationsleistung. Durch die Bevölkerungsverschiebungen in großem Maße verdoppelten einige Länder, zum Beispiel Mecklenburg, ihre Einwohnerzahl, vormals konfessionell homogene Regionen mit starken eigenen Traditionen, zum Beispiel Oberbayern und die Lüneburger Heide, besaßen nun große Bevölkerungsgruppen mit einem anderen Lebensstil und fremder konfessioneller Prägung. Zuweilen kam es zu ganzen Stadt- und Ortsneugründungen wie Espelkamp, Waldkraiburg, Traunreut, Geretsried oder Kaufbeuren-Neugablonz.

Neubesiedlung der Vertreibungsgebiete im Nachkriegspolen

In den von Deutschen verlassenen Gebieten des Nachkriegspolen wurden unter anderem ebenfalls umgesiedelte Polen aus dem ehemaligen, im Polnisch-Sowjetischen Krieg (1920–1921) annektierten Ostpolen (der seit 1945 wieder litauischen Region Vilnius), dem westlichen Drittel des heutigen Weißrussland und der westlichen Ukraine (Wolhynien und Galizien) angesiedelt. Viele dieser nun vertriebenen ca. 1,2 Millionen Polen hatten sich dort ihrerseits erst im Ergebnis des Kriegs und nach der Vertreibung eingesessener Bewohner niedergelassen. Die Zuzügler in die nun an Polen gefallenen Gebiete konnten allerdings die Verluste an polnischer Bevölkerung nicht ausgleichen, die die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik dort bewirkt hatte.

Den größten Teil der Neusiedler in den Oder-Neiße-Gebieten bildeten Polen aus den traditionell polnischen Gebieten („Zentralpolen“). Hinzu kamen rund 400.000 Ukrainer und eine etwas kleinere Zahl Weißrussen. Die Ursache dafür ist, dass auch westlich der heutigen polnischen Ostgrenze von jeher eine bedeutende weißrussische und ukrainische Minderheit lebte und lebt, insbesondere in den Regionen Białystok (Weißrussen) und Przemysl (Ukrainer). Diese Gruppen galten der polnischen Regierung nach 1945 als potenziell unzuverlässig beziehungsweise als mögliche Argumente für neue sowjetische Forderungen an Polen. Deswegen wurde ein Teil von ihnen in Richtung Osten vertrieben (also aus dem heute polnischen Gebiet in die in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörenden Gebiete östlich des Flusses Bug), ein anderer Teil jedoch nach Westen, vor allem nach Niederschlesien und Hinterpommern. Diese innerpolnische Vertreibung dauerte von Ende April bis Ende Juli 1947, die verantwortlichen Politiker und Militärs nannten sie „Aktion Weichsel“.

Zu den polnischen, ukrainischen und weißrussischen Neusiedlern kamen einige Zehntausend aus Ostpolen stammende polnische Zwangsarbeiter in Deutschland, die nach 1944/45 durch die Westverschiebung ihres Heimatlandes heimatlos geworden waren und nun in für sie fremden Regionen sesshaft werden mussten.

Heute wohnen in diesen etwas dünner besiedelten Gebieten nach dem Völkermord an der jüdischen Bevölkerung und der Vertreibung der meisten Polen, die dort oft die Oberschicht stellten, fast ausschließlich Weißrussen, Litauer, Ukrainer und Russen. Eine größere polnische Minderheit lebt bis heute in der Umgebung von Wilna.

Neubesiedlung Ostpreußens

In der an die Russische Sowjetrepublik gefallenen Oblast Kaliningrad (bis 1945 das nördliche Ostpreußen mit Königsberg) wurden ebenfalls umgesiedelte Russen, Weißrussen und Ukrainer angesiedelt. Auch einige ehemalige sowjetische Zwangsarbeiter strandeten auf dem Weg aus Deutschland nach Russland im ehemaligen Nordostpreußen.

Neubesiedlung der Vertreibungsgebiete in der Tschechoslowakei

Im Sudetengebiet wurden vor allem Tschechen aus dem Landesinneren sowie Roma und Sinti angesiedelt. Hinzu kamen als „Repatrianten“ bezeichnete Tschechen, die aus Familien stammten, die früher nach Frankreich, die USA oder in andere Länder ausgewandert waren.

Motive der Vertreibung

Die Vertreibungen von Deutschen aus dem Osten hatte mehrere Ursachen:

  1. Vor dem Zweiten Weltkrieg ließen sich deutsche Volksgruppen in diesen Staaten für nationalsozialistische Zwecke instrumentalisieren, sie wurden schließlich durchgehend nach dem Führerprinzip organisiert. Die Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins betrieb separatistische Politik; außerdem erhielten Sudetendeutsche 1938 die Reichsbürgerschaft.
  2. Die nationalsozialistische Expansions-, Raub- und Ausrottungspolitik während des Zweiten Weltkrieges zerstörte die Beziehungen zwischen den deutschen Volksgruppen und der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung in Mittel- und Osteuropa massiv. In den von deutschen „Herrenmenschen“ teilweise als „Untermenschen“ beziehungsweise als Menschen minderen Ranges angesehenen und behandelten Völkern begannen bald Partisanengruppen gegen die deutschen Besatzer zu agieren; der NS-Machtapparat reagierte darauf mit brutalster Härte, oft gegen völlig Unbeteiligte. In den osteuropäischen und südosteuropäischen Ländern übernahmen die deutschen Volksgruppen Besatzungsaufgaben. Die tschechoslowakische Exilregierung erhielt daher von den Alliierten schon während des Krieges die Zustimmung zur Entfernung der Deutschen aus der Tschechoslowakei.
  3. Die Vertreibung von Deutschen aus den heutigen polnischen Westgebieten steht in Zusammenhang mit der sogenannten Westverschiebung Polens, der von Stalin angeordneten Vertreibung der Polen aus den von der Sowjetunion 1945 annektierten Gebieten Ostpolens, die 43 Prozent des polnischen Staatsgebiets in der Zeit zwischen den Weltkriegen ausmachten. Diese Gebiete waren teilweise erst als Resultat des Polnisch-Sowjetischen Krieges zum 1918 wiedergegründeten Polen gelangt. Viele der in den neuen polnischen Westgebieten ab 1945 angesiedelten ethnischen Polen kamen aus diesen Gebieten.
  4. Für einige der ost- und mitteleuropäischen Regierungen, die oft im Rahmen eines „Nationale Front“ oder „Volksfront“ genannten Parteienbündnisses regierten, in dem die Kommunisten auch ohne Mehrheit den Ton angeben konnten, war die Vertreibung der Deutschen ein stabilisierender und motivierender Faktor. Der Antikommunismus deutscher Wähler hätte es wesentlich schwieriger gemacht, die „Volksdemokratie“ nach Moskauer Planung durchzusetzen. Die sowjetische Schutzmacht wurde nun auch dazu benötigt, sich vor Revanchismus der vertriebenen Deutschen zu schützen.
  5. Der Besitz von Vertriebenen wurde zumeist „spontan“ geplündert und/oder letztlich entschädigungslos konfisziert. Politiker, die über die Verteilung dieses Vermögens entschieden, konnten für ihre Parteien, wie das Beispiel Tschechoslowakei zeigt, Wettbewerbsvorteile lukrieren.
  6. Mit der Vertreibung der Deutschen schufen einige Nachkriegsregierungen außerdem – in Anknüpfung an ältere, keineswegs nur kommunistische Vorstellungen von ethnischer Homogenität – national weitgehend homogene Staatswesen. Das Ziel war, sich möglichst vieler Konflikte der Vorkriegszeit, die auf dem multinationalen Charakter dieser Staaten als Vielvölkerstaaten beruhten, zu entledigen.

Bewältigung der Vertreibung der Deutschen

Die Aufnahme von rund zwölf Millionen Vertriebenen stellte alle Beteiligten im Nachkriegsdeutschland sowie ab 1949 in der Bundesrepublik und in der DDR vor enorme Probleme. Sämtliche Bereiche in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur waren davon betroffen. Zunächst ging es darum, das Überleben der Vertriebenen angesichts des schweren Mangels an Nahrung, Wohnraum und Kleidung zu sichern. Dies ist weitgehend gelungen, obwohl es in den Jahren bis ca. 1950 eine deutlich erhöhte Sterblichkeit infolge von Unterernährung und Infektionskrankheiten gab. Überschlägige Rechnungen gehen von einer zusätzlichen Sterblichkeitrate von 3 bis 3,5 Prozent im Laufe von fünf Jahren aus; sie betraf vor allem ältere, Kleinkinder und gesundheitlich vorbelastete Menschen.

In allen Besatzungszonen unternahmen Vertriebene Versuche, eigene Organisationen zur Artikulation ihrer Interessen zu gründen. In der SBZ/DDR wurden diese Organisationen von der Polizei unterdrückt. Bis in die 1960er-Jahre hinein fanden jedoch, informell organisiert (Mundpropaganda), auch in der DDR Vertriebenentreffen statt.[23] In den Westzonen und ab 1949 in der Bundesrepublik organisierten sich zahlreiche Vertriebene in Landsmannschaften, die sich 1957/58 im Bund der Vertriebenen (BdV) zusammenschlossen.[24] In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren bildeten die Vertriebenen eine vergleichsweise einflussreiche Interessengruppe, aber ab Mitte der 1960er-Jahre nahm der politische Einfluss der Vertriebenenverbände deutlich ab. Es gelang ihnen insbesondere nicht, die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze im Jahre 1970 zu verhindern. Als politische Kraft spielt in Deutschland seit den 1990er-Jahren fast nur noch die von Bayern und der CSU unterstützte Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL) eine Rolle.

In der bundesdeutschen Politik waren Flüchtlinge und Vertriebene in sämtlichen Parteien vertreten. Eine Art besondere Vertriebenenpartei bestand in der Zeit von 1950 bis 1961 im Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Der BHE erreichte 1953 bei den Bundestagswahlen 5,9 Prozent der Zweitstimmen. Er war im zweiten Kabinett Adenauers bis 1957 mit zwei Ministern vertreten. Ab Mitte der 1960er-Jahre nahm der Einfluss der Vertriebenenverbände auf die Bundespolitik deutlich ab. Es gelang dem BdV nicht, die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze im Jahre 1970/72 zu verhindern.

Die wirtschaftliche und soziale Integration der Vertriebenen in die Bundesrepublik und in die DDR vollzog sich in einem langen Prozess. Es ist umstritten, welche Faktoren für die Integration letztendlich ausschlaggebend waren. Bis in die 1980er-Jahre wurde vor allem die Bedeutung des Lastenausgleichs in der Bundesrepublik und der Bodenreform in der DDR betont. Neuere Forschungen, u. a. von Michael Schwartz, zeigen hingegen, dass die allgemeinen wirtschaftlichen Aufwärtsbewegungen während der 1950er-Jahre durch Wirtschaftswunder im Westen und Ausbau der Industrie im Osten einen erheblich größeren Effekt auf die wirtschaftliche Eingliederung der Vertriebenen hatten.[25]

Die kulturelle Integration und die Erinnerung an Flucht und Vertreibung stellen ebenso wie die wirtschaftliche Integration sehr komplexe Phänomene dar, die auch in der Forschungsliteratur anhaltend diskutiert werden. Zur kulturellen Integration zählen Bereiche wie die Durchmischung von Katholiken und Protestanten an einem Wohnort und die daraus entstehenden Probleme oder das Heiratsverhalten zwischen Einheimischen und Vertriebenen.

Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung schlägt sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens nieder – von der Benennung von Straßen nach Orten in den deutschen Ostgebieten (z. B. Breslauer Straße) über die Pflege von Dialekten, Sitten und Gebräuchen in Vereinen und Landsmannschaften bis hin zu Denkmälern und Museen. Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik und in der DDR sowie nach 1990 im vereinten Deutschland mehrfach gewandelt. Die Entwicklungen und Phasen der Erinnerung werden in der Geschichtswissenschaft lebhaft diskutiert. Michael Grottendieck und einige weitere Autoren behaupten, dass das Thema Flucht und Vertreibung ein „Tabu“ in DDR waren.[23][26] Auch für die Geschichte der Bundesrepublik wird stellenweise die These vertreten, dass Flucht und Vertreibung spätestens seit den 1970er-Jahren tabuisiert oder marginalisiert wurden.[27]

Diesen Thesen vom „Tabu“ ist vielfach widersprochen worden. Beispielsweise zeigen die zahlreichen literarischen Werke, etwa von Christa Wolf in der DDR oder von Siegfried Lenz in der Bundesrepublik, dass das Thema Flucht und Vertreibung sehr wohl behandelt wurde.[28] Karl Schlögel verwies 2003 außerdem auf die zahlreichen Museen und Heimatstuben der Vertriebenenverbände, die kontinuierlich das Thema bearbeitet hätten.[29] Christian Lotz zeigte 2007, wie stark die Erinnerungen an Flucht und Vertreibung politisch aufgeladen wurden durch den Streit um die Oder-Neiße-Grenze und wie intensiv die Diskussionen in der DDR und in der Bundesrepublik miteinander verflochten waren. Er spricht daher von einem „erinnerungspolitischen Sog“, in den die Erinnerungen an Flucht und Vertreibung gerieten.[30] Jutta Faehndrich griff diese These vom „erinnerungspolitischen Sog“ Anfang 2011 auf und zeigte in einer Untersuchung von Heimatbüchern von Vertriebenen die politische Formierung von Erinnerungen.[31]

Die unterschiedlichen politischen und wissenschaftlichen Positionen zur Erinnerung an Flucht und Vertreibung spiegeln sich seit dem Jahr 2000 im Streit um ein Zentrum gegen Vertreibungen. Die Absicht, ein solches Museum zu errichten, stellt außerdem einen wesentlichen Konfliktpunkt zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn, insbesondere Polen und Tschechien, dar. Unter dem Namen „Sichtbares Zeichen“ plant die Bundesregierung eine Gendenkstätte zur Erinnerung an die Vertreibung von 60–80 Millionen Menschen, nicht nur der Deutschen, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die Beneš-Dekrete, rechtliche Grundlage für die Vertreibung und Enteignung der Sudetendeutschen, wurden explizit vom Anwendungsbereich des Lissabonvertrages ausgenommen, um sich die Zustimmung Tschechiens zu sichern. Grund dafür waren Befürchtungen, vertriebene Sudetendeutsche könnten vor internationalen Gerichten Rückgabe- und Entschädigungsforderungen stellen. Die Bemühungen um eine deutsch-tschechische Annäherung in der Vertriebenenfrage schreiten dennoch voran: Am 3. Juni 2010 wurde auf dem Friedhof von Postoloprty/Postelberg eine Gedenktafel für das Massaker an der deutschen Bevölkerung im Juni 1945 enthüllt. Im Dezember 2010 reiste Horst Seehofer als erster bayerischer Ministerpräsident seit 1945 zu einem offiziellen Besuch nach Tschechien.[32]

Deutsche Definition nach dem Bundesvertriebenengesetz

Das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) definiert den Begriff Vertriebener im § 1 wie folgt:

„Vertriebener ist, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten oder in den Gebieten außerhalb [Anm. außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches“ ist der Hauptunterschied zur Definition der Heimatvertriebenen] der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstande vom 31. Dezember 1937 hatte und diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung, insbesondere durch Ausweisung oder Flucht, verloren hat. Bei mehrfachem Wohnsitz muss derjenige Wohnsitz verlorengegangen sein, der für die persönlichen Lebensverhältnisse des Betroffenen bestimmend war. Als bestimmender Wohnsitz im Sinne des Satzes 2 ist insbesondere der Wohnsitz anzusehen, an welchem die Familienangehörigen gewohnt haben.

  • Vertriebener ist auch, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger
  1. nach dem 30. Januar 1933 die in Absatz 1 genannten Gebiete verlassen und seinen Wohnsitz außerhalb des Deutschen Reiches genommen hat, weil aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen gegen ihn verübt worden sind oder ihm drohten,
  2. auf Grund der während des Zweiten Weltkrieges geschlossenen zwischenstaatlichen Verträge aus außerdeutschen Gebieten oder während des gleichen Zeitraumes auf Grund von Maßnahmen deutscher Dienststellen aus den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten umgesiedelt worden ist (Umsiedler),
  3. nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen vor dem 1. Juli 1990 oder danach im Wege des Aufnahmeverfahrens vor dem 1. Januar 1993 die ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die ehemalige Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China verlassen hat oder verlässt, es sei denn, dass er, ohne aus diesen Gebieten vertrieben und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler),
  4. ohne einen Wohnsitz gehabt zu haben, sein Gewerbe oder seinen Beruf ständig in den in Absatz 1 genannten Gebieten ausgeübt hat und diese Tätigkeit infolge Vertreibung aufgeben musste,
  5. seinen Wohnsitz in den in Absatz 1 genannten Gebieten gemäß § 10 des Bürgerlichen Gesetzbuchs durch Eheschließung verloren, aber seinen ständigen Aufenthalt dort beibehalten hatte und diesen infolge Vertreibung aufgeben musste,
  6. in den in Absatz 1 genannten Gebieten als Kind einer unter Nummer 5 fallenden Ehefrau gemäß § 11 des Bürgerlichen Gesetzbuchs keinen Wohnsitz, aber einen ständigen Aufenthalt hatte und diesen infolge Vertreibung aufgeben musste.
  • Als Vertriebener gilt auch, wer, ohne selbst deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger zu sein, als Ehegatte eines Vertriebenen seinen Wohnsitz oder in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 5 als Ehegatte eines deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen den ständigen Aufenthalt in den in Absatz 1 genannten Gebieten verloren hat.
  • Wer infolge von Kriegseinwirkungen Aufenthalt in den in Absatz 1 genannten Gebieten genommen hat, ist nur dann Vertriebener, wenn es aus den Umständen hervorgeht, dass er sich auch nach dem Kriege in diesen Gebieten ständig niederlassen wollte oder wenn er diese Gebiete nach dem 31. Dezember 1989 verlassen hat.“

Siehe auch Heimatvertriebener zur Definition des Begriffs nach § 2 des Bundesvertriebenengesetzes.

Weitere Vertreibungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg

Ungefähr gleichzeitig mit der Vertreibung von Deutschen aus Teilen Osteuropas, besonders aus den östlichen Gebieten des Reiches, fanden in Ostmitteleuropa weitere Vertreibungen beziehungsweise ethnische Säuberungen statt, etwa zwischen Polen und der sowjetischen Ukraine, von in der Slowakei lebenden Ungarn und andere.

  • Die Vertreibungen in Finnland/Karelien. Anfang der 1940er-Jahre wurden die finnischen Karelier gleich zweimal vertrieben. Erstmals nach der Niederlage Finnlands im sowjetisch-finnischen Winterkrieg, dann – nach ihrer Rückkehr 1941 – erneut 1944 mit der Wiedereroberung Kareliens durch die Sowjetunion. Die Vertreibung der Karelier wurde auch nicht symbolisch wiedergutgemacht; Karelien ist bis heute zwischen Russland und Finnland aufgeteilt.
  • Die erzwungene Umsiedlung von Völkern in der Sowjetunion, die als politisch unzuverlässig angesehen wurden, durch Josef Stalins Regierung vor allem in der ersten Hälfte der 1940er-Jahre. Hierzu gehört die Deportation der Wolgadeutschen, Tschetschenen, Inguschen, Krimtataren, Ingermanländer Finnen, Mescheten, Koreaner (Korjo-Saram), Pontos-Griechen, Kurden sowie vieler Esten, Letten, Litauer und Ukrainer. Alle diese Völker wurden innerhalb des sowjetischen Machtbereichs deportiert. Den Krimtataren gelang Ende der 1980er-Jahre die Rehabilitierung, ein großer Teil ist auf die Krim zurückgekehrt. Die polnische Volksgruppe in Litauen, im westlichen Weißrussland und in der Westukraine (in der deutschen Literatur oft ungenau als „Ostpolen“ bezeichnet) wurde teilweise nach Osten (Zentralasien) deportiert, teilweise 1945/46 nach Westen (Polen) vertrieben, teilweise konnte sie auch in ihrer Heimat verbleiben. Die Wolgadeutschen siedelten zum größten Teil von ihren zugewiesenen Wohnorten in Sibirien und Zentralasien seit den 1980er-Jahren als Aussiedler beziehungsweise Spätaussiedler nach Deutschland aus.
  • Griechische Truppen vertrieben im Jahre 1944 einen Großteil der Çamen (Albaner) kollektiv nach Albanien, wobei es nach albanischen Darstellungen zu vielen Opfern unter der Bevölkerung kam.
  • Die Umsiedlung bzw. Vertreibung von etwa 1,2 Millionen Polen in den Jahren 1944 bis 1946 aus den der Sowjetunion angeschlossenen polnischen Ostprovinzen der Jahre 1919/20 bis 1939 nach Polen und in die nach dem Krieg de facto Polen angeschlossenen deutschen Ostgebiete.
  • Umsiedlung einiger tausend Ukrainer aus Südostpolen in die Ukrainische Sowjetrepublik (→ Akcja Wisła).
  • Julisch Venetien (Istrien, Fiume/Rijeka und Dalmatien): Zwischen 1943 und 1954 wurden Zehntausende ethnische Italiener aus Julisch Venetien vertrieben und enteignet. Über die Zahl der Betroffenen existieren verschiedene Angaben von ca. 200.000 bis 350.000.[33] Zwischen 5.000 und 21.000 fielen den Foibe-Massakern zum Opfer.[34] Seit 2005 wird in Italien jährlich am 10. Februar ein Gedenktag abgehalten, um der Opfer der Foibe-Massaker sowie der Esuli (Vertriebenen) zu gedenken. Gemäß dem Vertrag von Rom (1983) verpflichtete sich das ehemalige Jugoslawien dazu, 110 Millionen US-Dollar an Entschädigungszahlungen für die italienischen Flüchtlinge und ihre zurückgebliebenen Besitztümer zu leisten. Davon wurden bis 1991 etwa 17 Millionen ausbezahlt. Die Nachfolgestaaten Slowenien und Kroatien einigten sich, die Restschuld in Höhe von 93 Mio. untereinander zu verteilen in einem Verhältnis von 60 zu 40. Slowenien hat also zirka 56 Mio. Verbindlichkeiten, Kroatien 37 Mio. übernommen. Slowenien hat seinen Anteil bereits 2002 auf ein Konto der Dresdner Bank in Luxemburg eingezahlt. Die italienische Regierung hat sich aber geweigert, diese Zahlung als rechtmäßig anzuerkennen. Kroatien hat seinerseits angeboten, die eigene Schuld zu begleichen.
  • Slowakei: Im Süden der Slowakei lebten bis 1945 rund 720.000 ethnische Ungarn (Magyaren). Sie wurden 1945 wie die Sudeten- und Karpatendeutschen durch die Beneš-Dekrete enteignet. Etwa 30.000 Ungarn haben unmittelbar nach dem Krieg die Tschechoslowakei verlassen. Im Rahmen des Bevölkerungsaustausches sind 73.000 Slowaken aus Ungarn in die Tschechoslowakei und etwa 70.000 bis 90.000 Ungarn aus slowakischen Gebieten teilweise in Dörfer gezogen, wo früher Donauschwaben gelebt hatten. Die Umsiedlung der Slowaken ist auf freiwilliger Basis gelaufen, die Ungarn wurden größtenteils unfreiwillig umgesiedelt. Die Ungarn in der Slowakei haben von 1945 bis Anfang der fünfziger Jahre in rechtlosen Rahmen gelebt, einige Tausend bis Zehntausend sind unfreiwillig in Gebiete umgesiedelt worden, die im Sudetenland von Deutschen verlassen werden mussten. Heute leben um die 500.000 Ungarn in der Slowakei. Die Beneš-Dekrete sind in den ungarisch-slowakischen Beziehungen nach wie vor umstritten.
  • Indien: Bei Erreichen der Unabhängigkeit von Großbritannien 1947/48 und der Etablierung von Pakistan und der Indischen Union wurden Millionen Sikhs, Hindus und Muslime aus den mehrheitlich von Angehörigen der anderen Religionsgemeinschaft besiedelten Gebieten vertrieben. Dieser brutale „Bevölkerungsaustausch“ betraf zwischen 14 und 15 Millionen Menschen. Etwas über sieben Millionen Muslime wurden von Indien nach Pakistan vertrieben, eine etwa gleich große Zahl Sikhs und Hindus aus Pakistan nach Indien.
  • Zypern: Nach der türkischen Intervention in Nordzypern ab dem 20. Juli 1974 wurden mehrere Tausend griechische Zyprioten in den Südteil der Insel vertrieben.
  • Weitere Vertreibungen geschahen in Afrika. Allein infolge des seit 2003 andauernden Darfur-Konfliktes sind über 2,5 Millionen Menschen vertrieben worden.

Vertreibung und Völkerrecht

Vertreibungen sind völkerrechtswidrig. Sie wurden bereits im Naturrecht des 18. Jahrhunderts geächtet.[42] Sie verstoßen unter anderem gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907, gegen das Verbot von Kollektivausweisungen, gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker und gegen das Eigentumsrecht. Alle historisch belegten Vertreibungen waren mit Blutvergießen und Enteigungen verbunden. Doch selbst eine Vertreibung ohne Enteignung würde das Eigentumsrecht der Vertriebenen verletzen, weil dieses Recht das Recht der Nutzung einschließt. Ein Vertriebener kann aber seine Immobilien nicht mehr nutzen.

Soweit Vertreibungen eine hinreichend klar definierte Gruppe betreffen und mit der Absicht durchgeführt werden, diese Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, erfüllen sie außerdem den Tatbestand des Völkermordes im Sinne der UN-Konvention von 1948.

Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes definiert Vertreibung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.[43]

Vertreibungsverluste

Vertreibungsverluste gliedern sich in drei Kategorien:

  1. Verluste an Leib und Leben (vgl. Gesamterhebung),
  2. Materielle Verluste und wirtschaftliche Schäden,
  3. Ideelle und kulturelle Verluste.

Diese drei Verlustkategorien betreffen regelmäßig drei Gruppen:

  1. Die vertriebene Bevölkerung,
  2. Die aufnehmende Bevölkerung und
  3. Die neu angesiedelte Bevölkerung (von deren politischer Vertretung regelmäßig die Vertreibung ausging).

Die Verluste der vertriebenen Bevölkerung liegen auf der Hand. Aber auch die aufnehmende Bevölkerung hat zumindest kurzfristig oft unter Vertreibungen zu leiden. So wurde die Hungersnot der Nachkriegszeit in Deutschland (Hungerwinter 1946/47) durch die erzwungene Aufnahme von Millionen Vertriebenen auch für die einheimische Bevölkerung massiv verschärft.

Aber auch für die neue Bevölkerung stellt die Vertreibung oft keinen echten Gewinn dar, da diese häufig selbst eher unfreiwillig in dieses Gebiet gekommen sind, entweder durch wirtschaftlichen Zwang oder durch Vertreibung aus anderen Gebieten. Außerdem besteht in der Neubevölkerung oft die Furcht, dass sich die vertriebene Bevölkerung das Land wiederholt, so dass wenig Neigung zu langfristiger Standortsicherung besteht.

Posttraumatische Belastungsstörungen

Nach einer nicht repräsentativen Studie, die auf der Auswertung von 600 Berichten und Interviews der Vertriebenen- und Flüchtlingsgeneration des Zweiten Weltkrieges beruht, wurden folgende Störungen festgestellt: „Sie leiden zum Beispiel unter Ängsten, Nervosität, Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, Alpträumen, werden von immer wiederkehrenden Bildern schrecklicher Erlebnisse gequält.“[44]

Die Debatte über den Vertreibungsbegriff seit 1950

Briefmarke (1955): Zehn Jahre Vertreibung 1945
Briefmarke (1965): Zwanzig Jahre Vertreibung
Wegweiser beim Bahnhof Elmshorn (2009)

Im deutschen Sprachraum bezeichnet der Begriff in einem verengten Verständnis meist Ausweisung und Flucht deutschsprachiger Bevölkerung aus Grenzräumen mit nichteinheitlicher Bevölkerungsgeschichte oder isolierten mehrheitlich deutschen Sprachgebieten in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, Polen, dem heutigen Tschechien und anderen Staaten Osteuropas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Der Begriff Vertreibung beziehungsweise Vertriebene setzte sich erst Ende der 1940er-Jahre durch und wurde nur in der Bundesrepublik zur offiziellen, auch gesetzlich fixierten Bezeichnung dieses Vorgangs (Heimatvertriebener) beziehungsweise der von ihm Betroffenen. Bis dahin wurden zwangsumgesiedelte Deutsche begrifflich nicht von der Gesamtheit der Flüchtlinge (siehe Displaced Persons) unterschieden, zuweilen auch – wie im späten nationalsozialistischen Sprachgebrauch – als „Evakuierte“ bezeichnet.

Verwendung und genaue Bedeutung des Begriffs Vertreibung sind in Deutschland etwa seit den späten 1980er-Jahren strittig, da die Abgrenzbarkeit zwischen (gewaltsamer) Vertreibung und (gewaltloser) Emigration zunehmend in Frage gestellt wurde. Von einigen Politikern und Publizisten wurde die These aufgestellt, der Begriff der Vertreibung bezeichne lediglich ein Form von Zwangsmigration und komme in der internationalen Forschung überwiegend als deutsches Lehnwort (im Englischen expulsion bzw. expellees) vor, während außerhalb Deutschlands sonst eher von Deportierten oder Flüchtlingen (refugees) gesprochen wird. Hinzu komme die Konfrontation des Kalten Krieges, denn in jenen Nationen, die Flucht und Vertreibung der Deutschen ab 1944/1945 veranlasst hatten, wähle man eher verharmlosende Begriffe, etwa das tschechische Wort Odsun (dt. „Abschiebung durch Abtransport“) und den Begriff Transfer („Überführung“). Auch innerhalb Deutschlands sei der Begriff der Vertreibung und der Vertriebenen nicht immer selbstverständlich gewesen. Tatsächlich herrschte anfangs der Flucht- und Flüchtlingsbegriff vor, zudem wurde in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR offiziell gezielt von „Umsiedlern“ bzw. „ehemaligen Umsiedlern“ und „Neubürgern“ gesprochen. 1950 waren dies dort etwa 4,3 Millionen Menschen.

Eine eigenständige Benennung dieser Gruppe als „Vertriebene“ sei, so der Einwand, weniger durch evidente Tatsachen gerechtfertigt gewesen, sondern sie sei eher der Logik juristischer und politischer Zweckmäßigkeit geschuldet: Zum einen besaßen sie – aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit (bei den Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten und aus dem Sudetenland) beziehungsweise als Volksdeutsche – einen anderen Rechtsstatus als nichtdeutsche Deportierte und Flüchtlinge. Zum anderen bot die Wahl dieses Begriffes mehrere politisch und sozial erwünschte Möglichkeiten: Er schuf eine Distanz zwischen deutschen Deportierten und den von den Deutschen Deportierten – Juden, Polen, Tschechen, Russen usw. Damit ermöglichte er in der Bundesrepublik einen Opferdiskurs, der eine tief greifende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erschwerte.

Einige führende Vertreter der deutschen Vertriebenen, namentlich der Vorsitzende der Landsmannschaft Schlesien, Herbert Hupka, und der Präsident des Bundes der Vertriebenen, Wenzel Jaksch (Hupka bis nach 1970, Jaksch bis zu seinem Tode), waren Sozialdemokraten. Die SPD vertrat die Interessen der deutschen Vertriebenen bis etwa zum Jahre 1964 gleichermaßen wie die CDU und CSU. Insbesondere vertrat die SPD jahrelang die Überzeugung, nicht nur die Vertreibung selbst sei ein Verbrechen gewesen, sondern die etwaige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als neuer deutsch-polnischer Grenze wäre als ein politisches Unrecht zu bewerten. In diesem Zusammenhang steht auch der später oft zitierte Aufruf Willy Brandts, Herbert Wehners und Erich Ollenhauers zum Deutschlandtreffen der Schlesier im Jahre 1963: „Verzicht ist Verrat, wer wollte das bestreiten. 100 Jahre SPD heißt vor allem 100 Jahre Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das Recht auf Heimat kann man nicht für ein Linsengericht verhökern. Niemals darf hinter dem Rücken der aus ihrer Heimat vertriebenen oder geflüchteten Landsleute Schindluder getrieben werden!“ Diese Politik der SPD änderte sich allerdings ab etwa 1965, als die neue Ostpolitik entwickelt wurde. In seiner Regierungserklärung von 1969 gab Willy Brandt offen die Bereitschaft zur Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnischer Grenze zu erkennen.

In den 1950er-Jahren ließ sich durch die begriffliche Unterscheidung zwischen „normalen“ Deportierten und deutschen Vertriebenen die Forderung nach Revision der Oder-Neiße-Linie leichter aufrechterhalten. Die Forderung nach dieser Revision diente nicht zuletzt der Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Nachkriegspolitik. Es sollte verhindert werden, dass die Vertriebenen sich in noch stärkem Ausmaß Parteien zuwandten, in denen sich damals ehemalige Nationalsozialisten sammelten wie in der SRP, der DP, und dem Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten.

Das Bundesverfassungsgericht hat hingegen eine andere Rechtsauffassung vertreten: Danach wurden die Gebiete östlich von Oder und Lausitzer Neiße weder durch die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom Juli/August 1945, noch durch den Warschauer Vertrag von 1970 völkerrechtswirksam von Deutschland als Ganzem getrennt. Von diesem staats- und völkerrechtlichen Standpunkt aus ging es in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht um deutsche Gebietsforderungen an Polen, sondern um umstrittene polnische Gebietsforderungen aus der Vergangenheit an Deutschland.

In der DDR dagegen wurden die Zwangsumgesiedelten als Umsiedler bezeichnet, ein gruppenspezifischer Sonderstatus im Sozialrecht wurde namentlich bei der Verteilung enteigneter Flächen bei der Bodenreform von 1946 und im „Gesetz zur weiteren Verbesserung der Lage der ehemaligen Umsiedler in der Deutschen Demokratischen Republik“ vom 8. September 1950 fixiert, blieb jedoch im Unterschied zum langfristig angelegten Vertriebenenrecht der Bundesrepublik nur bis in die frühen fünfziger Jahren relevant. Außerdem anerkannte die DDR bereits 1950 im Görlitzer Abkommen die Oder-Neiße-Linie als „Friedensgrenze“ zwischen der DDR und Polen. Sämtliche im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnahme der KPD legten gegen diesen Akt Rechtsverwahrung ein und bezeichneten ihn als „null und nichtig“.

Die zeitgeschichtliche Forschung differenziert zwischen aufeinander folgenden Ereignissen der Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung. Heute stellen einige Historiker das damit bezeichnete Phänomen unter den Oberbegriff Zwangsmigration. Dieser Sprachgebrauch lehnt sich an die Formulierung des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker an, der in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 die Vertreibung der Deutschen als „erzwungene Wanderschaft“ bezeichnet hatte.

Ein völliges Fallenlassen des Vertreibungsbegriffs ist aber – angesichts seiner Verankerung im öffentlichen (nicht nur deutschen) Bewusstsein – auch aus Sicht der politischen Linken – praktisch nicht möglich. Wünschenswerter erscheint die Einordnung des Vertreibungsbegriffs in den Gesamtzusammenhang von Zwangsumsiedlungen im 20. Jahrhundert, so wie er in jüngster Zeit verstärkt vorgenommen wird. Lange Debatten um Begriffe haben die Wirkung, politisch heikle Fragen wie die nach der Zahl der Morde und Vergewaltigungen bei diesem Geschehen an den Rand der Diskussion zu drängen.

Darüber hinaus erscheint der politischen Linken der Versuch fruchtbar, Vertreibung und jede Form von Zwangsmigration im Rahmen des allgemeinen Migrationsgeschehens zu betrachten. Denn angeblich könne eine klare Trennung zwischen Zwangsumsiedlung, Flucht und „freiwilliger“ Migration häufig nicht vorgenommen werden.

Zum anderen zeigen neuere Untersuchungen zur Integration der Vertriebenen angeblich, dass der Umgang mit und das Verhalten von Vertriebenen mehr Parallelen als Unterschiede zu anderen Migrantengruppen aufweist. Konkrete Unterschiede, wie etwa die von den deutschen Vertriebenen bis zum heutigen Tage erhobenen Forderungen nach Aufklärung des Schicksals von mehreren Hunderttausend spurlos Vermissten, Rückkehrrecht, Heimatrecht, Eigentumsrückgabe und Anerkennung ihres Schicksals als eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit im Sinne der Statuten des Internationalen Gerichtshofs von Nürnberg, dürfen nach dieser Sichtweise nicht über die großen Parallelen zwischen deutschen „Zwangsmigranten“ und ausländischen Zuwanderern in Deutschland hinwegtäuschen. Dennoch – so diese Sichtweise – werde man das Spezifikum der Zwangsmigration auch weiterhin zu berücksichtigen haben.

Die Vertreibungen der 1990er-Jahre in Bosnien, Kroatien und im Kosovo haben diese deutsche Diskussion wieder in den Hintergrund rücken lassen. Die Überzeugung, dass Vertreibung und Migration zwei grundlegend unterschiedliche Dinge sind, gewann wieder die Oberhand. Verbunden damit war die Rückkehr zum eingangs definierten Vertreibungsbegriff. So erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder in seinem Grußwort an den Tag der Heimat in Stuttgart vom 5. September 1999: „Jeder Akt der Vertreibung, so unterschiedlich die historischen Hintergründe auch sein mögen, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“

Peter Glotz zitierte 2001 Roman Herzog: „Kein Unrecht, und mag es noch so groß gewesen sein, rechtfertigt anderes Unrecht. Verbrechen sind auch dann Verbrechen, wenn ihm andere Verbrechen vorausgegangen sind.“[45]

Eine andere Sicht wird wohl überwiegend in der polnischen Politik vertreten. In einem jüngeren Interview äußerte sich der mit der Wiederwahl gescheiterte und Donald Tusk unterlegene derzeitige Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski dahingehend, dass „Deutschland zu hundert Prozent Schuld am eigenen Vertriebenenschicksal trage“.[46]

Literatur

  • R. M. Douglas: „Ordnungsgemäße Überführung“. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus dem Englischen von Martin Richter. 2., durchgesehene Auflage, C.H. Beck, München 2012, ISBN 978-3-406-62294-6. (Originaltitel: Orderly and Humane. The Expulsion of the Germans after the Second World War. Yale University Press (Juni 2012), ISBN 978-0-30016-660-6.)
  • Erhard Schütz, Elena Agazzi (Hg.): Heimkehr: eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit. Geschichte, Literatur und Medien. Duncker & Humblot, Berlin 2010, ISBN 978-3-428-53379-4, S. 257–268.
  • Dieter Blumenwitz: Flucht und Vertreibung. Carl Heymanns Verlag, Köln 1987.
  • Heike Amos: Die Vertriebenenpolitik der SED 1949–1989. Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte (München/Berlin) herausgegeben von Helmut Altrichter, Horst Möller, Hans-Peter Schwarz, Andreas Wirsching. Oldenbourg, München 2009.
  • Wolfgang Benz (Hrsg.): Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen. Neuausgabe, Frankfurt am Main 1995.
  • Detlef Brandes, Holm Sundhaussen, Stefan Troebst (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Wien 2010, ISBN 978-3-205-78407-4.
  • Jutta Faehndrich: Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen. Köln 2011.
  • Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Ferdinand Schöningh, Paderborn/München/Wien/Zürich 2010, ISBN 978-3-506-77044-8.
  • Isabel Heinemann, Patrick Wagner (Hrsg.): Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2006.
  • Louis Ferdinand Helbig: Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit, Wiesbaden 1988.
  • Dierk Hoffmann, Marita Krauss, Michael Schwartz (Hrsg.): Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, München 2000.
  • Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. Siedler Verlag.
  • Norman Naimark: Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth-Century Europe. Harvard University Press, Cambridge 2001.
  • Steffen Prauser, Arfon Rees: The Expulsion of the “German” Communities from Eastern Europe at the End of the 2nd World War. European University Institute, Florenz 2004.
  • Jürgen W. Schmidt (Hrsg.): Als die Heimat zur Fremde wurde… Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Westpreußen. Aufsätze und Augenzeugenberichte. 1. Aufl., Köster, Berlin 2011, ISBN 978-3-89574-760-1 (= Wissenschaftliche Schriftenreihe Geschichte; 14).
  • Winfried Schulze, Otto Gerhard Oexle (Hrsg.) [zu Schieder u. a. im NS]: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1999.
  • Holm Sundhaussen: Ethnische Zwangsmigration. In: Europäische Geschichte Online, hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (Mainz), 2010.
  • Michael Schwartz: Vertriebene im doppelten Deutschland. Integrations- und Erinnerungspolitik in der DDR und in der Bundesrepublik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (2008) Heft 1, S. 101–151.
  • Matthias Stickler: „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972, Düsseldorf 2004.
  • Alfred-Maurice de Zayas: 50 Thesen zur Vertreibung. Inspiration Un Limited, London/München 2008, ISBN 978-3-9812110-0-9.
  • Alfred M. de Zayas: Die Nemesis von Potsdam. München 2005.

Weblinks

Wiktionary: Vertreibung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: Vertriebener – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Fußnoten

  1. Zahlenangaben zum Teil aus Bevölkerungs-Ploetz: Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte, Band 4: Bevölkerung und Raum in Neuerer und Neuester Zeit. Ploetz, Würzburg 1965.
  2. Karl Stuhlpfarrer: Umsiedlung Südtirol. Zur Außenpolitik und Volkstumspolitik des deutschen Faschismus 1939 bis 1945, Wien 1983.
  3. Wenzel Jaksch: Europas Weg nach Potsdam. Schuld und Schicksal im Donauraum. Stuttgart 1958, S. 504. Vgl. dazu Vojtech Hulík: Cesko-nemecký slovník živé mluvy s frázemi a gramatikou pro školy i soukromou potrebu. / Tschechisch-deutsches Wörterbuch der Umgangssprache mit Phrasen und Grammatik für Schule und Haus. Prag 1936, S. 293.
  4. Die größten drei Sprachgruppen (Polen, Ukrainer und Weißrussen) stellten zusammen zwischen 80–85 % der Population, der Rest setzte sich zusammen aus Juden (ca. 9 %), Lemken, Bojken, Huzulen, Poleschuken, Russen (unter 1 %), Litauern, Tschechen, Deutschen (bis 2 %) u. a. Nach polnischer Volkszählunng 1931 und Mały rocznik statystyczny 1941 (Kleines Statistikjahrbuch 1941), London 1941.
  5. Roland Gehrke, Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges. Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des Nationalismus, Herder-Institut, Marburg 2001, ISBN 3-87969-288-2, S. 139.
  6. Detlef Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938–1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen, Oldenbourg, München ²2005, ISBN 3-486-56731-4, S. 177 f.
  7. Robert Brier, Der polnische „Westgedanke“ nach dem Zweiten Weltkrieg 1944–1950, Digitale Osteuropa-Bibliothek: Geschichte 3 (2003), S. 25 (PDF).
  8. Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin, IX.b
  9. Vgl. hierzu die Ausführungen des amerikanischen Außenministers George C. Marshall auf der Moskauer Außenministerkonferenz 1947: Documents on American Foreign Relations. Vol. IX, January 1–December 31, 1947 [1949], S. 49.
  10. Bernd Faulenbach, Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße. Zur wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 51-52/2002; online).
  11. Vgl. dazu Statistisches Bundesamt: Die deutschen Vertreibungsverluste, Wiesbaden 1958.
  12. Gerd R. Ueberschär, Rolf-Dieter Müller: 1945. Das Ende des Krieges. Darmstadt 2005, ISBN 3-89678-266-5, S. 128.
  13. Johannes-Dieter Steinert: Die große Flucht und die Jahre danach. In: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau. Herausgegeben im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, München 1995, ISBN 3-492-12056-3, S. 561.
  14. Zur Kritik der Altangaben im Überblick: Ingo Haar, Hochgerechnetes Unglück, Die Zahl der deutschen Opfer nach dem Zweiten Weltkrieg wird übertrieben, in: Süddeutsche Zeitung, 14. November 2006.
  15. Deutsches Historisches Museum: Massenflucht 1944/45
  16. Wir wollen die nicht durch uns verursachte Blockade auflösen, Bund der Vertriebenen, 4. März 2009.
  17. H. Sander, B. Johr: Befreier und Befreite. Fischer, Frankfurt 2005, ISBN 3-596-16305-6.
  18. Vertreibung und Vertreibungsverbrechen, 1945–1948. Bericht des Bundesarchivs vom 28. Mai 1974. Archivalien und ausgewählte Erlebnisberichte. Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen, Bonn 1989, ISBN 3-88557-067-X.
  19. Stellungnahme der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission zu den Vertreibungsverlusten
  20. Vgl. z. B. Interview mit Ingo Haar, Deutschlandfunk, 14. November 2006.
  21. BdV: „Haar“-sträubende Zahlenklitterung des Historikers Ingo Haar
  22. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/571295/ Rüdiger Overmans: Zahl der Vertreibungsopfer ist neu zu erforschen. Historiker bezweifeln offizielle Zahlen.
  23. 23,0 23,1 Heike Amos: Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990, Oldenbourg, München 2009, S. 32–41.
  24. Matthias Stickler: „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972, Düsseldorf 2004.
  25. Michael Schwartz: Vertriebene im doppelten Deutschland. Integrations- und Erinnerungspolitik in der DDR und in der Bundesrepublik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (2008) Heft 1, S. 101–151; vgl. außerdem Dierk Hoffmann, Marita Krauss, Michael Schwartz (Hrsg.): Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, München 2000.
  26. Michael Grottendieck: Egalisierung ohne Differenzierung? Verhinderung von Vertriebenenorganisationen im Zeichen einer sich etablierenden Diktatur, in: Thomas Großbölting u. a. (Hrsg.): Die Errichtung der Diktatur. Transformationsprozesse in der Sowjetischen Besatzungszone und in der frühen DDR. Münster 2003, S. 191–221.
  27. Michael Schwartz: Vertreibung und Vergangenheitspolitik. Ein Versuch über geteilte deutsche Nachkriegsidentitäten, in: Deutschland Archiv (1997), S. 177–195; Herbert Czaja: Unterwegs zum kleinsten Deutschland? Marginalien zu 50 Jahren Ostpolitik, Frankfurt/Main 1996.
  28. Siehe die zahlreichen Belege bei Louis Ferdinand Helbig: Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit, Wiesbaden 1988.
  29. Karl Schlögel: Europa ist nicht nur ein Wort. Zur Debatte um ein Zentrum gegen Vertreibung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (2003), Heft 1, S. 5–12.
  30. Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948–1972), Köln 2007.
  31. Jutta Faehndrich: Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen, Köln 2011.
  32. Pressemitteilung der Bayerischen Staatsregierung vom 17. Dezember 2010 und z. B. Klaus Brill, Seehofer in Tschechien – Freunde, die voneinander nicht wussten, in: Süddeutsche Zeitung, 20. Dezember 2010.
  33. Verlorene Heimaten, Ethnische Flucht und Vertreibung im XX. Jahrhundert, Maria Cristina Berger und Adriano Ceschia, Goethe Institut
  34. Lucio Toth, Wie kam es zu den Foibe? Die Massaker in Julisch Venetien und in Dalmatien (1943–1950), in: Istituto Italiano di Cultura (Hrsg.), Foibe: dal silenzio politico alla verita storica, S. 15.
  35. „Progress Report“ des Vermittlers der Vereinten Nationen für Palästina, dem Generalsekretär zur Weiterleitung an die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen übergeben; offizielle Berichte der Vollversammlung: Dritte Sitzung, Ergänzung No. 11 (A 648), Paris 1948, S. 47; Ergänzung No. 11a (A 698 und A 689), Add. 1, S. 5.
  36. 36,0 36,1 Angry welcome for Palestinian in Kuwait, BBC News, 30. Mai 2001.
  37. Zur Lage der Juden in einzelnen arabischen Staaten nach der Verkündung der UN-Resolution Nr. 181, am 29. November 1947
  38. „Die erste ‚Massenalijah‘ hatte Israel unmittelbar nach der Staatsgründung bzw. im Gefolge des ersten Nahost-Krieges“
  39. 850.000 jüdische Flüchtlinge
  40. Gerechtigkeit für die jüdischen Flüchtlinge aus arabischen Staaten, HaGalil.com, 14. Oktober 2003.
  41. The forgotten Refugees, in: ZioNation – Zionism and Israel Web Log, 25. Mai 2006.
  42. Vgl. zum Beispiel Emer de Vattel: The Law of Nations – Principles of the Law of Nature: Applied to the Conduct and Affairs of Nations and Sovereigns (translated from the French), Philadelphia 1856 (Dublin 1792), Book II: Of the Nations considered relatively to others. § 90.
  43. Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, Art. 7 Abs. 1 lit. d
  44. Zitat aus dem Artikel Psychiater: „Die Zeit heilt nicht alle Wunden.“ In: Lübecker Nachrichten vom 8. Mai 2010, S. 3. Interview mit Psychiater Christoph Muhtz am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
  45. Rede von Peter Glotz 2001
  46. Polen-Rundschau.de: „Kaczynski gegen Kompromiss in Sachen Vertreibung“ vom 8. Januar 2008.
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